Verwaltungsrecht

Sicherungshaftanordnung: Vorliegen einer nicht unmittelbar vollziehbaren Abschiebungsanordnung

Aktenzeichen  XIII ZB 13/20

Datum:
6.10.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2020:061020BXIIIZB13.20.0
Normen:
§ 58a Abs 1 AufenthG
§ 62 Abs 3 S 1 Nr 1a AufenthG vom 27.07.2015
§ 62 Abs 3 S 1 Nr 3 AufenthG vom 15.08.2019
Art 15 Abs 1 EGRL 115/2008
Spruchkörper:
13. Zivilsenat

Leitsatz

Für die Anordnung von Sicherungshaft nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG aF (= § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nF) genügt regelmäßig das Vorliegen einer Abschiebungsanordnung nach § 58a Abs. 1 AufenthG, die nicht unmittelbar vollzogen werden kann.

Verfahrensgang

vorgehend LG Bremen, 17. Januar 2020, Az: 10 T 218/17vorgehend AG Bremen, 14. März 2017, Az: 91a XIV 67/17

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 10. Zivilkammer des Landgerichts Bremen vom 17. Januar 2020 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1
I. Der Betroffene, ein russischer Staatsangehöriger, reiste im Juni 2002 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit bestandskräftigem Bescheid vom 30. Juli 2002 ablehnte. Die Ausländerbehörde erteilte dem Betroffenen eine Aufenthaltserlaubnis, die mehrmals verlängert wurde. Auf Grund seiner Zuwendung zu radikalsalafistischen Kreisen und dem “Islamischen Staat” (IS) ordnete der Senator für Inneres der Freien Hansestadt Bremen zur Abwehr der von dem Betroffenen ausgehenden Gefahr eines terroristischen Anschlags mit Verfügung vom 13. März 2017 nach § 58a AufenthG die Abschiebung des Betroffenen in die Russische Föderation an. Diese Verfügung wurde dem Betroffenen am 14. März 2017 ausgehändigt.
2
Am selben Tag hat das Amtsgericht Bremen auf Antrag der beteiligten Behörde gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Abschiebung in die Russische Föderation bis zum 13. April 2017 angeordnet. Nachdem der Betroffene gegen die Abschiebungsanordnung am 21. März 2017 beim Bundesverwaltungsgericht Klage verbunden mit einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erhoben hatte, hat das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschlüssen vom 13. April und 10. Mai 2017 die Sicherungshaft gegen den Betroffenen bis zum 31. Mai 2017 verlängert. Die gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts gerichtete Beschwerde des Betroffenen, die er nach Zurückweisung seines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch das Bundesverwaltungsgericht und nach seiner Abschiebung mit dem Feststellungsantrag fortgesetzt hat, hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seine Feststellungsanträge weiter.
3
II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.
4
1. Das Beschwerdegericht meint, die Voraussetzungen für die Anordnung und die beiden Verlängerungen der Haft hätten jeweils vorgelegen. Insbesondere habe das Amtsgericht seinen Entscheidungen zu Recht den Haftgrund des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG in der hier maßgeblichen, bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung (im Folgenden: aF) zugrunde gelegt. Dieser stelle einen vom Gesetzgeber typisierten Fall der Fluchtgefahr dar. Die Haft habe daher zur Durchsetzung der gefahrenabwehrrechtlichen Abschiebungsanordnung angeordnet werden dürfen.
5
2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung stand.
6
a) Für die Anordnung von Sicherungshaft nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG aF (= § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nF) genügt regelmäßig – und so auch hier – das Vorliegen einer Abschiebungsanordnung nach § 58a Abs. 1 AufenthG, die nicht unmittelbar vollzogen werden kann.
7
aa) Allerdings nimmt die Rechtsbeschwerde im Ausgangspunkt zutreffend an, dass die Haftgründe des nationalen Rechts an Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. EG Nr. L 348 S. 98 – Rückführungsrichtlinie) zu messen sind. Danach dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn Fluchtgefahr im Sinne von Art. 3 Nr. 7 Rückführungsrichtlinie besteht (Buchstabe a) oder die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern (Buchstabe b). Art. 15 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie ermöglicht demgegenüber keine Inhaftierung allein aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (vgl. EuGH, NVwZ 2010, 693 Rn. 70; s.a. Hailbronner in ders., AuslR [April 2020], § 62 AufenthG Rn. 19-21; Hörich, Abschiebungen nach europäischen Vorgaben, S. 157; Mananashvili in Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2. Aufl., Teil C VII Rn. 9 f.; Marschner, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 6. Aufl., Teil E Rn. 39).
