Verwaltungsrecht

Unselbständige Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung kein Einbürgerungshindernis

Aktenzeichen  5 B 16.1007

Datum:
23.1.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
DÖV – 2017, 739
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, § 12a Abs. 1 S. 1 Nr. 2, S. 2, S. 4
StGB § 61 Nr. 5, § 69

 

Leitsatz

1. Die unselbständige Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 61 Nr. 5 StGB bleibt bei der Beurteilung der Einbürgerungsvoraussetzungen nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 12a Abs. 1 StAG außer Betracht.
2 Wird gegen den schuldfähigen Kläger zusätzlich zu seiner strafrechtlichen Verurteilung eine Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 61 Nr. 5 StGB angeordnet, stellt dies kein Einbürgerungshindernis nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 StAG dar. (redaktioneller Leitsatz)
3 Unselbständige Maßregeln der Besserung und Sicherung haben von vornherein als einbürgerungsunschädlich außer Betracht zu bleiben. Die das Strafrecht prägende Zweispurigkeit der Rechtsfolgen ist auch für die Beurteilung im Staatsangehörigkeitsrecht von Bedeutung. Für eine – sich stets zu Lasten des Einbürgerungsbewerbers auswirkende – autonome staatsangehörigkeitsrechtliche Betrachtung ist angesichts der grundrechtlichen Anforderungen an Rechtssicherheit und Normenklarheit kein Raum. (redaktioneller Leitsatz)
4 Die „Anwendungshinweise Bayern zum Staatsangehörigkeitsgesetz“ vermögen angesichts ihres Rechtscharakters nichts an einem anhand der klassischen Interpretationsmethoden entwickelten Auslegungsergebnis zu ändern. Anders als die Bestimmungen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht (StAR-VwV) weisen die bayerischen Anwendungshinweise, ebenso wie die vorläufigen Anwendungshinweise des Bundes, nicht den Charakter einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift im Sinn des Art. 84 Abs. 2 GG auf. Sie haben keinen normativen Charakter, sondern bringen lediglich das interne Verständnis der bayerischen Vollzugsbehörden zur Handhabung des StAG zum Ausdruck. (redaktioneller Leitsatz)
5 Der Umstand, dass der Ausländer nicht dringend auf seine Einbürgerung angewiesen ist, vermag angesichts des bei allen Einbürgerungsbewerbern ohnehin zwingend vorausgesetzten gesicherten Aufenthaltsstatus (vgl. § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StAG) nur bedingt als Argument gegen eine Einbürgerung zu überzeugen. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 K 15.4003 2016-01-20 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 20. Januar 2016 (M 25 K 15.4003) wird aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 18. August 2015 verpflichtet, den Kläger in den deutschen Staatsverband einzubürgern.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

1. Die Berufung ist zulässig und hat in der Sache Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Verpflichtungsklage zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass ihn die Beklagte – unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit – in den deutschen Staatsverband einbürgert (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Einbürgerungsvoraussetzungen des § 10 StAG sind nach Aktenlage sowie – mit Ausnahme des allein streitigen § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG – nach den übereinstimmenden Erklärungen der Beteiligten im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof erfüllt. Insbesondere hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass sie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Klägers nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG als gegeben ansieht. Auch steht aus ihrer Sicht die Mehrstaatigkeit des Klägers nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. § 12 Abs. 1 StAG einer Einbürgerung nicht entgegen. Nach Überzeugung des Senats ist die den Kern des Rechtsstreits bildende Einbürgerungsvoraussetzung der Straffreiheit nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG ebenfalls erfüllt, weil die strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers wegen ihres Bagatellcharakters nach § 12a Abs. 1 StAG zwingend außer Betracht bleiben. Ebenfalls unberücksichtigt bleibt die im Strafbefehl angeordnete unselbständige Maßregel der Besserung und Sicherung, ohne dass hierbei eine gesonderte behördliche Ermessensentscheidung erforderlich oder auch nur möglich wäre. Dies ergibt sich aus dem Gesetzeswortlaut (dazu a) sowie aus systematisch-teleologischen Erwägungen (dazu b). Der Wille des Gesetzgebers (dazu c) steht dem gefundenen Auslegungsergebnis ebenso wenig entgegen wie die bayerischen Anwendungshinweise zum Staatsangehörigkeitsgesetz (dazu d). Auf die Frage der ordnungsgemäßen Ermessensausübung der Beklagten kommt es damit nicht mehr an (dazu e).
