Verwaltungsrecht

Vaterschaftsanerkennung für ein deutsches Kind

Aktenzeichen  Au 6 K 20.1049

Datum:
4.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24107
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9
VwGO § 166 Abs. 1
EMRK Art. 8
StGB § 78
ZPO § 114 Abs.1

 

Leitsatz

Tenor

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

Der Kläger begehrt Prozesskostenhilfe für seine Klage auf Erteilung einer familienbezogenen Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG wegen seines deutschen Kindes statt einer ihm vom Beklagten erteilten humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.
I.
Der Kläger ist ausweislich eines mittlerweile vorliegenden Reisepasses senegalesischer Staatsangehöriger. Er reiste am 7. September 2014 ins Bundesgebiet ein und beantragte erfolglos Asyl; im Asylverfahren gab er unter anderem an, seinen Reisepass zerrissen zu haben. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte seinen Asylantrag mit Bescheid vom 6. Januar 2016 als offensichtlich unbegründet ab, forderte ihn unter Fristsetzung zur Ausreise auf und drohte ihm die Abschiebung in den Senegal an. Seine hiergegen erhobene Klage blieb erfolglos (VG Augsburg, U.v. 9.5.2016 – Au 7 K 16.30092, Behördenakte Bl. 85).
In der Folgezeit belehrte der Beklagte den Kläger wiederholt über seine Passpflicht und seine Pflicht zur freiwilligen Ausreise, welcher der Kläger ausdrücklich nicht nachzukommen bereit war (ebenda Bl. 101,168); insbesondere besorgte sich der Kläger keine Dokumente aus dem Senegal, von denen er selbst angab, sie seien dort und er habe telefonischen Kontakt mit seiner Familie, weil der Senegal so weit weg sei (ebenda Bl. 143, 145, 168, 193). Weitere Bemühungen der Ausländerbehörde um eine Identitätsklärung und Passersatzpapierbeschaffung blieben erfolglos; der Kläger musste schließlich zu einer Sammelanhörung bei der senegalesischen Auslandsvertretung zwangsweise vorgeführt werden.
Der Kläger ist wie folgt vorbestraft:
– Amtsgericht, Strafbefehl vom 13.7.2017 – *: Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu 10,00 € wegen unerlaubten Aufenthalts in Tateinheit mit unerlaubtem passlosen Aufenthalt (ebenda Bl. 262, 321). Der Kläger hatte sich trotz Vollziehbarkeit seiner Ausreisepflicht ohne Pass im Bundesgebiet aufgehalten und auch keinen neuen Pass beantragt, obwohl ihm das möglich und zumutbar gewesen wäre.
– Amtsgericht, Strafbefehl vom 3.8.2018 – *: Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu 10,00 € wegen Leistungserschleichung (ebenda Bl. 392, 438). Der Kläger war ohne Fahrschein in ein öffentliches Verkehrsmittel eingestiegen.
– Amtsgericht, Strafbefehl vom 6.3.2019 – *: Geldstrafe von 65 Tagessätzen zu 10,00 € wegen Diebstahls (ebenda Bl. 540). Der Kläger hatte in der Wohnung der Kindesmutter einen Geldbetrag von 650,00 € entwendet.
Im Januar 2018 begehrte der Kläger die vorgeburtliche Anerkennung seiner Vaterschaft für ein noch zu gebärendes Kind einer deutschen Staatsangehörigen. Die Stadt * setzte das Verfahren zur Prüfung eines etwaigen Missbrauchs vorläufig aus. Erst nach Vorlage eines Vaterschaft-Abstammungsgutachtens, welches die biologische Vaterschaft des Klägers bestätigte, konnte der Kläger mit Urkunde des Jugendamts der Stadt * vom 19. April 2018 die Vaterschaft für das am 1. März 2018 geborene Kind anerkennen, der die Kindesmutter zustimmte (ebenda Bl. 353, Geburtsurkunde Bl. 479).
Zur Überprüfung, ob zwischen dem Kläger und seinem Kind tatsächlich eine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung bestehe, holte das Ausländeramt Stellungnahmen des Jugendamtes der Stadt * ein, das mit Schreiben vom 2. November 2018 zunächst mitteilte, es habe ein persönliches Gespräch mit dem Kindesvater und der Kindesmutter stattgefunden; die Kindesmutter habe das alleinige Sorgerecht und sei vom Kindesvater bereits getrennt gewesen, bevor das gemeinsame Kind zur Welt gekommen sei. Der Kläger habe geschildert, dass er sich regelmäßig um seine Tochter kümmere, sie fast täglich sehe, ihr bei alltäglichen Dingen helfe, sie füttere, ihr die Windeln wechsle und sie anziehe. Die Kindesmutter habe bestätigt, dass