8
bb) Die Vorgaben von Art. 15 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie sind bei Vorliegen einer Abschiebungsanordnung nach § 58a Abs. 1 AufenthG, die nicht unmittelbar vollzogen werden kann, jedoch im Regelfall erfüllt.
9
(1) Nach § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde gegen einen Ausländer auf Grund einer auf Tatsachen gestützten Pro-gnose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundes-republik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen. Eine “terroristische Gefahr” ist gegeben, wenn ideologische oder politische Ziele unter Einsatz gemeingefährlicher Waffen oder durch Angriffe auf das Leben Unbeteiligter verfolgt werden. Der Begriff der “Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland” umfasst die innere und äußere Sicherheit und schützt den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Eine “besondere” Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland im Sinne der Vorschrift liegt vor, wenn diese auf Grund des Gewichts und der Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter eine mit einer terroristischen Gefahr vergleichbare Gefahrendimension erreicht (vgl. BVerwG, NVwZ 1999, 1346, 1348; BVerwGE 158, 225 Rn. 15 ff. jeweils mwN).
10
(2) Solchen Umständen ist die hohe Wahrscheinlichkeit inhärent, dass sich der Betroffene durch Untertauchen jedwedem staatlichen Zugriff entzieht, um die geplanten Angriffe umzusetzen und damit seine ideologischen oder politischen Ziele durchzusetzen. Die durch eine Abschiebungsanordnung nach § 58a Abs. 1 AufenthG festgestellten Gefahren geben daher gleichzeitig Anlass zu der Annahme, dass sich der Drittstaatsangehörige dem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnte, stellen nach der Vorstellung des Gesetzgebers also einen typisierten Fall von Fluchtgefahr im Sinne von Art. 3 Nr. 7, Art. 15 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie dar. Das Vorliegen einer Abschiebungsanordnung nach § 58a Abs. 1 AufenthG, die nicht unmittelbar vollzogen werden kann, bildet auf Grund dieser Vermutung eine ausreichende Grundlage für eine Haftanordnung nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1a AufenthG aF (= § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nF). Der gesonderten Feststellung von Fluchtgefahr durch den Haftrichter bedarf es darüber hinaus nicht (so im Ergebnis auch BeckOK AuslR/Kluth [1.7.2020], § 62 AufenthG Rn. 33; Bergmann/Dienelt/Winkelmann, Ausländerrecht, 13. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 100; HK-AuslR/Keßler, 2. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 27; Kaniess, Abschiebungshaft, Rn. 86 f.).
11
cc) Auch im Streitfall genügte daher für die vom Amtsgericht angeordnete Sicherungshaft die Feststellung, dass gegen den Betroffenen eine Abschiebungsanordnung nach § 58a Abs. 1 AufenthG ergangen war, die nicht unmittelbar vollzogen werden konnte. Der von ihm im Rahmen der amtsgerichtlichen Anhörung vom 13. April 2017 zur Akte gereichte Brief, auf den die Rechtsbeschwerde Bezug nimmt, in welchem er eine Meldeauflage erbittet und seine Bereitschaft signalisiert, von zu Hause aus zum Flughafen gebracht zu werden, sprach nicht gegen die aus der Abschiebungsanordnung nach § 58a Abs. 1 AufenthG folgende Vermutung, er könnte sich der Abschiebung durch Flucht entziehen. Das Beschwerdegericht hat diese Äußerungen in seine Entscheidung einbezogen, jedoch rechtsfehlerfrei als nicht glaubhaft angesehen.
12
b) Die Rüge, die Anhörung durch das Beschwerdegericht sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, greift ebenfalls nicht durch. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde musste der Betroffene vom Beschwerdegericht nicht erneut angehört werden. Die beteiligte Behörde hatte sämtlichen Anträgen als Anlage die Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG beigefügt. Der Betroffene wurde hierzu vom Amtsgericht jeweils ordnungsgemäß angehört. Zusätzliche Erkenntnisse waren von einer erneuten Anhörung durch das Beschwerdegericht nicht zu erwarten.
13
3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
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