Verwaltungsrecht

Rechtswidrigkeit einer Rücknahmefiktion wegen angeblicher fehlender Erreichbarkeit

Aktenzeichen  M 9 S 17.39626

Datum:
8.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 32, § 33 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 5, § 34 Abs. 1 Nr. 3, § 66
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7
VwGO VwGO § 80 Abs. 5, § 113 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Die Möglichkeit, gemäß § 33 Abs. 5 S. 2 AsylG einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen, lässt das Rechtsschutzbedürfnis für einen Angriff auf die Verfahrenseinstellung wegen fingierter Antragsrücknahme nicht entfallen (vgl. BVerfG BeckRS 2016, 49618). (Rn. 12) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Ein Asylantragsteller gilt dann als untergetaucht, wenn er für die Behörden nicht auffindbar ist. Ein hierauf gründende Verfahrenseinstellung ist jedoch erst dann zulässig, wenn das Bundesamt versucht hat, den Aufenthaltsort des Antragstellers zu ermitteln. (Rn. 17) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Die Annahme, ein Asylantragsteller sei untergetaucht, umfasst begrifflich mehr als den bloßen Umstand, dass die aktuelle Adresse nicht mitgeteilt wird, nämlich darüber hinaus, dass der Antragsteller seinen Aufentaltsort ohne behördliche Gestattung verlassen und nicht innerhalb einer angemessenen Frist die zuständige Behörde kontaktiert hat bzw. seinen Melde- und sonstigen Mitteilungspflichten nicht innerhalb einer angemessenen Frist nachgekommen ist.  (Rn. 18) (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Teilt die Ausländerbehörde dem Bundesamt mit, dass sie bezüglich des Asylantragstellers gemäß § 66 AsylG eine Aufenthaltsermittlung durchführt, darf das Bundesamt diese Mitteilung nicht zum Anlass nehmen, das Asylverfahren sofort einzustellen ohne das Ergebnis der Aufenthaltsermittlung abzuwarten, weil erst dann feststeht, ob der Antragsteller iSv § 32 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG wirklich untergetaucht ist bzw. als untertgetaucht zu gelten hat. (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
5 Für die Belehrung über den Eintritt der Rücknahmefiktion nach § 33 Abs. 4 AsylG reicht der allgemeine Hinweis auf die Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung in der Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und allgemeine Verfahrenshinweise nicht aus (vgl. VG Nünchen BeckRS 2017, 118849). (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (Az.: M 9 K 17.39625) des Antragstellers gegen Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Mai 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller, der keine Personaldokumente vorgelegt hat, ist nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger und geboren am 25. Mai 1985. Er stellte am 6. Juli 2015 einen Asylantrag. Die ihm gegen Unterschrift ausgehändigte Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und Allgemeine Verfahrenshinweise entspricht der standardmäßig vom Bundesamt für … (im Folgenden: Bundesamt) verwendeten.
Mit Schreiben vom 20. April 2017 (Bl. 80 der Bundesamtsakten) teilte das Ausländeramt des Landratsamts Rosenheim dem Bundesamt mit, dass es den Antragsteller am selben Tag zur Aufenthaltsermittlung nach § 66 AsylG ausgeschrieben habe. Der momentane Aufenthaltsort sei unbekannt.
Daraufhin stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 2. Mai 2017 unter der gleichzeitigen Feststellung, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt, das Asylverfahren ein (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen und drohte die Abschiebung nach Nigeria an (Nr. 3). Die Nr. 4 des Bescheids enthält die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG. Zur Begründung wird insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller „nach den Erkenntnissen des Bundesamts“ seit dem 20. April 2017 als untergetaucht gelte. Im Übrigen wird auf den Bescheid, der am 5. Mai 2017 als Einschreiben zur Post gegeben wurde, und seine Begründung Bezug genommen.
Der Antragsteller ließ hiergegen mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 10. Mai 2017, beim Verwaltungsgericht München eingegangen per Telefax am selben Tag, Klage erheben (M 9 K 17.39625) und beantragen, den Bescheid vom 2. Mai 2017 aufzuheben.
Zugleich wurde beantragt,
hinsichtlich der „Abschiebungsanordnung“ [sic!] die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Außerdem wird die Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Bevollmächtigten des Antragstellers beantragt.
