Verwaltungsrecht

Verfahrenseinstellung auf Grund fiktiver Antragsrücknahme – Untertauchen

Aktenzeichen  M 9 K 17.39625

Datum:
26.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 4700
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 32 S. 1, § 33 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 2, Abs. 5, § 66
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
RL 2013/32/EU Art. 28 Abs. 1 UAbs. 2 lit. b) Alt. 2

 

Leitsatz

1 Eine Verfahrenseinstellung gemäß § 33 Abs. 2 S. 2 AsylG ist erst dann zulässig, wenn das Bundesamt selbst auf ausreichender tatsächlicher Grundlage davon ausgehen darf, dass der Kläger unter der dem Bundesamt gegenüber angegebenen Adresse nicht erreichbar ist und diesen Umstand nicht einfach „ins Blaue hinein“ annimmt. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Begriff „untergetaucht“ umfasst mehr als den bloßen Umstand, dass die aktuelle Adresse nicht mitgeteilt wird, nämlich darüber hinaus, dass der Kläger seinen Aufenthaltsort ohne behördliche Gestattung verlassen und nicht innerhalb einer angemessenen Frist die zuständige Behörde kontaktiert bzw. seinen Melde- und anderen Mitteilungspflichten nicht innerhalb einer angemessenen Frist nachgekommen ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3 Für die Annahme eines Untertauchens reicht nicht eine Mitteilung der Ausländerbehörde, dass der Kläger unter seiner Adresse nicht erreichbar ist, wenn daraus nicht hervorgeht, worauf die mitgeteilte Erkenntnis beruht – beispielsweise auf erfolglosen Zustellversuchen o.ä. –, so dass die tatsächliche Grundlage nicht nachvollziehbar ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
4 Wenn die Ausländerbehörde mitteilt, dass sie gemäß § 66 AsylG eine Aufenthaltsermittlung durchführt, darf das Bundesamt diese Mitteilung nicht zum Anlass nehmen, das Verfahren sofort einzustellen, ohne das Ergebnis der Aufenthaltsermittlung abzuwarten. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Mai 2017 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.
Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen, weil sich die Beteiligten damit individuell einverstanden erklärt haben (die Klägerseite) bzw. ein entsprechendes generelles Einverständnis vorliegt (auf Beklagtenseite sowie von der Vertretung des öffentlichen Interesses), § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Klage ist zulässig. Sie ist fristgerecht erhoben, außerdem fehlt es nicht am Rechtsschutzbedürfnis. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die Möglichkeit, gemäß § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen, das Rechtsschutzbedürfnis für den Angriff auf die Einstellung des Verfahrens wegen fingierter Antragsrücknahme nicht entfallen lässt (BVerfG, B.v. 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8).
Der Antrag ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Feststellung des Bundesamts, dass der Asylantrag als zurückgenommen gilt und das Asylverfahren eingestellt sei, ist rechtswidrig.
§§ 32 Satz 1, 33 Abs. 5 Satz 1 AsylG bestimmen, dass das Bundesamt im Falle der Rücknahme des Antrags feststellt, dass das Asylverfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt. Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer das Verfahren nicht betreibt. Letzteres wird gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG vermutet, wenn der Ausländer untergetaucht ist.
Unabhängig von der Möglichkeit, diese Vermutung gemäß § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG zu widerlegen, liegen hier bereits die Voraussetzungen nicht vor. Das Bundesamt konnte mangels tatsächlicher Grundlage hierfür nicht davon ausgehen, dass der Kläger untergetaucht ist im Sinne der Vorschrift.
Ein Asylantragsteller gilt als untergetaucht, wenn er für die Behörden nicht auffindbar ist. Dieser Sachverhalt ist in der Akte zu dokumentieren (BT-DrS 18/7538, Seite 17). Daraus folgt, dass die Verfahrenseinstellung erst dann zulässig ist, wenn das Bundesamt versucht hat, den Aufenthaltsort des Klägers zu ermitteln (Marx, AsylG, 9. Auflage 2017, § 33 Rn. 14). Danach (Marx a.a.O.) könne von einem Untertauchen nicht schon ausgegangen werden, wenn die Adresse des Klägers unbekannt ist, vielmehr habe die Behörde zunächst im Rahmen des ihr zumutbaren und möglichen den Versuch zu unternehmen, den Aufenthaltsort des Klägers zu ermitteln.
