Verwaltungsrecht

Popularklage, Minderung, Frist, Landtag, Einstellung, Verletzung, Antragsteller, Verfolgung, Vorwirkung, Emissionen, Verfassungsgerichtshof, Landesgesetzgeber, Zeitpunkt, Zielabweichung, Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Aktenzeichen  Vf. 41-VII-21

Datum:
18.7.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 17743
Gerichtsart:
VerfGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verfassungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Einstellung eines Popularklageverfahrens gegen Vorschriften des Bayerischen Klimaschutzgesetzes nach Antragsrücknahme.

Tenor

Das Verfahren wird eingestellt.

Gründe

1.
Gegenstand der später zurückgenommenen Popularklage sind Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 und Art. 7 des Bayerischen Klimaschutzgesetzes (BayKlimaG) vom 23. November 2020 (GVBl S. 598, 656, BayRS 2129-5-1-U), das durch Art. 9 a des Gesetzes vom 23. November 2020 (GVBl S. 598) geändert worden ist.
Die angegriffenen Bestimmungen haben folgenden Wortlaut:
Art. 2 Minderungsziele
(1) 1Das CO₂-Äquivalent der Treibhausgasemissionen je Einwohner soll bis zum Jahr 2030 um mindestens 55% gesenkt werden, bezogen auf den Durchschnitt des Jahres 1990. 2Es soll damit auf unter 5 Tonnen pro Einwohner und Jahr sinken.
(2) Spätestens bis zum Jahr 2050 soll Bayern klimaneutral sein.
Art. 5 Klimaschutzprogramm und Anpassungsstrategie
(1) Die Staatsregierung stellt
1. ein Bayerisches Klimaschutzprogramm mit Maßnahmen zur Erreichung der in Art. 2 Abs. 1 und 2 genannten Minderungsziele und
2. … auf und schreibt diese regelmäßig fort.
Art. 7 Klimabericht
1Der Staatsminister für Umwelt und Verbraucherschutz unterrichtet den Ministerrat alle zwei Jahre über
1. die Minderung von Treibhausgasen in Bayern nach Art. 2,
2. Kompensationen nach Art. 4.
2Der Ministerrat leitet den Bericht dem Landtag zu.
II.
1. Die Antragstellerinnen und Antragsteller (im Folgenden: Antragsteller), Minder jährige bzw. junge Erwachsene, wandten sich mit ihrer Popularklage vom 30. Juni 2021 gegen die oben genannten Bestimmungen des Bayerischen Klimaschutzgesetzes in Verbindung mit der Gesamtkonzeption dieses Gesetzes und beantragten,
(1.) Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 und Art. 7 BayKlimaG mit Grundrech ten, insbesondere Art. 101 BV, für unvereinbar zu erklären, soweit die Vorschriften für die Jahre bis 2030 sowie den anschließenden Zeitraum bis zum Erreichen von Treibhausgasneutralität keinen nach Maßgabe der Gründe der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs genügenden Reduktionspfad erkennen ließen,
(2.) die oben genannten Bestimmungen mit Grundrechten, insbesondere Art. 101 BV, für unvereinbar zu erklären, soweit die Vorschriften keine hinreichend verbindlichen und mit Fristen versehenen Instrumentarien zur Verfolgung und Einhaltung der Treibhausgasminderungsziele enthielten, und
(3.) den Landesgesetzgeber des Freistaates Bayern zu verpflichten, innerhalb einer durch den Verfassungsgerichtshof zu bestimmenden angemessenen Frist einen nach Maßgabe der Gründe der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs genügenden Reduktionspfad bis zum und nach dem Jahr 2030 verbindlich festzulegen und geeignete Sicherungsmechanismen für den Fall einer prognostizierten oder eingetretenen Zielabweichung zu schaffen.