a) Im Vergleich zu der klar formulierten Grundnorm des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG (aa) ist der Wortlaut des § 12a Abs. 1 StAG nicht eindeutig (bb). Aus der Gesamtschau der beiden Vorschriften ergibt sich jedoch, dass die gegen den Kläger unselbständig, d.h. zusammen mit seiner strafrechtlichen Verurteilung im Strafbefehl vom 30. Juli 2012 angeordnete Entziehung der Fahrerlaubnis als von vornherein einbürgerungsrechtlich irrelevant anzusehen ist.
aa) Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG ist ein Ausländer einzubürgern, wenn er weder wegen einer rechtswidrigen Tat zu einer Strafe verurteilt noch gegen ihn auf Grund seiner Schuldunfähigkeit eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet worden ist. Die erste Tatbestandsalternative dieses Einbürgerungshindernisses knüpft an die Verurteilung „zu einer Strafe“ an und setzt damit die Schuldfähigkeit des Betroffenen voraus (vgl. Berlit in GK-StAR, Stand 34. EL Juni 2016, § 10 Rn. 300). Demgegenüber betrifft die zweite Tatbestandsalternative nach ihrer klaren und eindeutigen Formulierung nur den Fall, dass gegen den Täter aufgrund seiner Schuldunfähigkeit (vgl. § 20 StGB) eine isolierte bzw. selbständige Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet worden ist. Die hiesige Konstellation, dass gegen den schuldfähigen Kläger zusätzlich zu seiner strafrechtlichen Verurteilung eine Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 61 Nr. 5 StGB angeordnet wurde, unterfällt dem Gesetzeswortlaut nicht (so auch – zu § 8 Abs. 1 StAG – VG Augsburg, U.v. 10.3.2015 – Au 1 K 14.1697 – juris Rn. 21 ff.; Geyer in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 10 Rn. 21 und § 12a Rn. 13; a. A. wohl Hailbronner in Hailbronner/Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht, 5. Aufl. 2010, § 12a StAG Rn. 10 f.). Soweit der Vertreter des öffentlichen Interesses unter Hinweis auf die frühere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 29.3.2007 – 5 C 33.05 – BVerwGE 128, 271; U.v. 29.3.2007 – 5 C 31.05 – juris) auch diesen Fall unter die erste Alternative des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG subsumieren will, ist die genannte Judikatur – die sich im Übrigen auf eine selbständige Maßregel der Besserung und Sicherung bezog – durch die zwischenzeitliche Neufassung des Gesetzeswortlauts überholt. Der jetzige Gesetzestext differenziert nicht nur nach der Schuldfähigkeit des Täters, sondern unterscheidet auch terminologisch zwischen der Verurteilung („zu einer Strafe“, nicht mehr „wegen einer Straftat“) und der Anordnung (einer Maßregel der Besserung und Sicherung). Trifft beides in einem Urteil zusammen, kommt es nach der ersten Tatbestandsalternative nur auf die strafrechtliche Verurteilung des schuldfähigen Täters an.