er auch zuverlässig auf die gemeinsame Tochter aufpasse, wenn sie einen Termin habe. Die Kindesmutter habe geschildert, sie seien zwar kein Paar mehr, versuchten aber, miteinander ohne Streit umzugehen und sie helfe ihm auch bei Behördenangelegenheiten. Das Jugendamt teilte danach mit Schreiben vom 19. November 2018 mit, die Kindesmutter habe sich nochmals schriftlich und telefonisch an das Jugendamt gewendet und geschildert, sie werde vom Kindesvater erpresst und bedroht mit Informationen über sie. Er habe sich von ihr immer wieder Geld geliehen und weder einen Darlehensvertrag unterzeichnet, noch das Geld zurückgezahlt. Der Kläger habe wohl im Senegal eine Frau, was sie auf seinem Handy habe sehen können. Die Angaben zum Umgang des Klägers mit seiner Tochter allerdings entsprächen der Wahrheit; die Kindesmutter vermute aber, es gehe dem Kläger nur um seine Bleibeperspektive (ebenda Bl. 480 ff.).
Das Amtsgericht Ulm * dem Kläger und der Kindesmutter gemeinsam die elterliche Sorge mit Ausnahme des Aufenthaltsbestimmungsrechts und der Vermögenssorge für das gemeinsame Kind (AG, B.v. 15.7.2019 – * – ebenda Bl. 577) und regelte den Umgang des Klägers mit seinem Kind in einem Sitzungsprotokoll vom 24. Oktober 2019 dahin, dass die Eltern den Umgang über den Kinderschutzbund * in Gang setzen wollten und bis dahin der Kläger sein Kind im Beisein der Mutter in der Stadtbücherei * jeweils dienstags ab 15:00 Uhr für 1 Stunde treffen dürfe (ebenda Bl. 592).
Der Kläger legte im Oktober 2018 einen am 6. Juli 2018 ausgestellten senegalesischen Reisepass vor und beantragte über seinen damaligen Bevollmächtigten eine familienbezogene Aufenthaltserlaubnis nach § 27 AufenthG. Der jetzige Klägerbevollmächtigte beantragte für den Kläger die Erteilung des bereits beantragten Aufenthaltstitels sowie einer Arbeitserlaubnis.
Der Beklagte hörte erneut das Jugendamt der Stadt * an, welches mit Schreiben vom 15. April 2020 mitteilte, aktuell fänden in den Räumlichkeiten des Kinderschutzbundes * begleitete Treffen des Klägers mit seinem Kind wöchentlich für die Dauer von eineinhalb Stunden statt. Dem Kläger sei die Einhaltung der wöchentlichen Umgangstermine wichtig. Die Kindesmutter bringe das Kind und warte in einem anderen Raum, eine Umgangsbegleiterin sei beim Kindsvater und dem Kind anwesend. Der Umgang erfolge wohl unkompliziert und laufe gut ab; das Kind erkenne den Vater bei den Terminen, renne auf ihn zu, nenne ihn „Papa“ und freue sich, mit ihm zu spielen. Der Kläger gebe sich Mühe, mit seinem Kind die deutsche Sprache zu sprechen und gehe kindgerecht und altersgerecht mit ihm um. Der Kläger sei bemüht, eine Vater-Kind-Beziehung zum Kind aufzubauen und nehme auch Ratschläge von Fachpersonen an oder an Erziehungsberatungen teil (ebenda Bl. 640).
Der Beklagte hörte die Klägerbevollmächtigten zur beabsichtigten Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer familienbezogenen Aufenthaltserlaubnis wegen entgegenstehenden Ausweisungsinteresses an und stellte zugleich die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen in Aussicht. Hiermit erklärte sich der Klägerbevollmächtigte nicht einverstanden.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 2. Juni 2020 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ab (Nummer 1 des Bescheids) und erteilte ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG für die Dauer von sechs Monaten (Nummer 2). Zur Begründung führte der Beklagte aus, einem Anspruch des Klägers auf Erteilung einer familienbezogenen Aufenthaltserlaubnis stehe das Ausweisungsinteresse wegen seiner Straftaten entgegen, wovon für die familienbezogene Aufenthaltserlaubnis auch nicht abzusehen sei. Auch ausnahmsweise würden die schutzwürdigen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet nicht zu einem Ausnahmefall gegenüber der Regelerteilungsvoraussetzung des fehlenden Ausweisungsinteresses führen. Er habe von 2017-2019 wiederholt Straftaten begangen, die jeweils vorsätzlich begangen worden seien. Hingegen werde von der Regelerteilungsvoraussetzung für die humanitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abgesehen und die Aufenthaltserlaubnis nach § 26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG befristet.