Hinsichtlich der Begründung von Klage und Antrag wird auf den Schriftsatz Bezug genommen, ebenso auf den Schriftsatz vom 19. Mai 2017.
Die Antragsgegnerin hat die Akten vorgelegt, sich in der Sache jedoch nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in diesem und im Klageverfahren und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Zwar ist der Antrag seinem Wortlaut nach auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der „Abschiebungsanordnung“ gerichtet. Da jedoch der in der Hauptsache angefochtene Bescheid keine Abschiebungsanordnung, wohl aber eine Abschiebungsandrohung enthält, wird der Antrag zweckmäßig ausgelegt, da ausreichend klar ist, was gemeint ist.
Der Antrag ist zulässig. Gegen die wegen § 34 Abs. 1 Nr. 3 AsylG grundsätzlich zu Recht erlassene Abschiebungsandrohung ist wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG der gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft. Der Antrag ist fristgerecht gestellt. Schließlich liegt sowohl für den Antrag als auch für die Klage in der Hauptsache das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis vor. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die Möglichkeit, gemäß § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen, das Rechtsschutzbedürfnis für den Angriff auf die Einstellung des Verfahrens wegen fingierter Antragsrücknahme nicht entfallen lässt (BVerfG, B.v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8).
Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft hierbei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem privaten Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei der Abwägung sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren nur erforderliche und mögliche summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts zunächst verschont zu bleiben, zurück. Erweist sich umgekehrt der Bescheid nach vorläufiger Prüfung als rechtswidrig, wird das Gericht die aufschiebende Wirkung in der Regel anordnen, da kein öffentliches Interesse an der Vollziehung eines voraussichtlich rechtswidrigen Bescheids besteht. Ist der Ausgang des Verfahrens nicht absehbar, bleibt es bei der allgemeinen Interessenabwägung.
Gemessen an diesen Grundsätzen überwiegt vorliegend das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung, da nach vorläufiger Prüfung davon auszugehen ist, dass die erhobene Anfechtungsklage erfolgreich sein wird. Denn der angefochtene Bescheid erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG (i.V.m. § 38 Abs. 2 AsylG) liegen nicht vor, da sich die Feststellung des Bundesamts, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt und das Asylverfahren eingestellt sei, als rechtswidrig erweist.
§§ 32 Satz 1, 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG bestimmen, dass das Bundesamt im Falle der Rücknahme des Antrags feststellt, dass das Asylverfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Letzteres wird gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG vermutet, wenn der Ausländer untergetaucht ist.
Unabhängig von der Möglichkeit, diese Vermutung gemäß § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG zu widerlegen, liegen hier bereits die Voraussetzungen nicht vor. Das Bundesamt konnte mangels tatsächlicher Grundlage hierfür nicht davon ausgehen, dass der Antragsteller untergetaucht ist im Sinne der Vorschrift.
Ein Asylantragsteller gilt als untergetaucht, wenn er für die Behörden nicht auffindbar ist. Dieser Sachverhalt ist in der Akte zu dokumentieren (BT-DrS 18/7538, Seite 17). Daraus folgt, dass die Verfahrenseinstellung erst dann zulässig ist, wenn das Bundesamt versucht hat, den Aufenthaltsort des Antragstellers zu ermitteln (Marx, AsylG, 9. Auflage 2017, § 33 Rn. 14). Danach (Marx a.a.O.) könne von einem Untertauchen nicht schon ausgegangen werden, wenn die Adresse des Antragstellers unbekannt ist, vielmehr habe die Behörde zunächst im Rahmen des ihr zumutbaren und möglichen den Versuch zu unternehmen, den Aufenthaltsort des Antragstellers zu ermitteln.
Ob die dargestellte Auffassung in Gänze richtig ist, kann hier dahinstehen. Denn mindestens ist wegen der einschneidenden Rechtsfolge zu verlangen, dass das Bundesamt selbst auf ausreichender tatsächlicher Grundlage davon ausgehen darf bzw. durfte, dass der Antragsteller unter der dem Bundesamt gegenüber angegebenen Adresse nicht erreichbar ist und diesen Umstand nicht einfach „ins Blaue hinein“ annimmt; dazu kommt dann noch, dass „untergetaucht“ begrifflich mehr umfasst als den bloßen Umstand, dass die aktuelle Adresse nicht mitgeteilt wird, nämlich darüber hinaus, dass der Antragsteller seinen Aufenthaltsort ohne behördliche Gestattung verlassen und nicht innerhalb einer angemessenen Frist die zuständige Behörde kontaktiert bzw. seinen Melde- und anderen Mitteilungspflichten nicht innerhalb einer angemessenen Frist nachgekommen ist (vgl. Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 2 lit. b) Var. 2 RL 2013/32/EU).