bb) Nach der strafmaßbezogenen Bagatellgrenze des § 12a Abs. 1 Satz 1 StAG bleiben bei der Einbürgerung Verurteilungen innerhalb eines bestimmten Strafrahmens außer Betracht. Hierzu zählen die zwei gegen den Kläger verhängten und gemäß § 12a Abs. 1 Satz 2 StAG zu addierenden Geldstrafen von insgesamt 90 Tagessätzen, die nach § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG unmittelbar kraft Gesetzes einbürgerungsunschädlich sind. Ist eine Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 61 Nr. 5 oder Nr. 6 StGB angeordnet worden, so wird gemäß § 12a Abs. 1 Satz 4 StAG im Einzelfall entschieden, ob sie bei der Einbürgerung außer Betracht bleiben kann. Auch wenn die letztgenannte Formulierung im Unterschied zu § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG nicht ausdrücklich auf die gegen Schuldunfähige angeordneten Maßregeln beschränkt ist, ergibt sich dieses Verständnis daraus, dass die Unbeachtlichkeitsklausel des § 12a Abs. 1 Satz 4 StAG an das Einbürgerungshindernis des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG anknüpft und dieses als „Rückausnahme“ mit Leben erfüllt. Insoweit stellt der – aus redaktionellen Gründen als gesonderte Norm ausgestaltete (vgl. Hailbronner a.a.O. § 10 StAG Rn. 53) – § 12a StAG eine Ausformung und Ergänzung, nicht aber eine Verschärfung des Unbescholtenheitserfordernisses nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG dar. Wie auch § 11 und § 12 StAG ist § 12a StAG regelungssystematisch als Ausnahme zu den Einbürgerungsvoraussetzungen bzw. Einbürgerungshindernissen nach § 10 StAG konzipiert. Für eine „überschießende“ Anwendung des § 12a StAG auch auf die von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG nicht erfassten unselbständigen Maßregeln gegenüber Schuldfähigen sind dem Gesetzeswortlaut keine hinreichenden Anhaltspunkte zu entnehmen.
b) Systematisch-teleologische Argumente streiten ebenfalls für eine Auslegung dahingehend, dass unselbständige Maßregeln der Besserung und Sicherung von vornherein als einbürgerungsunschädlich außer Betracht bleiben. Die das Strafrecht prägende Zweispurigkeit der Rechtsfolgen (aa) ist auch für die Beurteilung im Staatsangehörigkeitsrecht von Bedeutung (bb). Für eine – sich stets zu Lasten des Einbürgerungsbewerbers auswirkende – autonome staatsangehörigkeitsrechtliche Betrachtung ist angesichts der grundrechtlichen Anforderungen an Rechtssicherheit und Normenklarheit kein Raum (cc).
aa) Aus dem Umstand, dass das Strafrecht ein Schuldstrafrecht ist, hat der deutsche Gesetzgeber die Konsequenz eines zweispurigen Systems von Strafen (§§ 38 ff. StGB) und Maßregeln (§§ 61 ff. StGB) gezogen (vgl. Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, Vorbem. §§ 61 ff. Rn. 1 ff.). Strafe ist eine repressive Übelzufügung als Reaktion auf rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten (BVerfG, U.v. 5.2.2004 – 2 BvR 2029/01 – BVerfGE 109, 133); Grundlage für ihre Zumessung ist nach § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB die Schuld des Täters (vgl. BVerwG, U.v. 29.3.2007 – 5 C 33.05 – BVerwGE 128, 271/274). Maßregeln der Besserung und Sicherung dienen demgegenüber ohne Rücksicht auf die Schuldfähigkeit des Täters insbesondere der Individualprävention, also der Verhinderung zukünftiger, vom Täter zu erwartender, erheblicher rechtswidriger Taten. Sie können gegenüber schuldfähigen Tätern im Strafurteil zusätzlich angeordnet werden (vgl. § 267 Abs. 6 StPO). Hierzu gehört insbesondere die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 61 Nr. 5 StGB, deren Anordnung bei dem vom Kläger verwirklichten Vergehen der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB als Regelfall vorgesehen ist. Insoweit erlässt der Strafrichter für die Strafe und die Maßregel ein einheitliches Urteil, das – etwa hinsichtlich der Tilgungsfristen (vgl. § 46 BZRG) – einem identischen Schicksal folgt. Gegenüber schuldunfähigen Tätern können Maßregeln nach § 71 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StGB selbständig bzw. isoliert angeordnet werden. Dies erfolgt dann nicht im Rahmen einer strafrechtlichen „Verurteilung“, sondern durch „Anordnung“ im Sicherungsverfahren nach §§ 413 ff. StPO (vgl. zur strafprozessualen Terminologie § 267 Abs. 1 und 6, § 465 Abs. 1 StPO).
