Verwaltungsrecht

Rechtswidrige Einstellung des Asylverfahrens

Aktenzeichen  M 9 K 17.39319

Datum:
5.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 11455
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 25, § 32, § 33 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Das Bundesamt darf die Mitteilung einer anderen Behörde, der Asylsuchende sei untergetaucht, nicht ungeprüft zum Anlass nehmen, das Asylverfahren sofort einzustellen, ohne selbst den Versuch zu unternehmen festzustellen, ob derjenige wirklich untergetaucht ist bzw. als untergetaucht zu gelten hat; insbesondere darf das Bundesamt nicht versäumen, den Asylsuchenden über den zum Zeitpunkt der Vermutung längst bestellten Bevollmächtigten zu erreichen bzw. von diesem unter Fristsetzung die Mitteilung der ladungsfähigen Anschrift des Ausländers zu verlangen.  (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. März 2017 wird aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat Erfolg, soweit der Bescheid vom 23. März 2017 angefochten wurde. Im Übrigen, d.h. in Bezug auf die gestellten Verpflichtungsanträge, wird die Klage abgewiesen.
Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen, weil sich die Beteiligten damit individuell einverstanden erklärt haben (die Klägerseite mit Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 15.5.2018, in der Gerichtsakte) bzw. ein entsprechendes generelles Einverständnis vorliegt (auf Beklagtenseite sowie von der Vertretung des öffentlichen Interesses), § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Klage ist zulässig, soweit der Bescheid vom 23. März 2017 angefochten wurde. Die Klage ist mit Eingang bei Gericht am 8. Mai 2017 fristgerecht erhoben, außerdem fehlt es nicht am Rechtsschutzbedürfnis. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die Möglichkeit, gemäß § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen, das Rechtsschutzbedürfnis für den Angriff auf die Einstellung des Verfahrens wegen fingierter Antragsrücknahme nicht entfallen lässt (BVerfG, B.v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8).
Die Klage ist dagegen unzulässig, soweit Verpflichtungsanträge auf Fortführung des Asylverfahrens, Verpflichtung auf Anerkennung als Asylberechtigter bzw. Flüchtling und subsidiär Schutzberechtigter sowie Feststellung von Abschiebungsverboten gestellt werden. Gegen einen Bescheid, mit dem das Bundesamt das Asylverfahren wegen einer sogenannten fiktiven Antragsrücknahme einstellt, ist nur und ausschließlich die Anfechtungsklage statthaft, wie in der Rechtsprechung insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts seit langem (z.B. U.v. 7.3.1995 – 9 C 264.94 – juris Rn. 12 und 14 – 18) und auch aktuell (U.v. 5.9.2013 – 10 C 1.13 – juris Rn. 14) geklärt ist.
Die Klage ist, soweit sie zulässig ist, auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Feststellung des Bundesamts, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt und das Asylverfahren eingestellt sei, ist rechtswidrig.
§§ 32 Satz 1, 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG bestimmen, dass das Bundesamt im Falle der Rücknahme des Antrags feststellt, dass das Asylverfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Letzteres wird gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG vermutet, wenn der Ausländer untergetaucht ist.
Unabhängig von der Möglichkeit, diese Vermutung gemäß § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG zu widerlegen, liegen hier bereits die Voraussetzungen nicht vor. Das Bundesamt konnte mangels tatsächlicher Grundlage hierfür nicht davon ausgehen, dass der Kläger untergetaucht ist im Sinne der Vorschrift.
Ein Asylantragsteller gilt als untergetaucht, wenn er für die Behörden nicht auffindbar ist. Dieser Sachverhalt ist in der Akte zu dokumentieren (BT-DrS 18/7538, Seite 17). Daraus folgt, dass die Verfahrenseinstellung erst dann zulässig ist, wenn das Bundesamt versucht hat, den Aufenthaltsort des Klägers zu ermitteln (Marx, AsylG, 9. Auflage 2017, § 33 Rn. 14). Danach (Marx a.a.O.) könne von einem Untertauchen nicht schon ausgegangen werden, wenn die Adresse des Klägers unbekannt ist, vielmehr habe die Behörde zunächst im Rahmen des ihr zumutbaren und möglichen den Versuch zu unternehmen, den Aufenthaltsort des Klägers zu ermitteln.