Die Antragsteller rügten eine Verletzung ihrer verfassungsrechtlichen Freiheitsgrundrechte in ihrer intertemporalen Dimension, insbesondere des Art. 101 BV i. V. m. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 und Art. 141 Abs. 1 Satz 1 BV, sowie eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht für ihre Grundrechte aus Art. 99 BV. Wegen der unzureichenden Ausgestaltung des Bayerischen Klimaschutzgesetzes in Bezug auf die im Freistaat Bayern entstehenden Treibhausgasemissionen seien mit diesem Gesetz eingriffsähnliche Vorwirkungen für die zukünftige grundrechtliche Freiheit der Antragsteller verbunden, weil es jegliche regelnde Struktur zur Gewährleistung einer halbwegs gleichmäßigen Grundrechtsbelastung über die Generationen hinweg vermissen lasse und daher auf sie ab dem Jahr 2030 sehr große Treibhausgasminderungslasten zukommen könnten. Selbst wenn das Gesetz ausreichende Ziele enthalte, sei es strukturell nicht in der Lage, auf Zielverfehlungen so zu reagieren, dass sie möglichst erst gar nicht einträten, und wenn eine Zielverfehlung doch eintrete, dass schnell darauf reagiert werden könne. Dabei stützte sich die Argumentation der Antragsteller im Wesentlichen auf den Beschluss des BundesVerfassungsgerichts vom 24. März 2021 (BVerfGE 157, 30), mit dem – insbesondere aufgrund von Verfassungsbeschwerden von Minderjährigen – Regelungen des Bundes-Klimaschutzgesetzes (KSG) vom 12. Dezember 2019 (BGBl I 5. 2513) aufgrund deren eingriffsähnlicher Vorwirkung auf die durch das Grundgesetz umfassend geschützte Freiheit für verfassungswidrig erklärt worden waren, soweit eine den grundrechtlichen Anforderungen genügende Regelung über die Fortschreibung der Minderungsziele für die Zeiträume ab dem Jahr 2031 bis zum Zeitpunkt der durch Art. 20 a GG geforderten Klimaneutralität gefehlt hatte; der Bundesgesetzgeber war zudem verpflichtet worden, spätestens bis zum 31. Dezember 2022 die Fortschreibung der Minderungsziele für Zeiträume ab dem Jahr 2031 zu regeln. Die Antragsteller waren der Auffassung, die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in diesem Beschluss könnten auf das Bayerische Klimaschutzgesetz und die bayerische landesverfassungsrechtliche Rechtslage übertragen werden, da eine Klimaschutzkodifizierung, die sich auf den Bund beschränke, im föderalen Mehrebenensystem zu kurz greife und das Klimaschutzgebot des Art. 141 Abs. 1 Satz 1 BV eine dem Art. 20 a GG entsprechende Struktur aufweise. Der Freistaat Bayern sei ebenso wie der Bund an das verfassungsrechtliche Klimaschutzgebot gebunden und verpflichtet, wirksame Vorkehrungen zur Verfolgung und zum Erreichen der Klimaschutzziele des Pariser Abkommens zu treffen, um auch in Zukunft eine angemessene Ausübung grundrechtlicher Freiheitsrechte gewährleisten zu können.
2. Der Bayerische Landtag hielt die Popularklage für unbegründet. Nach Ansicht der Bayerischen Staatsregierung war die Popularklage teilweise unzulässig und jedenfalls insgesamt unbegründet.
3. Mit Beschluss vom 18. Januar 2022 (NJW 2022, 844) hat das Bundesverfas sungsgericht eine von den Antragstellern parallel zur vorliegenden Popularklage erhobene Verfassungsbeschwerde gegen das Bayerische Klimaschutzgesetz mit dem Aktenzeichen 1 BvR 1566/21 – ebenso wie weitere Verfassungsbeschwerden anderer Antragsteller gegen Klimaschutzgesetze anderer Bundesländer bzw. das Fehlen von Landesklimaschutzgesetzen – nicht zur Entscheidung angenommen.