bb) An diese das Strafrecht prägende Zweispurigkeit knüpft der Gesetzgeber im Staatsangehörigkeitsrecht an. Wurde der – schuldfähige – Täter „zu einer Strafe“ im Sinn des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StGB verurteilt, kommt der staatsangehörigkeitsrechtlich relevante Unrechtsgehalt ebenso eindeutig wie erschöpfend in der strafgerichtlichen Verurteilung bzw. der dortigen Rechtsfolgenzumessung zum Ausdruck. Wann eine Verurteilung einbürgerungsunschädlich ist, wird in § 12a Abs. 1 Satz 1 bis 3 StAG abschließend und anhand konkreter Bagatellgrenzen geregelt. Hier hat der Gesetzgeber detailliert nach den verschiedenen strafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten unterschieden und z.B. Erziehungsmaßregeln nach dem Jugendgerichtsgesetz gesondert aufgeführt. Wird im strafgerichtlichen Urteil zugleich bzw. als unselbständiger Annex die Entziehung der Fahrerlaubnis ausgesprochen, entfaltet diese Maßregel bei einem schuldfähigen Täter keine gesonderte einbürgerungsrechtliche Relevanz. Für eine Hineinrechnung der Maßregel in die strafmaßabhängige Bagatellgrenze fehlt es bereits an einem entsprechenden Umrechnungsfaktor (vgl. Berlit, InfAuslR 2007, 457/465). Nur wenn eine strafrechtliche Verurteilung mangels Schuldfähigkeit des Täters ausscheidet, kommt es einbürgerungsrechtlich auf eine einzelfallbezogene Würdigung der angeordneten Maßregel bzw. der darin zum Ausdruck kommenden Gefährdungsprognose an. Da diese – mangels Strafmaßbezugs – keinen vergleichbar klaren Rechtsfolgenausspruch wie ein Strafurteil enthält, sieht der Gesetzgeber in § 12a Abs. 1 Satz 4 StAG konsequenterweise eine Einzelfallbetrachtung im Wege einer behördlichen Ermessensentscheidung vor (vgl. Berlit in GK-StAR, § 10 Rn. 301).
cc) Angesichts dieses Befundes sprechen Gesetzessystematik und Normzweck für eine klare Auslegung auf der „ersten Stufe“ dahingehend, dass unselbständige Maßregeln gegenüber Schuldfähigen von vornherein einbürgerungsrechtlich irrelevant sind und nicht erst auf der „zweiten Stufe“, im Rahmen einer nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbaren Ermessensentscheidung, außer Betracht bleiben können. Es ist kein Grund ersichtlich, warum man den aufgezeigten textlichen Unstimmigkeiten durch eine besonders restriktive, sich stets zu Lasten des Einbürgerungsbewerbers auswirkende Betrachtung begegnen sollte. Nicht zu überzeugen vermag insbesondere der in der mündlichen Verhandlung diskutierte Erst-Recht-Schluss, wonach eine gegenüber Schuldfähigen angeordnete Maßregel der Besserung und Sicherung noch einbürgerungsschädlicher sein soll als eine Maßregel bei schuldunfähigen Personen. Bei der mit einer strafrechtlichen Verurteilung einhergehenden unselbständigen Maßregel ist ein eigenständiger Gehalt der Gefährdungsprognose gerade nicht erkennbar, so dass eine einbürgerungsrechtliche Zerlegung der einheitlichen strafrechtlichen Urteilsgründe künstlich erscheint. Nur durch eine klare Auslegung kann im Übrigen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Rechtssicherheit und Normenklarheit Rechnung getragen werden, denen im Staatsangehörigkeitsrecht kraft Verfassungsrechts eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, U.v. 24.5.2006 – 2 BvR 669/04 – BVerfGE 116, 24/53).