Ob die dargestellte Auffassung in Gänze richtig ist, kann hier dahinstehen. Denn mindestens ist wegen der einschneidenden Rechtsfolge zu verlangen, dass das Bundesamt selbst auf ausreichender tatsächlicher Grundlage davon ausgehen darf bzw. durfte, dass der Kläger unter der dem Bundesamt gegenüber angegebenen Adresse nicht erreichbar ist und diesen Umstand nicht einfach „ins Blaue hinein“ annimmt; dazu kommt dann noch, dass „untergetaucht“ begrifflich mehr umfasst als den bloßen Umstand, dass die aktuelle Adresse nicht mitgeteilt wird, nämlich darüber hinaus, dass der Kläger seinen Aufenthaltsort ohne behördliche Gestattung verlassen und nicht innerhalb einer angemessenen Frist die zuständige Behörde kontaktiert bzw. seinen Melde- und anderen Mitteilungspflichten nicht innerhalb einer angemessenen Frist nachgekommen ist (vgl. Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 2 lit. b) Var. 2 RL 2013/32/EU).
Hier fehlt es jedoch bereits daran, dass Umstände vorliegen, die in tatsächlicher Hinsicht den Schluss zulassen, dass der Kläger unter seiner Adresse nicht erreichbar ist bzw. damals war. Der einzige Umstand, auf den sich das Bundesamt insofern beruft, ist die Mitteilung der zuständigen Ausländerbehörde mit E-Mail vom 15. März 2017. Aus dieser Mitteilung geht aber nur hervor, dass der Kläger einmal, nämlich zur Aushändigung seiner Aufenthaltsgestattung, einer Vorladung der Ausländerbehörde nicht nachgekommen ist. Aus der E-Mail geht aber z.B. nicht hervor, ob die Vorladung zugestellt wurde oder nicht, auch sonst gehen daraus keinerlei Einzelheiten hervor. Ansonsten werden nur Vermutungen geäußert (der Kläger arbeite nicht mehr, eine Sozialbetreuerin habe den Kläger „seit längerem nicht gesehen“). Die tatsächliche Grundlage der Annahme des Untertauchens ist daher nicht ausreichend nachvollziehbar. Für das Bundesamt hätte sich insofern die Frage aufdrängen müssen, warum – wie aus der Akte ersichtlich – alle bis zu diesem Zeitpunkt erfolgten eigenen Zustellungen an den Kläger unter derselben Adresse erfolgreich waren (übrigens auch die danach, insbesondere hat der Kläger vom streitgegenständlichen Bescheid, der ebenfalls unter derselben Adresse zugestellt wurde, so rechtzeitig Kenntnis erlangt, dass er bzw. sein Bevollmächtigter die Rechtsbehelfsfristen wahren konnte; außerdem ist der Kläger, wie eine Einsichtnahme des Gerichts in das Ausländerzentralregister ergeben hat, nach der Abmeldung mit Fortzug nach unbekannt am 13.3.2017 bereits am 19.4.2017 wieder angemeldet worden), dieselbe Adresse nun aber plötzlich nicht mehr richtig sein soll. Das Bundesamt hätte zumindest selbst versuchen müssen, den Kläger unter der bekannten Adresse zur Anhörung gemäß § 25 AsylG, die bislang noch nicht erfolgt ist und die sowohl damals als auch heute der nächste Verfahrensschritt ist, zu laden. Schließlich hat das Bundesamt nicht einmal versucht, den Kläger über den zu diesem Zeitpunkt bereits seit Längerem im Verwaltungsverfahren bestellten Bevollmächtigten zu erreichen bzw. zumindest von diesem unter Fristsetzung die Mitteilung der Adresse des Klägers zu verlangen. Unter diesen Umständen darf aber das Bundesamt die Mitteilung einer anderen Behörde nicht ungeprüft zum Anlass nehmen, das Verfahren sofort einzustellen, ohne selbst den Versuch zu unternehmen, festzustellen, ob der Kläger wirklich untergetaucht ist bzw. als untergetaucht zu gelten hat i.S.v. § 32 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG.
Da demnach der Tatbestand des § 32 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG bereits nicht gegeben ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Verfahrenseinstellung auf Grund fiktiver Antragsrücknahme auch deswegen rechtswidrig wäre, weil den Anforderungen an die Belehrung über die Rücknahmefiktion wegen Nichtbetreiben des Verfahrens gemäß § 33 Abs. 4 AsylG nicht genügt ist.
Das Bundesamt hat nach Rechtskraft dieses Urteils das Asylverfahren des Klägers kraft Gesetzes wieder aufzunehmen und fortzuführen.
Nach alledem wird der angefochtene Bescheid aufgehoben. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Zwar stellen die Verpflichtungsanträge mehrere Streitgegenstände dar, der Anfechtungsantrag dagegen nur einen. Weil in dieser Fallkonstellation aber nur der letztgenannte wichtig ist, werden Anfechtung und Verpflichtung gleich gewichtet und folgerichtig die Kosten geteilt. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708ff. ZPO.
Eine Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch erfolgt nicht. Einerseits ist dieses insoweit nicht nötig, soweit der Kläger obsiegt hat; in Bezug auf die gestellten Verpflichtungsanträge dagegen hätte das Prozesskostenhilfe wegen deren Unzulässigkeit mangels entsprechender Erfolgsaussichten ohnehin keinen Erfolg haben können. Unabhängig davon war das Prozesskostenhilfegesuch durchgehend bereits unzulässig, weil bislang keine Erklärung über die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse nach § 117 Abs. 2 ZPO eingereicht wurde.


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