Hier fehlt es jedoch bereits daran, dass Umstände vorliegen, die in tatsächlicher Hinsicht den Schluss zulassen, dass der Antragsteller unter seiner Adresse nicht erreichbar ist. Der einzige Umstand, auf den sich das Bundesamt insofern beruft, ist die Mitteilung der zuständigen Ausländerbehörde vom 20. April 2017. Aus dieser Mitteilung geht aber nicht hervor, worauf die mitgeteilte Erkenntnis beruht – beispielsweise auf erfolglosen Zustellversuchen o.ä. –, so dass die tatsächliche Grundlage nicht nachvollziehbar ist; für das Bundesamt hätte sich insofern die Frage aufdrängen müssen, warum – wie aus der Akte ersichtlich – alle bis zu diesem Zeitpunkt erfolgten eigenen Zustellungen an den Antragsteller unter derselben Adresse erfolgreich waren (übrigens auch die danach, insbesondere hat der Antragsteller vom streitgegenständlichen Bescheid, der ebenfalls unter derselben Adresse zugestellt wurde, so rechtzeitig Kenntnis erlangt, dass er die Rechtsbehelfsfristen wahren konnte), dieselbe Adresse nun aber plötzlich nicht mehr richtig sein soll. Vor allem aber rechtfertigt nicht einmal der Inhalt der Mitteilung der Ausländerbehörde vom 20. April 2017 den Schluss auf das Untertauchen des Antragstellers. Denn die Ausländerbehörde teilt gerade mit, dass sie gemäß § 66 AsylG eine Aufenthaltsermittlung durchführt. Dann darf aber das Bundesamt die Mitteilung nicht zum Anlass nehmen, das Verfahren sofort einzustellen, ohne das Ergebnis der Aufenthaltsermittlung abzuwarten, weil erst dann feststeht, ob der Antragsteller wirklich untergetaucht ist bzw. als untergetaucht zu gelten hat i.S.v. § 32 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG.
Da demnach der Tatbestand des § 32 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG bereits nicht gegeben ist, kommt es nicht mehr darauf an, dass die Verfahrenseinstellung auf Grund fiktiver Antragsrücknahme auch deswegen rechtswidrig wäre, weil den Anforderungen an die Belehrung über die Rücknahmefiktion wegen Nichtbetreiben des Verfahrens gemäß § 33 Abs. 4 AsylG nicht genügt ist. Das gilt zumindest dann, wenn man der hierzu ergangenen Rechtsprechung folgt, welche die Anforderungen sehr hoch ansetzt, insbesondere den allgemeinen Hinweis auf die Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung in der Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und Allgemeine Verfahrenshinweise nicht genügen lässt (vgl. z.B. VG München, B.v. 21.7.2017 – M 21 S. 17.35568 – juris Rn. 26; B.v. 8.3.2017 – M 21 S. 16.32737 – juris Rn. 24, beide m.w.N., u.a. auf Berlit, NVwZ – Extra 4/2017, S. 9). Hier findet sich in den vorgelegten Akten nur diese allgemeine Belehrung, aber keine spezielle mehr, so dass der Bescheid auch aus diesem Grund rechtswidrig wäre.
Nachdem sich die angefochtene Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens nach summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig erweist, wird die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Über das Prozesskostenhilfegesuch für diesen Antrag und die zugehörige Klage wird vorerst nicht förmlich entschieden. Mangels Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragstellers, obwohl hierfür genügend Zeit gewesen wäre, müsste das Prozesskostenhilfegesuch nämlich abgelehnt werden. Das spielt jedoch deswegen keine Rolle, weil der Antragsteller sowohl hier im Antragsverfahren obsiegt als auch aller Voraussicht nach in der Klage in der Hauptsache obsiegen wird.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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