4. Mit Schriftsatz vom 10. Februar 2022 haben die Antragsteller ihre Popularklage zurückgenommen. Ein Antrag nach Art. 55 Abs. 5 Halbsatz 2 VfGHG auf Entscheidung der Popularklage wurde vom Bayerischen Landtag nicht gestellt.III.
Das Verfahren ist einzustellen.
Das Popularklageverfahren nach Art. 98 Satz 4 BV dient dem Schutz der Grundrechte als Institution. Da kein Antrag nach Art. 55 Abs. 5 Halbsatz 2 VfGHG gestellt wurde, hat der Verfassungsgerichtshof nach Rücknahme der Popularklage darüber zu befinden, ob ein öffentliches Interesse an der Fortführung des Verfahrens besteht (Art. 55 Abs. 5 Halbsatz 1 VfGHG). Dies ist dann anzunehmen, wenn eine verfassungsgerichtliche Klärung von Fragen, die den Gegenstand des Verfahrens bilden, im öffentlichen Interesse geboten erscheint (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 2.12.1997 VerfGHE 50, 268/270; vom 20.11.2018 – Vf. 1-VII-18 – juris Rn. 8; vom 15.9.2021 – Vf. 2-VII-21 – juris Rn. 8 m. w. N.; vom 27.1.2022 – Vf. 22-VII-21 – juris Rn. 16; vom 22.3.2022 – Vf. 16-VII-20 – juris Rn. 7).
Die Fortführung eines Popularklageverfahrens trotz Antragsrücknahme stellt eine Ausnahme dar, da eine Sachentscheidung des Verfassungsgerichtshofs grundsätzlich nur auf eine zulässige Antragstellung hin ergeht. Sie ist daher nur dann gerechtfertigt, wenn ein verfassungsgerichtlicher Klärungsbedarf besteht, der dies im öffentlichen Interesse „geboten“ erscheinen lässt. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn eine außer Kraft getretene oder inzwischen durch eine anderweitige Regelung überholte Rechtsvorschrift noch rechtliche Wirkungen entfaltet, da sie für künftige Entscheidungen relevant ist (ständige Rechtsprechung; vgl. VerfGH vom 9.5.2016 VerfGHE 69, 125 Rn. 103 m. w. N.; vom 2.12.2016 – Vf. 3- VII-14 – juris Rn. 13; vom 10.5.2017 – Vf. 6-VII-15 – juris Rn. 14; vom 10.11.2021 – Vf. 97-VII-20 – juris Rn. 22 m. w. N.; vom 22.2.2022 – Vf. 3-VII-20 – juris Rn. 21).
Ein derartiger verfassungsgerichtlicher Klärungsbedarf besteht vorliegend nicht. Die Antragsteller haben ihren Antrag zurückgenommen, nachdem das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 18. Januar 2022 (NJW 2022, 844) klargestellt hat, dass ihre hier wie dort zentrale Argumentationslinie, dass die jeweils angegriffenen Landesregelungen (u. a. Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 5 Abs. 1 Nr. 1, Art. 7 des Bayerischen Klimaschutzgesetzes) in gleicher Weise eine rechtlich vermittelte Grundrechtsvorwirkung wie die vom Bundesverfassungsgericht im vorangegangenen Beschluss vom 24. März 2021 (BVerfGE 157, 30) beanstandeten Regelungen des Bundes-Klimaschutzgesetzes entfalteten, nicht durchgreift. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ziehen die jeweils angegriffenen Landesregelungen im Anschluss an den geregelten Zeitraum nicht zwangsläufig eine bestimmte Emissionsreduktionslast und damit verbundene Freiheitsbeschränkungen nach sich. Eine eingriffsähnliche Vorwirkung von Freiheitsrechten im Sinn des Beschlusses vom 24. März 2021 (BVerfGE 157, 30 Rn. 118 ff., 185 ff.) könne nur vorliegen, wenn der jeweilige Landesgesetzgeber selbst einem grob erkennbaren Budget insgesamt noch zulassungsfähiger CO₂-Emissionen unterliege, da nur dann die jeweiligen Landesregelungen im Anschluss an den geregelten Zeitraum rechtlich zwangsläufig jeweils eine bestimmte Emissionsreduktionslast und damit verbundene Freiheitsbeschränkungen nach