Verwaltungsrecht

Voraussetzungen eines Zweitantrages

Aktenzeichen  M 23 S 16.34213

Datum:
30.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 36 Abs. 4 S. 1, § 71a Abs. 4

 

Leitsatz

§ 71a AsylG setzt den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat voraus, d.h., der durch rechtskräftige Sachentscheidung vorangegangene negative Ausgang eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat muss festgestellt werden und feststehen, bloße Mutmaßungen genügen nicht. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. Oktober 2016 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) angedrohte Abschiebung nach Pakistan.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge pakistanischer Staatsangehöriger, punjabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben im September 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 1. April 2016 bei dem Bundesamt einen Asylantrag.
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am 1. April 2016 zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gab der Antragsteller an, dass ihm in Ungarn Fingerabdrücke abgenommen worden seien; einen Asylantrag habe er dort nicht gestellt. Identische Angaben machte der Antragsteller bei seiner Erstbefragung durch die Regierung von Oberbayern am 8. Oktober 2015, bei seiner Anhörung durch das Bundesamt gemäß § 25 AsylG am 29. August 2016, sowie nochmals am 29. August 2016 bei einer Zweitbefragung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Hinsichtlich der weiteren Angaben des Antragstellers wird auf die jeweiligen Niederschriften zur Anhörung verwiesen.
In der vorgelegten Behördenakte befindet sich kein Nachweis für einen Eurodac-Treffer.
Das Wiederaufnahmeersuchen der Antragsgegnerin vom 1. Juli 2016 an Ungarn mit Nennung eines Eurodac-Treffers der Kategorie 2 für Ungarn wurde von den ungarischen Behörden mit Schreiben vom 13. Juni 2016 wegen Fristablaufs abgelehnt. Das Asylverfahren sei am 16. Dezember 2015 nach der Ausreise des Antragstellers ohne Entscheidung in der Sache eingestellt worden.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 20. Oktober 2016, zugestellt am 25. Oktober 2016, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziff. 1 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2 des Bescheids). Der Antragsteller wurde unter Androhung der Abschiebung nach Pakistan aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Ziff. 3 des Bescheids). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 4 des Bescheids).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es sich bei dem Antrag des Antragstellers um einen Zweitantrag nach § 71a AsylG handle. Der Antragsteller habe in Ungarn einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Ungarn habe mitgeteilt, dass das Verfahren eingestellt worden sei. Der Antragsteller habe in Ungarn die Gelegenheit gehabt, alle Fakten und Ereignisse zu schildern, die eine Furcht vor Verfolgung begründen. Der Antragsteller sei seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen. Wiederaufgreifensgründe lägen nicht vor. Es habe sich weder die Sach-, noch die Rechtslage geändert. Auch konkrete individuelle Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG seien in Bezug auf das Heimatland nicht vorgetragen oder ersichtlich. Ergänzend wird auf die Begründung im Bescheid verwiesen.
Der Antragsteller erhob am 14. November 2016 zur Niederschrift Klage und beantragte, den Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Flüchtling anzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutzstatus zu gewähren und weiter hilfsweise nationalen Abschiebeschutz festzustellen (Verfahren M 23 K 16. 34212).
Zudem beantragte er, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Ergänzend wurde für beide Verfahren die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand beantragt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass er am 4. November 2016 einen Rechtsanwalt mit der Klageerhebung beauftragt und hierfür auch eine Vorschuss bezahlt habe, dieser habe jedoch keine rechtlichen Schritte eingeleitet. Zum Beleg wurde eine entsprechende Quittung über einen „Vorschuss Klage Asyl“ vorgelegt. Zur Sache führte der Antragsteller aus, dass er in Ungarn keinen Asylantrag gestellt habe.
Am 16. November 2016 legte das Bundesamt die Behördenakten elektronisch vor; eine Antragstellung unterblieb.
Mit Schreiben vom 17. November 2016 bestellte sich der jetzige Bevollmächtigte und führte sowohl zur Wiedereinsetzung als auch zur Begründetheit von Klage und Eilantrag aus. Mit Schreiben vom 2. Dezember 2016 ergänzte der Bevollmächtigte die Ausführungen zum Wiedereinsetzungsantrag umfangreich und legte eine eidesstaatliche Versicherung eines Betreuers des Antragstellers über die Mandatierung des vorherigen Bevollmächtigten vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte im Hauptsacheverfahren (M 23 K 16.34212) sowie auf die Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat Erfolg.
Der Antrag ist zulässig, soweit damit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 75 i.V.m. §§ 71a Abs. 4, 36 AsylG) sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids erreicht werden soll.
Die Antragstellung erfolgte zwar nicht fristgerechnet innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Wochenfrist des § 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG. Dieser Fristlauf wurde jedoch mangels ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung:gemäß § 36 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht in Gang gesetzt, vgl. § 36 Abs. 3 Satz 3 AsylG i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO.