Ob die dargestellte Auffassung in Gänze richtig ist, kann hier dahinstehen. Denn mindestens ist wegen der einschneidenden Rechtsfolge zu verlangen, dass das Bundesamt selbst auf ausreichender tatsächlicher Grundlage davon ausgehen darf bzw. durfte, dass der Kläger unter der dem Bundesamt gegenüber angegebenen Adresse nicht erreichbar ist und diesen Umstand nicht einfach „ins Blaue hinein“ annimmt; dazu kommt dann noch, dass „untergetaucht“ begrifflich mehr umfasst als den bloßen Umstand, dass die aktuelle Adresse nicht mitgeteilt wird, nämlich darüber hinaus, dass der Kläger seinen Aufenthaltsort ohne behördliche Gestattung verlassen und nicht innerhalb einer angemessenen Frist die zuständige Behörde kontaktiert bzw. seinen Melde- und anderen Mitteilungspflichten nicht innerhalb einer angemessenen Frist nachgekommen ist (vgl. Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 2 lit. b) Var. 2 RL 2013/32/EU).
Hier fehlt es jedoch bereits daran, dass Umstände vorliegen, die in tatsächlicher Hinsicht den Schluss zulassen, dass der Kläger unter seiner Adresse nicht erreichbar ist. Der einzige Umstand, auf den sich das Bundesamt insofern beruft, ist die Mitteilung der zuständigen Ausländerbehörde vom 20. April 2017. Aus dieser Mitteilung geht aber nicht hervor, worauf die mitgeteilte Erkenntnis beruht – beispielsweise auf erfolglosen Zustellversuchen o.ä. –, so dass die tatsächliche Grundlage nicht nachvollziehbar ist; für das Bundesamt hätte sich insofern die Frage aufdrängen müssen, warum – wie aus der Akte ersichtlich – alle bis zu diesem Zeitpunkt erfolgten eigenen Zustellungen an den Kläger unter derselben Adresse erfolgreich waren (übrigens auch die danach, insbesondere hat der Kläger vom streitgegenständlichen Bescheid, der ebenfalls unter derselben Adresse zugestellt wurde, so rechtzeitig Kenntnis erlangt, dass er die Rechtsbehelfsfristen wahren konnte), dieselbe Adresse nun aber plötzlich nicht mehr richtig sein soll. Vor allem aber rechtfertigt nicht einmal der Inhalt der Mitteilung der Ausländerbehörde vom 20. April 2017 den Schluss auf das Untertauchen des Klägers. Denn die Ausländerbehörde teilt gerade mit, dass sie gemäß § 66 AsylG eine Aufenthaltsermittlung durchführt. Dann darf aber das Bundesamt die Mitteilung nicht zum Anlass nehmen, das Verfahren sofort einzustellen, ohne das Ergebnis der Aufenthaltsermittlung abzuwarten, weil erst dann feststeht, ob der Kläger wirklich untergetaucht ist bzw. als untergetaucht zu gelten hat i.S.v. § 32 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG.
Da demnach der Tatbestand des § 32 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG bereits nicht gegeben ist, kommt es nicht mehr darauf an, dass die Verfahrenseinstellung auf Grund fiktiver Antragsrücknahme auch deswegen rechtswidrig wäre, weil den Anforderungen an die Belehrung über die Rücknahmefiktion wegen Nichtbetreiben des Verfahrens gemäß § 33 Abs. 4 AsylG nicht genügt ist. Das gilt zumindest dann, wenn man der hierzu ergangenen Rechtsprechung folgt, welche die Anforderungen sehr hoch ansetzt, insbesondere den allgemeinen Hinweis auf die Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung in der Belehrung für Erstantragsteller über Mitwirkungspflichten und Allgemeine Verfahrenshinweise nicht genügen lässt (vgl. z.B. VG München, B.v. 21.7.2017 – M 21 S 17.35568 – juris Rn. 26; B.v. 8.3.2017 – M 21 S 16.32737 – juris Rn. 24, beide m.w.N., u.a. auf Berlit, NVwZ – Extra 4/2017, S. 9). Hier findet sich in den vorgelegten Akten nur diese allgemeine Belehrung, aber keine spezielle mehr, so dass der Bescheid auch aus diesem Grund rechtswidrig wäre.
Im Übrigen wird auf den im zugehörigen Antragsverfahren ergangenen Beschluss vom 8. August 2017 (Az. M 9 S 17.39626) Bezug genommen. Auf entsprechende Aufforderung des Gerichts hat das Bundesamt mit Schreiben vom 20. September 2017 lediglich mitgeteilt, an dem streitgegenständlichen Bescheid festhalten zu wollen, es aber nicht für nötig befunden, hierfür eine Begründung abzugeben noch sich mit dem Beschluss des Gerichts auseinander zu setzen.
Nach alledem wird der angefochtene Bescheid aufgehoben. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708ff. ZPO.


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