Verwaltungsrecht

Rechtswidrige Durchführung eines weiteren Asylverfahrens

Aktenzeichen  Au 3 K 20.31322

Datum:
2.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1791
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 71 Abs. 1 S. 1
VwVfG § 51 Abs. 1, Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7  S. 1

 

Leitsatz

1. Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn sich nach dem für die Entscheidung über den Erstantrag maßgeblichen Zeitpunkt die Sachlage zugunsten des Betroffenen geändert hat. (Rn. 11)
2. Ein schlüssiger Sachvortrag liegt nur bei einem substantiierten, widerspruchsfreien und nachvollziehbaren Tatsachenvortrag vor. (Rn. 13)
3. Bei der Prüfung, ob der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen, ist das Verschulden eines gesetzlichen Vertreters dem Vertretenen zuzurechnen. Dies ist Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens und gilt auch für das gerichtliche Verfahren (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 51 Abs. 2 ZPO). (Rn. 14)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Das Bundesamt hat bereits zu Unrecht die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bejaht (vgl. § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG).
a) Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG setzt voraus, dass sich die dem unanfechtbaren Verwaltungsakt zugrundeliegende Sachlage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Ereignisse vor Bescheidserlass kommen daher als Wiederaufgreifensgrund von vornherein nicht in Betracht. Wird gegen einen Asylbescheid Klage erhoben, ist die Sachlage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich bzw. bei einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Die dem die Klägerin betreffenden Bundesamtsbescheid vom 8. September 2016 zugrundeliegende Sachlage ist demnach diejenige im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 16. April 2019. Als Wiederaufgreifensgrund im Sinn von § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG kommen daher im vorliegenden Fall nur solche Ereignisse in Betracht, die (angeblich) nach dem 16. April 2019 stattgefunden haben.
Frühere Ereignisse, insbesondere solche, die vor der (erstmaligen) Ausreise aus dem Heimatland stattgefunden haben sollen, stellen demnach keinen Wiederaufgreifensgrund dar. Bei dem neuen Sachvortrag der Klägerin, sie sei von den Cousins ihres Vaters in deren Haus eingesperrt und gefangen gehalten worden, handelt es sich um ein solches früheres Ereignis. Das Bundesamt hat demnach zu Unrecht den neuen Sachvortrag mit einer neuen bzw. geänderten Sachlage gleichgesetzt.
Abgesehen davon ist der neue Sachvortrag nicht schlüssig. Ein schlüssiger Sachvortrag liegt nur bei einem substantiierten, widerspruchsfreien und nachvollziehbaren Tatsachenvortrag vor (vgl. Funke-Kaiser in GK-AsylG, Stand: Oktober 2017, § 71 Rn. 193). Die Klägerin hat aber nur pauschal behauptet, nach dem Verschwinden ihres Vaters hätten dessen Cousins in ihrem Haus sie, ihre Mutter und ihre Geschwister eingesperrt und dort gefangen gehalten. Konkrete Einzelheiten, wo, wann und wie das Einsperren und Gefangenhalten sich ereignet haben sollen, fehlen. Insbesondere ist nicht nachvollziehbar, wie es der Klägerin und ihren Familienangehörigen gelungen sein soll, ihr „Gefängnis“ zu verlassen bzw. zu fliehen. Das Bundesamt führt in dem angefochtenen Bescheid selbst aus, das diesbezügliche Vorbringen der Klägerin sei widersprüchlich und sie habe auch auf Vorhalt diesen Widerspruch nicht auflösen können. So hat sie zunächst vorgetragen, sie sei nach dem Verschwinden ihres Vaters gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in ein Frauenhaus gezogen. Erst im weiteren Verlauf der Anhörung gab sie an, sie seien nach dem Verschwinden ihres Vaters von dessen Cousins in deren Haus eingesperrt und gefangen gehalten worden. Ihre Einlassung, nachdem sie in diesem Haus wegen der Umstände nicht mehr hätten leben können, seien sie in das Frauenhaus gezogen, erklärt gerade nicht, wie der Umzug in das Frauenhaus trotz des Eingesperrtseins möglich gewesen sein soll.
b) Zudem liegen hier auch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 VwVfG nicht vor. Demnach ist ein Folgeantrag nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Dabei ist das Verschulden eines gesetzlichen Vertreters dem Vertretenen zuzurechnen (vgl. Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 21. Aufl. 2020, § 51 Rn. 45 m.w.N.). Dies ist Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens und gilt auch für das gerichtliche Verfahren (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 51 Abs. 2 ZPO). Solange die Mutter der Klägerin deren gesetzliche Vertreterin war, also bis zum 8. April 2019, war es der Mutter der Klägerin ohne weiteres möglich, die angebliche Gefangennahme gegenüber dem Bundesamt und/oder dem Verwaltungsgericht geltend zu machen, da sie von der Freiheitsberaubung selbst betroffen gewesen wäre. Abgesehen davon war die Klägerin im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 16. April 2019 bereits volljährig. Sie hat dementsprechend an der mündlichen Verhandlung gleichberechtigt mit ihrer Mutter teilgenommen. Beide waren anwaltlich vertreten. Auf die Frage ihrer damaligen Bevollmächtigten, wovor sie Angst habe, wenn sie jetzt nach Pakistan zurückkehren müsse, antwortete die Klägerin, dass sie dort nicht frei leben könne, weil sie anderen Leuten gehorchen und einen 30 oder 40 Jahre alten Mann heiraten müsse. Von einer Gefangennahme durch die Cousins ihres Vaters war keine Rede, obwohl sich ein entsprechender Vortrag in dem genannten Kontext aufgedrängt hätte. Es trifft daher nicht zu, dass sie persönlich nie angehört worden sei (vgl. Verfügung des Bundesamts vom 22.7.2020). Vielmehr hat sie von der Möglichkeit zur Äußerung in der mündlichen Verhandlung Gebrauch gemacht (vgl. Sitzungsprotokoll S. 8). Es stand ihr frei, sich über die von ihrer damaligen Bevollmächtigten gestellte Frage hinaus umfassend zu den Gründen für ihren Asylantrag zu äußern.
2. Demnach liegen zugunsten der Klägerin auch weiterhin keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vor. Ergänzend wird insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Begründung des angefochtenen Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).


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