c) Der Wille des Gesetzgebers spricht schon deswegen nicht gegen das gefundene Auslegungsergebnis, weil er in sich widersprüchlich ist. Aus der Begründung des – später zum Gesetz gewordenen – Gesetzentwurfs der Bundesregierung lässt sich nichts Eindeutiges herleiten (aa). Erst recht gilt dies für den zeitweise parallel laufenden Gesetzentwurf des Bundesrates, der sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzen konnte (bb).
aa) Die streitgegenständlichen staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen wurden durch Art. 5 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (EU-Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19.8.2007, BGBl I S. 1970) eingeführt bzw. geändert. Inwieweit der Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 16/5065 vom 23.4.2007) auf die oben genannte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG (BVerwG, U.v. 29.3.2007 – 5 C 33.05 – BVerwGE 128, 271; U.v. 29.3.2007 – 5 C 31.05 – juris) Bezug nimmt, lässt sich seiner Begründung nicht eindeutig entnehmen (vgl. auch Berlit, InfAuslR 2007, 457). Erst recht ist die Einzelbegründung zu § 12a Abs. 1 StAG (BT-Drucks. 16/5065 S. 230) mehrdeutig formuliert. Wenn es darin heißt, dass „als Maßregel der Besserung und Sicherung (…) sowohl bei schuldfähigen als auch bei schuldunfähigen Tätern (…) die Entziehung der Fahrerlaubnis (…) in Betracht“ kommt, kann dies entweder als Ausdruck eines umfassenden Regelungswillens des Gesetzgebers interpretiert oder aber dahingehend verstanden werden, dass zunächst lediglich das vorhandene strafrechtliche Instrumentarium benannt wird. Während der anschließende „Soweit“-Satz für eine extensive Auslegung der erfassten Maßregeln sprechen könnte, führt die nachfolgende ausdrückliche Bezugnahme auf „die isolierte Anordnung einer Maßregel“ wiederum zum gegenteiligen Ergebnis. Sie unterscheidet gerade danach, ob die Maßregeln selbständig oder neben „Bagatellstrafen“ nach Satz 1 und 2 verhängt worden sind (vgl. Berlit in GK-StAR, § 12a Rn. 61.1).
bb) Dieses nicht eindeutige, aber tendenziell für eine Beschränkung auf isolierte Anordnungen von Maßregeln gegenüber Schuldunfähigen sprechende Auslegungsergebnis wird durch die Begründung zu dem – vom Bundestag abgelehnten – Gesetzentwurf des Bundesrates (Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes [StAG] vom 25.4.2007, BT-Drs. 16/5107 = BR-Drs. 137/07 [Beschluss] vom 9.3.2007) nicht konterkariert, sondern vielmehr bestätigt. Anders als in dem – weitgehend unverändert verabschiedeten – Gesetzentwurf der Bundesregierung ist im Gesetzentwurf der Bundesrates zu § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG keine Beschränkung auf die gegenüber Schuldunfähigen angeordneten Maßregeln der Besserung und Sicherung enthalten. Diese weite Formulierung konnte sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchsetzen (vgl. die Ablehnung in BR-Drs. 911/08 vom 28.11.2008). In der Stellungnahme der Bundesregierung (BT-Drs. 16/5107 S. 13) ist lediglich allgemein davon die Rede, dass die vorgeschlagenen Änderungen „im Wesentlichen“ dem Gesetzentwurf der Bundesregierung entsprächen. Dieser nicht näher präzisierten Äußerung kann nicht zuletzt vor dem Hintergrund parlamentarisch-politischer Mechanismen keine ausschlaggebende Bedeutung bei der Auslegung des letztlich verbindlichen Gesetzestextes zukommen.
