Verwaltungsrecht

Prozesskostenhilfe, Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, Erfolgsaussichten der Klage, Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Auffangtatbestand, obergerichtlich noch nicht geklärte Frage, rechtliche Unmöglichkeit der (freiwilligen) Ausreise, allgemeine Erteilungsvoraussetzung (fehlendes Ausweisungsinteresse), Titelerteilungssperre

Aktenzeichen  10 C 21.1121

Datum:
11.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 12491
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 166 Abs. 1 S. 1 VwGO i.V. mit § 114 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2, § 10 Abs. 3, § 25 Abs. 5, § 36 Abs. 2
GG Art. 6 Abs. 1 und 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

Au 6 K 20.2837 2021-03-22 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

Unter Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 22. März 2021 wird dem Kläger Prozesskostenhilfe für das Verfahren Au 6 K 20.2837 bewilligt und Rechtsanwalt M. H., U., beigeordnet.

Gründe

I.
Mit der Beschwerde verfolgt der Kläger, ein senegalesischer Staatsangehöriger, seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, ihm für seine beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg anhängige Verpflichtungsklage (Au 6 K 20.2837) auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen seines hier lebenden senegalesischen Kindes Prozesskostenhilfe zu gewähren und ihm seinen Rechtsanwalt beizuordnen.
Das Verwaltungsgericht hat die Erfolgsaussichten des Klageverfahrens mit der Begründung verneint, dem Klagebegehren – Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG – stünden bereits die Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wegen eines vorliegenden Ausweisungsinteresses sowie die Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Dem Kläger ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen, weil die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und er aufgrund seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung ganz oder teilweise selbst zu tragen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V. mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung im maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife (stRspr des Senats, zuletzt B.v. 18.2.2021 – 10 C 20.668 – Rn. 5, nicht veröffentlicht) hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 8.12.2020 – 1 BvR 149/16 – juris Rn. 13; vgl. auch BayVGH, zuletzt B.v. 18.2.2021 – 10 C 20.668 – Rn. 4, nicht veröffentlicht). Danach dürfen bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen auch vom Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können. Kann eine Rechtsfrage angesichts der gesetzlichen Regelung oder im Hinblick auf Auslegungshilfen, die von bereits vorliegender Rechtsprechung bereitgestellt werden, nicht ohne Schwierigkeiten beantwortet werden, steht eine höchstrichterliche Klärung noch aus oder kann die Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens gar mit Verweis auf bereits vorliegende Rechtsprechung begründet werden, so ist es mit dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht zu vereinbaren, der unbemittelten Partei wegen fehlender Erfolgsaussicht ihres Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten (BVerfG a.a.O. Rn. 14 m.w.N.).
Gemessen an diesen Grundsätzen können die Erfolgsaussichten des Rechtsschutzbegehrens des Klägers (Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen seines hier lebenden senegalesischen Kindes) nicht allein mit der – allerdings zutreffenden – Begründung des Verwaltungsgerichts verneint werden, der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG stehe zum einen die Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wegen eines aktuell noch bestehenden generalpräventiven Ausweisungsinteresses, zum anderen die Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG aufgrund der unanfechtbaren Ablehnung des Asylantrags des Klägers entgegen, weil ein Ausnahmefall gemäß § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG und der hierfür erforderliche strikte Rechtsanspruch nicht vorliege. Denn das Verwaltungsgericht hat das Rechtsschutzbegehren des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu Unrecht (nur) auf den Anspruch nach § 36 Abs. 2 AufenthG bezogen und sich nicht (mehr) mit der als offen zu bewertenden Frage auseinandergesetzt, ob dem Kläger die Ausreise in den Senegal zur Durchführung eines Visumverfahrens zum Familiennachzug (§ 36 AufenthG) zu seinem in Deutschland bei der Mutter lebenden Kind mit (ebenfalls) senegalesischer Staatsangehörigkeit aus rechtlichen Gründen (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) unmöglich ist und daher gegebenenfalls ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG besteht.
