Verwaltungsrecht

Subsidiärer Schutz für afghanischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 23 K 14.31203

Datum:
2.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3c Nr. 3, § 4 Abs. 3

 

Leitsatz

1 Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch die Taliban.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Von staatlichen Sicherheitskräften oder internationalen Organisationen ist kein wirksamer Schutz vor ernsthaftem Schaden durch die Taliban geboten. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. November 2014 wird in den Nummer 3 und 5 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat lediglich im tenorierten Umfang Erfolg.
Soweit die Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtet ist, bleibt sie erfolglos; der streitgegenständliche Bescheid ist insofern rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. In Bezug auf die hilfsweise begehrte Zuerkennung subsidiären Schutzes ist die Klage hingegen begründet (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten ist insofern rechtswidrig und verletzt den Kläger sonach in seinen Rechten.
Zutreffend und rechtsfehlerfrei wurde der im Hauptantrag geltend gemachte Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vom Bundesamt abgelehnt. Ebenso wenig wie die Beklagte sieht das Gericht aus dem Vortrag des Klägers im Verwaltungsverfahren bzw. in der mündlichen Verhandlung Anhaltspunkte für eine flüchtlingsschutzbegründende Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Es vermag insbesondere nicht der Argumentation der Klägerbevollmächtigten zu folgen, dass der Kläger wegen aktiver Gegnerschaft aufgrund seiner politischen Überzeugung der Gefahr einer Verfolgung durch die Taliban unterliege. Hierfür bestehen keinerlei Indizien, auch nicht aufgrund der Vorfälle um die Tötung von Familienmitgliedern vor mehr als zehn Jahren. Zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 VwGO) hat der Kläger im Gegenteil schon gemäß eigener Darlegung in der mündlichen Verhandlung die von ihm berichtete Informantentätigkeit offensichtlich nur zur Erzielung von Einnahmen begonnen und betrieben. Das Gericht folgt insofern der zutreffenden Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und sieht von einer weiteren Darlegung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 1 AsylG).
Der Kläger hat aber den hilfsweise geltend gemachten Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, da ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne von Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten dabei unter anderem Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Wann eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung vorliegt, hängt nach der insoweit vor allem maßgebenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen. Die Bewertung dieses Minimums ist nach der Natur der Sache relativ. Kriterien hierfür sind abzuleiten aus allen Umständen des Einzelfalles, wie etwa der Art der Behandlung oder Bestrafung und dem Zusammenhang, in dem sie erfolgte, der Art und Weise ihrer Vollstreckung, ihrer zeitlichen Dauer, ihrer psychischen und geistigen Wirkungen, sowie gegebenenfalls abgestellt auf Geschlecht, Alter bzw. Gesundheitszustand des Opfers. Unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung sind damit Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. VGH BW, U.v. 6.3.2012 – A 11 S 3070/11 – juris Rn. 16).
Bei der Prüfung, ob eine konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung besteht, ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ anzulegen, wobei allerding das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit steht die Rechtsgutsverletzung bevor, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise, d. h. bei einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihre Bedeutung, die für die Rechtsgutsverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.
Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG gelten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz als anwendbar auch für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erklärt.
Die Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG kann gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ersthaften Schaden zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Schutz vor dem ernsthaften Schaden kann gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3d Abs. 1 AsylG nur geboten werden vom Staat oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sofern sie willens und in der Lage sind, wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz zu gewähren, vgl. § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG. Generell ist ein solcher Schutz gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat, § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG. Gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn eine sogenannte interne Schutzalternative besteht, weil er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor einem ernsthaften Schaden oder Zugang zu Schutz vor ernsthaften Schaden nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Vorstehendes berücksichtigend ist das Gericht nach Abhaltung der mündlichen Verhandlung und den konkretisierenden Darlegungen des Klägers zur Überzeugung gelangt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in das Heimatland die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung durch die Taliban droht. Der Kläger hat überzeugend, schlüssig und in sich stimmig die beiden Vorfälle, die er beobachtet und dem Ian Mohammed, einem Nachbarn und Mittelsmann, mitgeteilt hat, geschildert und auch die Folgen der Informantentätigkeit für die von ihn gemeldeten Personen, die der Kläger in dem einen Fall namentlich benannte. Der vorgetragene Tatsachenkomplex ist entgegen der Bewertung des Bundesamtes und vor dem Hintergrund des Bildungsstands und der kulturellen Herkunft des Klägers glaubhaft. Unerheblich dabei ist es, dass es sich letztlich „nur“ um zwei Vorfälle binnen fünf Monaten gehandelt hat, die der Kläger weitergab, denn die plötzliche und alsbaldige Beendigung der Tätigkeit lag nicht in der Sphäre des Klägers Zwar mag es zutreffen, dass – wie das Bundesamt ausführt – er nicht mit letzter Sicherheit erklären bzw. geklärt werden konnte, auf welche Weise die Taliban von der gegen sie gerichteten Informantentätigkeit des Klägers erfahren hatten. Da der Kläger nicht selbst Zeuge bei der Ermordung des Ian Mohammed war, ist jedenfalls nicht auszuschließen bzw. gänzlich unwahrscheinlich, dass sich entsprechende Informationen im Umgriff mit dessen Ermordung ergeben hatten. Nachvollziehbar in der konsequenten Folge ist es nämlich, wenn – wie von dem Kläger berichtet – die örtlichen Taliban sich in dessen Familienumfeld nach ihm erkundigt hatten, nachdem der Ian Mohammad zu Tode gekommen war und dies auch nach Ausreise des Klägers fortsetzten.
Die regierungsfeindlichen Gruppierungen der Taliban sind unschwer als nicht staatliche Akteure im Sinne von § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c Nr. 3 AsylG zu qualifizieren. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger wirksamen Schutz vor einem ernsthaften Schaden durch die Taliban von staatlichen Sicherheitskräften oder internationalen Organisationen erhalten konnte bzw. erhalten wird (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, vom 13.09.2015, S. 6 ff.; Lagebericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: 6. November 2015, S. 4 und 8). Der Kläger war damit von einem ernsthaften Schaden bedroht. Es ist deshalb insoweit auch davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch die Taliban unterworfen wird. Vorliegend kann die Vermutung der drohenden unmenschlichen Behandlung nicht widerlegt werden. Stichhaltige Gründe, die die Wiederholungsträchtigkeit einer Verfolgung entkräften, sind nicht ersichtlich. Der Kläger kann auch nicht auf internen Schutz nach § 4 Abs. 3 AsylG i.V. § 3e Abs. 1 AsylG verwiesen werden. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger als ihnen bekannter gegnerischer Informant der Taliban andernorts in Afghanistan, auch nicht in der Hauptstadt Kabul, vor Racheakten durch diese dauerhaft sicher ist.
Dem Hilfsantrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes war daher stattzugeben. Eines Eingehens auf den weiteren Hilfsantrag zur Feststellung nationaler Abschiebungsverbote bedarf es demnach nicht mehr.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 2 VwGO und bemisst sich am geschätzten Umfang des jeweiligen Obsiegens.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.


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