Gegen diesen seinem früheren und seinem jetzigen Bevollmächtigten am 3. Juni 2020 zugestellten Bescheid ließ der Kläger am 24. Juni 2020 Klage erheben und neben Prozesskostenhilfe beantragen,
den Bescheid des Beklagten vom 2. Juni 2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG für den Kläger zu entscheiden.
Zur Begründung ließ der Kläger ausführen, er erfülle die tatbestandlichen Voraussetzungen für die familienbezogene Aufenthaltserlaubnis, insbesondere liege eine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung vor. Ein Teil der Straftaten stehe in Beziehung zur Kindesmutter, zu welcher das Verhältnis mittlerweile gut sei und welche dem Kläger sogar behilflich sei. Er habe auch keinen Diebstahl begangen, sondern Geld gebraucht, um sich einen Pass aus dem Senegal besorgen zu können. Die Kindesmutter sei in Kroatien im Urlaub gewesen, der Kläger habe sie angerufen und gefragt, ob er das Geld haben könne, hierin habe die Kindesmutter eingewilligt. Erst als der Kläger das gemeinsame Sorgerecht beantragt habe, sei es zur Anzeige gekommen; im Strafbefehlsverfahren habe sich der Kläger ohne Anwalt und ohne deutsche Sprachkenntnisse nicht verteidigen können. Mittlerweile sei das Verhältnis zur Kindesmutter in Ordnung. Es sei eine Zäsur in seiner Lebensführung eingetreten, der Kläger begehe auch keine Straftaten mehr und habe ein Arbeitsplatzangebot. Eine Trennung vom Kind sei ihm unzumutbar, weil das Kind noch sehr klein sei.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung vertiefte er die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid und führte aus, die vom Kläger begangenen vorsätzlichen Delikte seien keine Bagatelldelikte, soweit sie zu einer Geldstrafe von mehr als 30 Tagessätzen geführt hätten. Das Ausweisungsinteresse bestehe unabhängig davon, ob der Kläger tatsächlich ausgewiesen werden könne, seine Rechtsverstöße seien jedenfalls nicht vereinzelt und auch nicht geringfügig. Die Regelerteilungsvoraussetzung sei daher nicht erfüllt.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Bevollmächtigten ist unbegründet, weil die Erfolgsaussichten des Klageverfahrens im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife der Prozesskostenhilfe nicht gegeben sind.
Gemäß § 166 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist etwa dann gegeben, wenn schwierige Rechtsfragen zu entscheiden sind, die im Hauptsacheverfahren geklärt werden müssen. Auch wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Mittellosen ausgehen wird, ist vorab Prozesskostenhilfe zu gewähren (vgl. BVerfG, B.v. 14.4.2003 – 1 BvR 1998/02 – NJW 2003, 2976). Insgesamt dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Verfahrens nicht überspannt werden, eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolges genügt (Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 166 Rn. 26). Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist im Verfahren ohne Vertretungszwang immer geboten, wenn es in einem Rechtsstreit um nicht einfach zu überschauende Tat- und Rechtsfragen geht (Happ in Eyermann, a.a.O., Rn. 38).
Dem Klagebegehren – Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG bzw. Neuverbescheidung des Antrags – steht bereits die Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wegen Ausweisungsinteresses entgegen, da – wie der Beklagte zutreffend geltend macht – kein Ausnahmefall vorliegt; ebenso steht die Erteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen.
1. Dem Klagebegehren steht die Nichterfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wegen eines Ausweisungsinteresses entgegen.
a) Im Fall des Klägers besteht mindestens ein generalpräventives Ausweisungsinteresse.
Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, weil der Kläger vorsätzliche und nicht geringfügige Straftaten begangen hat und ein generalpräventives Interesse an der Ausweisung des Klägers besteht. Auch das neue Ausweisungsrecht lässt generalpräventive Ausweisungen zu (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 15 ff., 20 m.w.N.; so auch BayVGH, B.v. 20.8.2018 – 10 C 18.1361 – juris Rn. 13).