d) Die von der Beklagten ins Feld geführten „Anwendungshinweise Bayern zum Staatsangehörigkeitsgesetz“ (AH-StAG, derzeitiger Stand 10.6.2016) sind ebenfalls nicht eindeutig formuliert (vgl. die Beschränkung auf schuldunfähige Personen in Nr. 10.1.1.5 einerseits und die Formulierung in Nr. 12a.1.4 andererseits). Ungeachtet dessen vermögen die Anwendungshinweise schon angesichts ihres Rechtscharakters nichts an dem anhand der klassischen Interpretationsmethoden entwickelten Auslegungsergebnis zu ändern. Anders als die bislang nicht aktualisierten Bestimmungen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht (StAR-VwV vom 13.12.2000) weisen die bayerischen Anwendungshinweise, ebenso wie die vorläufigen Anwendungshinweise des Bundes, nicht den Charakter einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift im Sinn des Art. 84 Abs. 2 GG auf. Sie haben keinen normativen Charakter, sondern bringen lediglich das interne Verständnis der bayerischen Vollzugsbehörden zur Handhabung (unter anderem) des § 12a StAG zum Ausdruck. Die in Nr. 12a.1.4 der Anwendungshinweise enthaltenen Kriterien für die Art und Weise der Ermessensausübung (Dauer der Maßregel, Folgen der Tat, Günstigkeit der Sozialprognose des Einbürgerungsbewerbers) können sich naturgemäß nicht mit bindender Wirkung zu der vorgelagerten Frage verhalten, ob überhaupt der Anwendungsbereich für eine behördliche Ermessensentscheidung eröffnet ist. Diese allein anhand des Staatsangehörigkeitsgesetzes zu beantwortende Frage ist aus den dargelegten Erwägungen zu verneinen.
e) Vor diesem Hintergrund kommt es auf die vom Verwaltungsgericht ausführlich erörterte Frage der ordnungsgemäßen Ermessensausübung der Beklagten nicht mehr an. Lediglich ergänzend sei angemerkt, dass der Senat – unabhängig von der Frage einer generellen Ermessensreduzierung auf Null (dazu VG Augsburg, U.v. 10.3.2015 – Au 1 K 14.1697 – juris Rn. 37) – Bedenken hinsichtlich der sehr strengen Ermessensentscheidung der Beklagten hegt. Die in den bayerischen Anwendungshinweisen genannten Ermessenskriterien sowie sonstige abwägungsrelevante Umstände (vgl. dazu BayVGH, U.v. 6.12.2005 – 5 BV 04.1561 – juris Rn. 22 f.) dürften durchwegs für und nicht gegen den Kläger sprechen. Der Kläger hat seine Fahrerlaubnis nach einem positiven MPU-Test im Mai 2014 wieder erhalten. Durch die Trunkenheitsfahrt wurden keine Personen verletzt und es ist kein Sachschaden entstanden. Die Sozialprognose des Klägers, der sich seit 15 Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält, ist insgesamt günstig. Der von der Beklagten zu seinen Lasten gewertete Umstand, dass der Kläger nicht dringend auf seine Einbürgerung angewiesen ist, vermag angesichts des bei allen Einbürgerungsbewerbern ohnehin zwingend vorausgesetzten gesicherten Aufenthaltsstatus (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG) nur bedingt zu überzeugen. Dies gilt schließlich auch für den beklagtenseits in den Vordergrund gerückten Umstand, dass die zweite strafrechtliche Verurteilung des Klägers in engem Zusammenhang mit seinem Einbürgerungsverfahren steht. Denn nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (B.v. 20.12.2016 – 1 StR 177/16 – juris) ist eine Strafbarkeit nach § 42 StAG nicht gegeben, wenn im Einbürgerungsverfahren unrichtige oder unvollständige Angaben über inländische Strafverurteilungen gemacht werden, die gemäß § 12a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 StAG bei der Einbürgerung außer Betracht bleiben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
3. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Die Frage, wie sich die unselbständige Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 und § 12a Abs. 1 StAG auswirkt, ist höchstrichterlich noch nicht geklärt und wird auch in der Verwaltungspraxis der Einbürgerungsbehörden als klärungsbedürftig betrachtet.


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