Der Antragsteller hat anlässlich seiner Vorsprache bei der Ausländerbehörde am 9. September 2020 unter Übergabe von Dokumenten, die seine Vaterschaft für die Tochter belegen, „eine Aufenthaltserlaubnis“ beantragt (Bl. 364 der Behördenakte). Die Ausländerbehörde hat im daraufhin erlassenen Bescheid vom 27. November 2020 ausweislich des Bescheidstenors (Nr. 1.) zwar den „Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 29 AufenthG“ abgelehnt, in den Bescheidsgründen aber unter anderem ausgeführt, sonstige Rechtsgrundlagen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis seien nicht erkennbar, insbesondere scheide die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG aus, da die Vorschrift als subsidiärer Auffangtatbestand gegenüber den spezielleren Regelungen der §§ 27 ff. AufenthG nicht anwendbar sei (Bl. 434 ff, 439 der Behördenakte). Mit seiner Klage zum Verwaltungsgericht begehrt der Kläger, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 27. November 2020 zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. In der Klagebegründung wird dazu ausgeführt, sein Antrag hätte dahingehend verstanden werden müssen, dass er eine Aufenthaltserlaubnis nach allen, insbesondere allen zur Familienzusammenführung in Betracht kommenden Zwecken (also vor allem gemäß § 28, § 36 Abs. 1 und 2 sowie § 25 Abs. 5 AufenthG) begehrt.
Ob die vom Kläger unter Hinweis auf seine familiäre Bindung zu seiner sich im Bundesgebiet berechtigterweise aufhaltenden Tochter jedenfalls auch begehrte Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG schon deswegen ausscheidet, weil – wovon die Ausländerbehörde ausgegangen ist – die Voraussetzungen für einen Aufenthalt aus familiären Gründen vom Gesetzgeber abschließend in den §§ 27 ff. AufenthG geregelt worden sind und § 25 Abs. 5 AufenthG insoweit nicht als Auffangtatbestand herangezogen werden darf, ist soweit ersichtlich eine obergerichtlich noch nicht (abschließend) geklärte Frage. Der Senat hat diese Frage jedenfalls zuletzt mehrfach ausdrücklich offengelassen (BayVGH, B.v. 20.6.2017 – 10 C 17.744 – juris Rn. 3; B.v. 27.2.2019 – 10 ZB 18.2188 – juris Rn. 11; B.v. 3.9.2019 – 10 C 19.1700 – juris Rn. 4 jeweils m.w.N.; vgl. dazu auch BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 12 ff.).
Der weiteren Frage, ob die (freiwillige) Ausreise des Klägers gegebenenfalls auch nur für die Dauer der Durchführung des Visumverfahrens wegen Unvereinbarkeit mit dem Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich ist, sind weder die Ausländerbehörde im Ausgangsbescheid vom 27. November 2020 noch das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Prozesskostenhilfeentscheidung nachgegangen. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. z.B. B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 13 m.w.N.) maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist.
Dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG im Fall des Klägers aus anderen Gründen nicht in Betracht kommt, weil wie vom Verwaltungsgericht festgestellt die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wegen eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses nicht vorliegt, kann jedenfalls im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens ohne weitergehende Prüfung nicht festgestellt werden. Denn nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG besteht die Möglichkeit der Ausländerbehörde, vom Erfordernis (auch) dieser Regelerteilungsvoraussetzung abzusehen. Diesbezügliche Ermessenserwägungen hat die Ausländerbehörde aber bisher nicht angestellt. Die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG steht einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG nicht entgegen. § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist im Fall des Klägers nicht einschlägig, weil das Bundesamt seinen Asylantrag nicht nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 bis 6 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat.
Die dargelegten Fragen bedürfen nach alledem noch einer Prüfung und Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren.
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, weil die Kosten des Beschwerdeverfahrens gemäß § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet werden. Demgemäß ist auch eine Streitwertfestsetzung entbehrlich.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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