Das Ausweisungsinteresse wiegt vorliegend nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG schwer, weil der Kläger keinen vereinzelten und auch keinen nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Der Kläger ist u.a. vorbestraft wegen unerlaubten Aufenthalts in Tateinheit mit unerlaubtem passlosen Aufenthalt (Amtsgericht, Strafbefehl vom 13.7.2017 – *: Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu 10,00 €) sowie wegen Diebstahls (Amtsgericht, Strafbefehl vom 6.3.2019 – *: Geldstrafe von 65 Tagessätzen zu 10,00 €), also zweier Vorsatzdelikte von nicht unerheblichem Gewicht. Insbesondere der jahrelange passlose Aufenthalt nach gezielter Passvernichtung wiegt wegen des darin enthaltenen dauerhaften Rechtsverstoßes schwer.
b) Die Ausweisung wäre auch konkret geeignet, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten, namentlich von langjährigen Verletzungen der Passpflicht, abzuhalten:
Die Ausweisung führt zum Verlust etwaiger Aufenthaltstitel (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), hindert in der Regel die Erteilung eines Aufenthaltstitels insbesondere auch für abgelehnte Asylbewerber (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), beendet oder verhindert damit einen erlaubten Aufenthalt in der Bundesrepublik und begründet demnach eine Ausreisepflicht des Ausländers. Des Weiteren wird bei einer fehlenden freiwilligen Ausreise besonders die Abschiebung von ausgewiesenen Straftätern forciert und eine bestandskräftige Ausweisung fällt bei etwaigen behördlichen Ermessensentscheidungen, beispielsweise bei der Prüfung einer Beschäftigungserlaubnis im Rahmen einer Duldung, regelmäßig als erheblicher, negativer Gesichtspunkt ins Gewicht. In Anbetracht dieser erheblichen Konsequenzen, die weit über eine strafrechtliche Verurteilung hinausgehen, erscheint eine drohende Ausweisung als geeignet, andere Ausländer von der Begehung von gleichartigen Delikten abzuhalten ungeachtet der Frage, ob der Beklagte den Kläger auch tatsächlich ausweist.
c) Das generalpräventive Ausweisungsinteresse wegen Verletzung der Passpflicht, Leistungserschleichung und Diebstahls ist noch aktuell.
Das generalpräventive Ausweisungsinteresse muss noch aktuell sein. Dabei ist zu berücksichtigten, dass jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung verliert und ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr herangezogen werden kann. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Diese verfolgen zwar einen anderen Zweck, geben dem mit zunehmendem Zeitabstand eintretenden Bedeutungsverlust staatlicher Reaktionen (die an Straftaten anknüpfen) aber einen zeitlichen Rahmen, der nicht nur bei repressiven Strafverfolgungsmaßnahmen, sondern auch bei der Bewertung des generalpräventiven Ausweisungsinteresses herangezogen werden kann. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG zudem eine absolute Obergrenze, weil nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nach § 51 BZRG nicht mehr vorgehalten werden dürfen (BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 22 ff. m.w.N.).
Unerlaubter Aufenthalt in Tateinheit mit unerlaubten passlosen Aufenthalts wird nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG mit Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr bestraft. Nach § 78 Abs. 3 Nr. 5, Abs. 4 StGB beträgt die Verjährungsfrist daher drei Jahre, wobei die Verjährung nach § 78a Satz 1 StGB am Tag der Tatbeendigung beginnt, hier also am 11. Oktober 2018 mit Vorlage des Reisepasses; sie endet am 10. Oktober 2021. Diebstahl wird nach § 242 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft. Nach § 78 Abs. 3 Nr. 4, Abs. 4 StGB beträgt die Verjährungsfrist daher fünf Jahre, wobei die Verjährung nach § 78a Satz 1 StGB am Tag der Tatbeendigung beginnt, hier also am 18. Oktober 2018; sie endet am 17. Oktober 2023. Ob sich die Verjährung wegen etwaiger Unterbrechungen (vgl. § 78c Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StGB) verlängert, kann mangels Entscheidungserheblichkeit offenbleiben. Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt ist jedenfalls noch keine Verjährung eingetreten und damit noch nicht einmal die Untergrenze eines etwaigen Bedeutungsverlustes erreicht. Erst recht liegt die Obergrenze von zehn Jahren in weiter Ferne. Nach § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB beträgt die absolute Verjährungsfrist zehn Jahre, hier (frühestens) der 10. bzw. 17. Oktober 2028. Die Straftaten des Klägers sind auch noch nicht aus dem Bundeszentralregister getilgt bzw. nach § 51 Abs. 1 BZRG zu tilgen. Die zehnjährige Tilgungsfrist nach § 46 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a BZRG ist offensichtlich noch nicht abgelaufen. Ein aktueller Ausweisungsanlass besteht daher noch.
Ob sich die Kindesmutter und der Kläger trotz des Diebstahls wieder versöhnt haben, mindert nicht das öffentliche Straf- und Ausweisungsinteresse, erst recht nicht wegen des langjährigen passlosen Aufenthalts.
d) Ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung ist nicht ersichtlich.
Es ist auch bei entsprechender Gewichtung der persönlichen Belange des Klägers nicht ersichtlich, dass ein Abweichen von der Regelversagung gerechtfertigt wäre. Ein Ausnahmefall ist nur dann gegeben, wenn ein atypischer Geschehensablauf vorliegt, der so bedeutsam ist, dass er das jedenfalls sonst ausschlaggebende Gewicht des gesetzlichen Regelversagungsgrundes beseitigt. Es muss sich um eine Abweichung handeln, die die Anwendung des Regelfalls nach Sinn und Zweck als derart unverhältnismäßig erscheinen lässt, dass es unzumutbar wäre, an ihr festzuhalten (BayVGH, U.v. 9.12.2015 – 19 B 15.1066 – juris Rn. 35 m.w.N.). Dies ist hier nicht der Fall. Im Gegenteil liegt beim Kläger angesichts der langjährigen hartnäckigen Ausreiseverweigerung und Passlosigkeit – der Kläger hatte seinen Reisepass nach Ankunft im Bundesgebiet zerrissen, offenbar um seine Identifizierung und Rückführung im Fall einer Erfolglosigkeit seines Asylverfahrens unmöglich zu machen und sich danach auch jahrelang keinen Reisepass beschafft – ein Sachverhalt vor, der die Anwendung des Regelfalls gerade nahelegt. Dies gilt umso mehr, als die Verletzung der Ausreise- und Passpflicht ein Massenphänomen ist (zum Stichtag 31.12.2019 hatten 83.465 ausreisepflichtige Ausländer in Deutschland eine Duldung allein wegen fehlender Reisedokumente, vgl. BT-Drs. 19/19333 S. 29).
Etwas Anderes ergibt sich vorliegend auch nicht aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Art. 6 GG ist hier nicht verletzt, weil der Beklagte die familiäre Lebensgemeinschaft des Klägers mit seinem Kind bereits über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG sichert, für deren Erteilung er nach § 5 Abs. 3 Satz 3 AufenthG von der Anwendung der Regelerteilungsvoraussetzung abgesehen hat, während sie einer Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG entgegensteht (siehe oben). Dies gilt auch für sein Recht aus Art. 8 EMRK auf Achtung seines Familien- und Privatlebens.
Der Beklagte hat auch zu Recht nicht im Ermessenswege vom Erfordernis der Regelerteilungsvoraussetzung abgesehen (§ 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG), weil diese Absehensbefugnis auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG unanwendbar ist.
2. Dem Klagebegehren steht auch die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen, denn der Asylantrag des Klägers wurde mit dem bestandskräftigen Bescheid des Bundesamts vom 6. Januar 2016 abgelehnt.
Es liegt keine Ausnahme von der Titelerteilungssperre vor. Die Ausnahme nach § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG wegen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist nicht erfüllt, da hierfür ein strikter Anspruch erforderlich ist (vgl. BVerwG, U.v. 16.12.2008 – 1 C-37/07 – juris Rn. 21), dem jedoch die Nichterfüllung der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG durch den Kläger entgegensteht.
Hiernach sind die Erfolgsaussichten für die Klage nicht mehr offen und es ist Prozesskostenhilfe zu versagen. Es kommt nicht mehr darauf an, ob der Kläger leistungsfähig und deswegen nicht bedürftig im Sinne der Prozesskostenhilfe ist.


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