Verwaltungsrecht

Voraussetzungen der Zuerkennung der Eigenschaft als ipso facto-Flüchtling

Aktenzeichen  1 C 2/21, 1 C 2/21 (1 C 5/18)

Datum:
27.4.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:270421U1C2.21.0
Normen:
§ 3 Abs 3 S 1 AsylVfG 1992
§ 3 Abs 3 S 2 AsylVfG 1992
§ 3 Abs 1 AsylVfG 1992
§ 77 Abs 1 S 1 AsylVfG 1992
Art 46 Abs 3 EURL 32/2013
Art 12 Abs 1 Buchst a S 2 EURL 95/2011
Art 14 Abs 1 EURL 95/2011
Art 2 Buchst d EURL 95/2011
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

1. Einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft wird im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG Schutz oder Beistand im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG nicht länger gewährt, wenn sich auf der Grundlage einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände herausstellt, dass er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es dem UNRWA, um dessen Beistand er ersucht hat, unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der Aufgabe des UNRWA im Einklang stehen, so dass er sich aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig sind, dazu gezwungen sieht, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen.
2. Bei der Beurteilung der Frage, ob das Verlassen des Einsatzgebiets des UNRWA unfreiwillig erfolgt ist, ist in räumlicher Hinsicht auf das gesamte – die fünf Operationsgebiete Gazastreifen, Westjordanland (einschließlich Ost-Jerusalem), Jordanien, Libanon und Syrien umfassende – Einsatzgebiet des UNRWA abzustellen.
3. Einem freiwilligen Verzicht auf den von dem UNRWA gewährten Beistand kommt die Entscheidung eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft gleich, ein Operationsgebiet des UNRWA, in dem er sich nicht in einer sehr unsicheren Lage befindet und in dem er den Schutz oder Beistand des Hilfswerks in Anspruch nehmen könnte, zu verlassen, um sich in ein anderes Operationsgebiet des Einsatzgebiets zu begeben, in dem er auf der Grundlage konkreter Informationen, über die er hinsichtlich dieses Operationsgebiets verfügt, vernünftigerweise weder damit rechnen kann, durch das UNRWA Schutz oder Beistand zu erfahren, noch in absehbarer Zeit in das Operationsgebiet, aus dem er ausgereist ist, zurückkehren zu können.
4. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf der Grundlage von § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG setzt – jedenfalls nach nationalem Asylverfahrensrecht – voraus, dass es dem Betroffenen auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung nicht möglich oder zumutbar ist, sich dem Schutz oder Beistand des UNRWA durch Rückkehr in eines der fünf Operationsgebiete des Einsatzgebiets dieser Organisation erneut zu unterstellen.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, 18. Dezember 2017, Az: 2 A 541/17, Urteilvorgehend Verwaltungsgericht des Saarlandes, 24. November 2016, Az: 3 K 1529/16, Urteil