Zwar wurde die Klage auch nicht innerhalb der in der Rechtsbehelfsbelehrung:benannten Zwei-Wochen-Frist erhoben, auch diese Fristsetzung ist jedoch fehlerhaft. Denn die Klagefrist von zwei Wochen gilt nach § 74 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht in den Fällen, in denen ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO innerhalb einer Woche zu erheben ist. Ein solcher Fall liegt hier vor, es ist insoweit auf die gesetzlich vorgeschrieben Fristen abzustellen. Die gesetzliche Klagefrist beträgt daher ebenfalls nur eine Woche, § 74 Abs. 1 Satz 1, 2.HS AsylG. Das Bundesverwaltungsgericht hat bisher offen gelassen, ob bei der fehlerhaften Nennung einer längeren Klagefrist die Rechtsfolge des § 58 Abs. 2 VwGO eintritt oder ob sich der Kläger an der in der Rechtsmittelbelehrunggenannten Frist festhalten lassen muss (vgl. BVerwG, U.v. 10.2.1999 – 11 C 9/97 – juris Rn. 10). Zumindest im vorliegenden Fall erscheint die Rechtsbehelfsbelehrung:jedoch insbesondere im Zusammenhang mit der im Tenor verfügten einwöchigen Ausreisefrist (Nr. 3) darüber hinaus als irreführend, so dass von der Rechtsfolge des § 58 Abs. 2 VwGO und somit von der Jahresfrist auszugehen ist.
Da die Jahresfrist zweifelsfrei eingehalten wurde, war über den Antrag auf Wiedereinsetzung gemäß § 60 VwGO nicht mehr zu entscheiden. Das Gericht weist insoweit jedoch darauf hin, dass der Antragsteller sich das Verschulden seines Bevollmächtigten zurechnen lassen muss, § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO; dies gilt auch im Asylprozess (vgl. Schmidt in Eyermann, 13. Auflage, § 60 Rn. 14; BVerfG, B.v. 20.4.1982 – 2 BvL 26/81 – juris). Zumindest nach dem bisherigen Vortrag dürfte die Klageerhebung durch den damaligen Bevollmächtigten schuldhaft unterblieben sein.
Der Antrag ist auch begründet.
Gemäß §§ 71a Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Falle eines Zweitantrages, in dem ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Dies ist hier im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) der Fall.
Es bestehen ernstliche Zweifel, ob die von der Antragsgegnerin gewählte Vorgehensweise, den von dem Antragsteller im Bundesgebiet gestellten Antrag als unzulässigen Zweitantrag zu bewerten, rechtmäßig ist.
Nach § 71a Abs. 1 AsylG ist dann, wenn ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; andernfalls ist der Antrag als unzulässig zurückzuweisen, § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
§ 71a AsylG setzt damit den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat voraus (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 22ff; BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 24ff). Hierbei muss – entgegen der im streitgegenständlichen Bescheid ersichtlichen Auffassung der Antragsgegnerin – der vorangegangene negative Ausgang eines Asylverfahrens in einem Mitgliedstaat durch rechtskräftige Sachentscheidung festgestellt werden und feststehen; bloße Mutmaßungen genügen nicht (Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m.w.N.). Dies bedeutet, dass das Bundesamt zu der gesicherten Erkenntnis gelangen muss, dass das Asylerstverfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Sachentscheidung abgeschlossen wurde, um sich in der Folge auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken zu dürfen. Eine solche Prüfung beinhaltet unter anderem, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedsstaat hat (vgl. VG München B.v. 27.12.2016 – M 23 S. 16.33585 – juris; VG Regensburg, B.v.12.10.2016 – RN 7 S. 16.32477 – unveröffentlicht; VG Schleswig-Holstein, B.v. 7.9.2016 – 1 B 54/16 – juris Rn. 7 ff; VG Schwerin, U.v. 8.7.2016 – 15 A 190/15 – juris Rn. 18; VG Wiesbaden, B.v. 20.6.2016 – 5 L 511/16.WI.A – juris Rn. 20, BeckOK AuslR/Schönenbroicher, AsylG, § 71a Rn. 1f).
Der Antragsteller bestreitet eine Asylantragstellung in einem Drittstaat. In der vorgelegten Behördenakte ist kein Treffer dokumentiert, das Wiederaufnahmeersuchen nennt nur einen Eurodac-Treffer der Kategorie 2. Allerdings hatten die ungarischen Behörden mit Schreiben vom 4. Januar 2016 erklärt, dass das Asylverfahren des Antragstellers wegen dessen Ausreise beendet worden sei und sie den Antragsteller wegen Fristablaufs nicht mehr wiederaufnehmen würden. Die Erklärung der ungarischen Behörden dürfte dafür sprechen, dass in Ungarn wohl ein Asylantrag gestellt wurde. Dieses Asylverfahren wurde aber gerade noch nicht abschließend mit einer Sachentscheidung verbeschieden, sondern wäre wieder aufgenommen worden, sofern ein fristgerechtes Wiederaufnahmeersuchen gestellt worden wäre (vgl. ausführlich hierzu BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 25ff). Der Vorhalt der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller seine Asylgründe in Ungarn hätte geltend machen können verkennt den Sachverhalt daher ebenso wie der Vorwurf der mangelnden Mitwirkung des Antragstellers. Darüber hinaus ist der Antragsteller in der Regel nicht in der Lage über den Verfahrensablauf ausreichend Auskunft geben zu können (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 22).
Ein erfolgloser Abschluss des Asylverfahrens durch rechtskräftige Sachentscheidung in einem sicheren Drittstaat ist somit nicht nachgewiesen, so dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids bestehen. Darüber hinaus bestehen erhebliche Bedenken, ob das Asylverfahren in Ungarn nicht systemische Mängel aufweist (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 15.11.16 – 8 LB 92/15 – juris), die eine Berufung auf ein dortiges Asylverfahren bereits aus diesem Grund ausschließen.
Dem Antrag war daher unter der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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