Verwaltungsrecht

Vorläufiger Rechtsschutz gegen die drohende Überstellung nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens

Aktenzeichen  M 3 S 16.51079

Datum:
29.12.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 130185
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 113 Abs. 1 S. 1
AsylG § 34a Abs. 1, § 75

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. November 2016 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die ihm drohende Überstellung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller ist laut eigener Auskunft nigerianischer Staatsangehöriger und ebenfalls nach eigenen Angaben geboren am … 1985. Laut der Niederschrift über das persönliche Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am 7. Juli 2016 sei er über Niger, Libyen und Italien, wo er sich drei Wochen aufgehalten habe, am 28. November 2015 in das Bundesgebiet eingereist. Er stellte am 7. Juli 2016 einen Asylantrag.
Die EURODAC-Abfrage des Bundesamts ergab einen Treffer für Italien (IT…, E-Mail vom 30. November 2015, Bl. 7 der Behördenakte).
Auf ein Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin vom 7. September 2016 an Italien erfolgte keine Reaktion.
Mit Bescheid vom 11. November 2016, zugestellt am 17. November 2016, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen und ordnete die Abschiebung nach Italien an. Weiter wurde eine Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots ausgesprochen. Auf die Bescheidsbegründung wird Bezug genommen.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 19. November 2016, eingegangen am 20. November 2016, erhob der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. November 2016 (M 3 K 16.51078) und beantragte außerdem,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Bescheid sei bezüglich der Tenorierung in sich völlig widersprüchlich. Es könne nicht einerseits der Antrag als unzulässig abgelehnt werden und andererseits materiell entschieden werden, Abschiebungsverbote würden nicht vorliegen.
Das am 7. September 2016 an Italien gerichtete Übernahmeersuchen sei verspätet gewesen. Der Kläger habe einen subjektiv-öffentlichen Anspruch darauf, dass die formalen Vorschriften der Dublin III-VO eingehalten würden.
Vor einer Rückschiebung nach Italien sei eine konkrete Unterbringungsmöglichkeit zu fordern, da in Italien systembedingte Mängel im Aufnahmeverfahren bestünden; nur mittels dieses Abfrageverfahrens könne eine gründliche und individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person sichergestellt werden.
Die Antragsgegnerin legte die Verwaltungsakte vor und äußerte sich nicht weiter.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im zugehörigen Klageverfahren (M 3 K 16.51078) sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Der nach § 36 Abs. 3 Asylgesetz – AsylG – i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – zulässige Antrag ist begründet.
Weil die erhobene Klage von Gesetzes wegen aufgrund § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung entfaltet, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise anordnen, § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Ein gewichtiges Indiz sind dabei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Nach der demnach gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die Klage des Antragstellers aller Voraussicht nach erfolgreich sein wird. Denn der Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. November 2016 ist voraussichtlich rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Damit überwiegt das öffentliche Interesse an der Vollziehung das persönliche Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht.
Nach § 34a Abs. 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
Italien wäre eigentlich als erster Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Laut Eurodac-Treffer hat der Antragsteller dort Asyl beantragt. Aufgrund der fehlenden fristgerechten Reaktion Italiens auf das Wiederaufnahmegesuch wäre an sich nach Art. 25 Abs. 2 i.V.m. Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO die Stattgabefiktion eingetreten. Die Zuständigkeit Italiens ist aber aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen (Art. 23 Abs. 3 Dublin-III-VO). Das Bundesamt hat sein Wiederaufnahmegesuch tatsächlich nicht innerhalb der von Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO vorgesehenen, wegen der zugrunde liegenden Eurodac-Treffermeldung gemäß Art. 23 Abs. 2 Satz 1 hier 2-monatigen Frist an Italien gerichtet. Die aus dem vorgelegten Behördenvorgang hervorgehende Treffermeldung vom 28. November 2015 war nach dem Akteninhalt die erste und wohl einzige eingehende Treffermeldung (Bl. 7 der Bundesamtsakte). Das Wiederaufnahmegesuch stützt sich auch auf diese Eurodac-Treffermeldung, da auf diese in dem Formblatt Bezug genommen wird. Damit ist davon auszugehen, dass die Zwei-Monatsfrist in Ansehung des Wiederaufnahmegesuchs vom 7. September 2016 nicht eingehalten ist. Ob das Wiederaufnahmegesuch auf andere Beweismittel gestützt sein könnte, kann dahingestellt bleiben, da auch die für diesen Fall geltende Drei-Monatsfrist des Art. 23 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO nicht eingehalten wurde.
Darauf kann sich der Antragsteller in diesem Fall auch berufen. Das gilt jedenfalls dann, wenn wie hier auf Grund der fehlenden Reaktion die Stattgabefiktion gemäß Art. 25 Abs. 2 i.V.m. Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO eintreten würde. In Fällen, in denen die ausdrückliche Zustimmung des ersuchten Mitgliedstaats zur Aufnahme vorliegt, ist auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (noch zur Dublin II-Verordnung) davon auszugehen, dass die in den Dublin-Verordnungen geregelten Fristen für die Stellung eines Aufnahmeersuchens keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers begründen (BVerwG, U.v.27.10.2015 – 1 C 32/14 -, juris; vgl. auch ausführlich zu dieser Problematik VG Hannover, B.v.07.03.2016 – 1 B 6428/15 – juris). Jedenfalls bei einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Zuständigkeit des anderen Mitgliedstaats, hier Italien, fiktiv wegen der fehlenden Reaktion begründet würde, ist davon auszugehen, dass Italien den Antragsteller tatsächlich nicht übernimmt, zumindest steht es dann – im Gegensatz zu dem Fall einer ausdrücklichen Zusage – nicht fest, was ausreicht. Denn dann fehlt es daran, dass gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Wenn dies aber nicht feststeht, kann die Abschiebungsanordnung auf dieser Grundlage nicht rechtmäßig ergehen, was dann auch eine subjektive Rechtsverletzung begründet, wenn sie trotzdem verfügt wird.
Danach ist dem Antrag stattzugeben ohne dass es darauf ankommt, dass das Gericht davon ausgeht, dass das italienische Asylverfahren nicht an systemischen Mängeln leidet (vgl. VG München, B.v.27.12.2016 – M 3 S 16.51110).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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