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 18. Dezember 2017 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hier insbesondere als ipso facto-Flüchtling gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG.
2
Der eigenen Angaben zufolge im Oktober 1991 in Damaskus geborene Kläger ist staatenloser Palästinenser. Nach seinem Bekunden reiste er im Dezember 2015 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Anfang Februar 2016 stellte er einen Asylantrag. Im Rahmen seiner Anhörung führte er unter anderem aus, er habe sich im Oktober 2013 aus der Syrischen Arabischen Republik in die Libanesische Republik begeben und dort bis zum 20. November 2015 Gelegenheitsarbeiten verrichtet. Da er dort keine Aufenthaltsberechtigung erhalten habe und die libanesischen Sicherheitskräfte begonnen hätten, “sie” nach Syrien zurückzuschieben, sei er dorthin zurückgekehrt. Er habe Syrien aufgrund des Krieges verlassen; die dortigen Lebensverhältnisse seien sehr schlecht. Für den Fall einer Rückkehr nach Syrien befürchte er, verhaftet zu werden. Im August 2016 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zu; im Übrigen lehnte es dessen Asylantrag ab.
3
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Im Berufungsverfahren hat dieser neuerlich die bereits anlässlich seiner Anhörung bei dem Bundesamt vorgelegte Ablichtung eines Registrierungsnachweises des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, im Folgenden: UNRWA) eingereicht. Ausweislich der “Family Registration Card” wurde er als Familienangehöriger für (das im südlichen Teil von Damaskus belegene Lager) Jarmuk registriert.
4
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es bedürfe keiner Klärung, ob der Kläger aufgrund seines individuellen Vorbringens die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG beanspruchen könne. Denn als staatenloser palästinensischer Volkszugehöriger sei er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG. Er habe sich bei seiner Ausreise aus Syrien in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befunden. Seine Ausreise sei durch von seinem Willen unabhängige Zwänge veranlasst gewesen und daher nicht freiwillig erfolgt. Dies indiziere auch die Zuerkennung subsidiären Schutzes. Im Zeitpunkt seiner Ausreise habe ihm auch keine Möglichkeit offengestanden, den Schutz des UNRWA in anderen Teilen des Einsatzgebiets in Anspruch zu nehmen. Jordanien und der Libanon hätten bereits vor seiner Ausreise ihre Grenzen für in Syrien aufhältige palästinensische Flüchtlinge geschlossen.
5
Zur Begründung ihrer Revision hat die Beklagte geltend gemacht, das Berufungsgericht habe den Regelungsbereich des § 3 Abs. 3 AsylG fehlerhaft bestimmt sowie seine Sachaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO und den Überzeugungsgrundsatz nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt.
6
Auf den Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Mai 2019 hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 13. Januar 2021 – C-507/19 – entschieden, dass Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 RL 2011/95/EU dahin auszulegen ist, dass 1. zur Feststellung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, im Rahmen einer individuellen Beurteilung aller maßgeblichen Umstände des fraglichen Sachverhalts alle Operationsgebiete des Einsatzgebiets des UNRWA zu berücksichtigen sind, in deren Gebiete ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, der dieses Einsatzgebiet verlassen hat, eine konkrete Möglichkeit hat, einzureisen und sich dort in Sicherheit aufzuhalten, und 2. nicht angenommen werden kann, dass der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährt wird, wenn ein Staatenloser palästinensischer Herkunft das Einsatzgebiet des UNRWA ausgehend von einem Operationsgebiet dieses Einsatzgebiets, in dem er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befunden hat und in dem das UNRWA nicht imstande war, ihm seinen Schutz oder Beistand zu gewähren, verlassen hat, sofern er sich zum einen aus einem anderen Operationsgebiet dieses Einsatzgebiets, in dem er sich nicht in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befunden hatte und in dem er den Schutz oder Beistand des UNRWA hatte in Anspruch nehmen können, freiwillig in dieses Operationsgebiet begeben hat und sofern er zum anderen auf der Grundlage ihm vorliegender konkreter Informationen vernünftigerweise nicht damit rechnen konnte, in dem Operationsgebiet, in das er eingereist ist, durch das UNRWA Schutz oder Beistand zu erfahren oder in absehbarer Zeit in das Operationsgebiet, aus dem er ausgereist ist, zurückkehren zu können, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
7
Die Beklagte trägt im fortgesetzten Revisionsverfahren vor, weder sei evident, dass der Kläger im Zeitpunkt seiner geschilderten Ausreise aus dem Libanon tatsächlich gezwungen gewesen sei, diesen zu verlassen, noch sei offenkundig, dass Gleiches in Bezug auf das gesamte Einsatzgebiet des UNRWA anzunehmen gewesen sei. Ebenso wenig liege es nahe, dass dem Kläger vor der geschilderten Rückkehr nach Syrien nicht bewusst gewesen sei, dass er weder dort durch das UNRWA Schutz oder Beistand erfahren noch berechtigt sein würde, in absehbarer Zeit in den Libanon zurückzukehren.
8
Der Kläger trägt vor, unter Berücksichtigung seiner individuellen Umstände werde davon auszugehen sein, dass er im Zeitpunkt des Verlassens des Einsatzgebiets des UNRWA keinen Schutz oder Beistand in einem anderen Operationsgebiet des Hilfswerks gehabt habe. Im Libanon sei sein Aufenthalt im Herbst 2013 für eine Woche gestattet worden. Hiernach habe er sich dort illegal aufgehalten. Im April 2014 sei es ihm gelungen, erneut eine auf die Dauer von drei Monaten befristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Sein hiernach gestellter Antrag auf Verlängerung der Erlaubnis sei abgelehnt und ihm sei die Abschiebung angedroht worden. Fortan habe er sich wieder rechtswidrig und stetig in der Sorge, abgeschoben zu werden, im Libanon aufgehalten. Schließlich sei er nach Syrien zurückgekehrt, um von dort aus das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen.
9
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat mitgeteilt, sich an dem Verfahren nicht zu beteiligen.


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