sich ziehen könnten. Dem einzelnen Landesgesetzgeber sei jedoch keine wenigstens grob überprüfbare Gesamtreduktionsgröße vorgegeben, die er – auch auf Kosten grundrechtlich geschützter Freiheit (insbesondere nach Art. 2 Abs. 1 GG) – einzuhalten hätte. Weder das Grundgesetz (Art. 20 a) noch einfaches Bundesrecht gebe Derartiges vor. Ohne eine solche auf das jeweilige Land bezogene Gesamtreduktionsmaßgabe entfalteten die dort bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zugelassenen oder tatsächlich erfolgten CO₂-Emissionen keine rechtlich vermittelte eingriffsähnliche Vorwirkung, weil damit nicht eine bestimmte Restmenge zulässiger CO₂-Emissionen aufgebraucht werde (BVerfG NJW 2022, 844 Rn. 14). Auch eine Verletzung bestehender Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 GG vor den Gefahren des Klimawandels sei nicht ersichtlich, wie das Bundesverfassungsgericht bereits im Beschluss vom 24. März 2021 (BVerfGE 157, 30 Rn. 143 ff.) angesichts der (damals) auf Bundesebene bereits existierenden gesetzlichen Regelungen festgestellt habe; es sei nicht ersichtlich, dass das Fehlen eines Landesklimaschutzgesetzes hieran etwas ändern könnte (BVerfG NJW 2022, 844 Rn. 18).
Die Antragsteller haben mit der Rücknahme ihrer Popularklage ersichtlich dem Umstand Rechnung getragen, dass das Bundesverfassungsgericht ihrer zentralen Argumentationslinie zur Begründung von Grundrechtsverletzungen durch Landesklimaschutzgesetze – Übertragbarkeit der Erwägungen zum Bundes-Klimaschutzgesetz aus dem vorangegangenen Beschluss vom 24. März 2021 – den Boden entzogen hat. Auf die weitere Frage, ob die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in diesem Beschluss im Übrigen auf die bayerische verfassungsrechtliche Rechtslage mit der Staatszielbestimmung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Art. 141 Abs. 1 BV (i. V. m. Art. 3 Abs. 2 BV) übertragen werden könnten, käme es daneben nicht mehr an. Spezifisch auf das bayerische Verfassungsrecht abstellende Einwände gegen die angegriffenen gesetzlichen Regelungen haben die Antragsteller nicht erhoben.
Gegen einen verfassungsgerichtlichen Klärungsbedarf, der eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs trotz Antragsrücknahme im öffentlichen Interesse als geboten erschienen ließe, spricht darüber hinaus, dass es sich bei den angegriffenen Gesetzesbestimmungen um auslaufende Regelungen handelt. Das Bayerische Klimaschutzgesetz wird überarbeitet, die Staatsregierung hat am 28. Juni 2022 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bayerischen Klimaschutzgesetzes und weiterer Rechtsvorschriften beschlossen und in den Landtag eingebracht (LTDrs. 18/23363). Die geplanten Gesetzesänderungen sehen vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 insbesondere eine Anpassung der bayerischen Minderungsziele vor und betreffen auch die hier ursprünglich angegriffenen Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 und Art. 7 BayKlimaG. Verbleibende rechtliche Wirkungen für künftige Entscheidungen aus den Regelungen in ihrer aktuellen, absehbar nur mehr kurz geltenden Fassung sind nicht ersichtlich; die jeweilige zukünftige Fassung kann aufgrund der erfolgten Antragsrücknahme nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Verfahrens werden.
IV.
Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 VfGHG).


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