Verwaltungsrecht

Verhältnis von Familiennachzugsvorschriften und humanitärer Aufenthaltserlaubnis

Aktenzeichen  M 12 K 16.2271

Datum:
24.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 10 Abs. 3, § 25 Abs. 5 S. 1, § 36 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

Nach der Systematik des AufenthG muss man annehmen, dass die Regelungen über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen grundsätzlich nicht den Zweck haben, der Sache nach einen Familiennachzug (auch) in den Fällen zu ermöglichen, in denen der Ausländer die tatbestandlichen Voraussetzungen der für ihn einschlägigen Familiennachzugsvorschrift nicht (vollständig) erfüllt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, § 113 Abs. 5 VwGO.
Es besteht kein Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG. Nach § 25 Abs. 5 AufenthG darf einem vollziehbar ausreisepflichtigten Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse nicht in absehbarer Zeit zu rechnen ist.
Hinsichtlich der tatbestandlichen Reichweite des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG ist zunächst von Bedeutung, dass das AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu dem vom Kläger letztlich verfolgten Aufenthaltszweck in Abschnitt 6 des Kapitels 2 regelt. Nach der Systematik des AufenthG muss man annehmen, dass die Regelungen über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen grundsätzlich nicht den Zweck haben, der Sache nach einen Familiennachzug (auch) in den Fällen zu ermöglichen, in denen der Ausländer die tatbestandlichen Voraussetzungen der für ihn einschlägigen Familiennachzugsvorschrift nicht (vollständig) erfüllt.
Ein solcher Fall liegt hier vor. Für den Kläger wäre § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG einschlägig (Nachzug eines volljährigen Kindes), er erfüllt jedoch bereits die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis nicht. Denn als abgelehntem Asylbewerber kann ihm vor der Ausreise eine Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich nur nach den Vorschriften des Abschnitts 5 des Kapitels 2 des AufenthG erteilt werden (§ 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Eine Ausnahme würde nur im Falle eines Anspruchs auf Erteilung gelten (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG), wobei in der Rechtsprechung des BVerwG geklärt ist, dass es sich insoweit um einen strikten Rechtsanspruch handeln muss, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt, während ein Anspruch aufgrund einer Ermessensvorschrift auch dann nicht genügt, wenn das Ermessen im Einzelfall „auf Null“ reduziert ist (BVerwG v. 16.12.2008 – 1 C 37.07). Einen solchen Rechtsanspruch vermittelt § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG dem Kläger nicht. Es mag zwar zweifelhaft sein, ob § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wofür zwar der Wortlaut spricht („kann“), tatsächlich eine Ermessensvorschrift ist. Denn der Behörde bleibt bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen praktisch kein Spielraum, wenn man die bisherige Rechtsprechung des BVerwG zum Tatbestandsmerkmal der außergewöhnlichen Härte zugrunde legt (vgl. BVerwG v. 27.01.2009 – 1 C 40.07: „Ablehnung der Erlaubnis schlechthin unvertretbar“). Jedenfalls fehlt es im vorliegenden Fall aber an der allgemeinen Voraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Um eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36 AufenthG zu erhalten, muss der Kläger grundsätzlich ein Visumverfahren durchführen. § 5 Abs. 3 AufenthG gilt für eine solche Aufenthaltserlaubnis nicht. Auch ist der Kläger nicht nach § 39 AufenthV befreit. Somit kommt in seinem Fall hinsichtlich § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nur eine Befreiung nach Ermessen in Betracht (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), so dass ein strikter Rechtsanspruch im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG nicht vorliegt. Eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug könnte der Kläger daher von vornherein nur nach Ausreise und anschließender Durchführung eines Visumverfahrens erlangen.
b) Dieses Ergebnis würde in gewisser Weise umgangen, wenn man in Fällen der vorliegenden Art § 25 Abs. 5 AufenthG gleichwohl für anwendbar hält. Die Kammer lässt offen, ob die Anwendung des § 25 Abs. 5 AufenthG schon aus diesem Grund scheitern muss. Offen kann auch bleiben, ob man der Sonderregelung in § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG – volljährige Kinder von Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG werden dort nicht genannt -, im Umkehrschluss entnehmen muss, dass für die vorliegende Fallgestaltung nach der Intention des Gesetzgebers eine Aufenthaltserlaubnis von vornherein, d. h. auch nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, gänzlich ausscheidet. Auch darauf kommt es nicht an.
c) Denn es liegen die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht vor. Es besteht ein Ausweisungsinteresse, § 5 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 54 Abs. 2 Nr.1 a AufenthG, § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Eine hypothetische Ausweisungsprüfung erfolgt nicht. Trotz des unterschiedlichen Gewichts der in § 54 AufenthG genannten Ausweisungsinteressen wird für die Erteilungsvoraussetzung nicht weiter unterschieden oder gar eine Ausweisungsabwägung gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG getroffen. Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist in der Regel‚ dass kein Ausweisungstatbestand vorliegt, der gegenwärtig tatsächlich besteht und rechtlich noch verwertbar ist. Die Prüfung von Ausweisungsinteressen bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dient dem Zweck, aktuell zu befürchtende Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstiger erheblicher Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG abzuwenden; je gewichtiger ein Ausweisungsinteresse ist, umso weniger strenge Voraussetzungen sind an die Prüfung des weiteren Vorliegens einer Gefährdung zu stellen. Nachdem es um die Erlaubnis künftigen Aufenthalts geht, ist nicht die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Vergangenheit von Bedeutung, sondern nur eine solche in Gegenwart und Zukunft. Unerheblich ist, ob ein Bleibeinteresse besteht oder völkerrechtliche Verbote einer Abschiebung trotz Vorliegens eines Ausweisungsinteresses entgegenstehen (vgl. OVG Hamburg, B. v. 7.9.1994 – Bs IV 164/94 – NVwZ-RR 1995, 544).
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom … Juni 2015 wurde der Kläger wegen zweifacher vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Monaten auf Bewährung verurteilt. Somit wurde der Kläger im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG wegen einer vorsätzlichen Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt und die Straftat wurde mit Gewalt begangen. Zudem liegt dadurch ein nicht nur vereinzelter oder geringfügiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften vor, § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG.
Unbeachtlich für die Beurteilung des Ausweisungsinteresses ist ein Rechtsverstoß nur dann, wenn er vereinzelt und geringfügig ist (BVerwG, U. v. 18.11.2004 – 1 C 23/03 – juris; Graßhof in Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, 11. Edition Stand: 15.08.2016, § 54 Rn. 117). Die Körperverletzung, welcher sich der Kläger nach dem Strafurteil aus dem Jahr 2015 schuldig gemacht hat, stellt bereits für sich eine nicht geringfügige Straftat im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG dar, so dass es auf einen Rückgriff auf ältere Straftaten des Klägers nicht ankommt. Als vorsätzlich begangene Straftat ist sie nicht mehr geringfügig (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2016, § 54 Rn. 145).
Ausreichende Gründe, welche die Straffälligkeit des Klägers als atypischen Sonderfall erscheinen lassen, wurden nicht vorgebracht und sind auch sonst nicht ersichtlich.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 5.000 festgesetzt (§ 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,– übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.


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