Verwaltungsrecht

Widerlegung der Verfolgungsvermutung einer Bedrohung durch Familienangehörige

Aktenzeichen  M 18 K 17.48065

Datum:
29.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 41600
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, § 3, § 4, § 25, § 76 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5
VwGO § 92 Abs. 3, § 102 Abs. 2
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, Art. 15b
GFK Art. 33

 

Leitsatz

1. Die Verfolgungsvermutung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist durch das Bundesamt durch stichhaltige Gründe zu widerlegen.(Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine unmenschliche oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei einem existierenden Familienverband sind die Rückkehr- und Schutzalternativen gemeinsam zu beurteilen (vgl. insoweit auch BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632, BeckRS 2020, 38211). Bei eine Rückkehr einer Familie mit minderjährigen Kindern ist unter den in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen bereits unabhängig von einer zusätzlichen Verfolgungssituation eine Gefahrenlage anzunehmen, die zu einem ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führt (vgl. zuletzt BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632, BeckRS 2020, 38211) (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen wurde.
II. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 18. September 2017 wird in den Nummern 2 bis 5 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen.
III. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Soweit der Bevollmächtigte des Klägers die Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
Die Klage ist im Übrigen begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts erweist sich insoweit als rechtswidrig, war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiärer Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).
Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG gelten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz als anwendbar auch für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erklärt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – InfAuslR 1989, 349). Das Tatsachengericht darf dabei berücksichtigen, dass die Befragung von Asylbewerbern aus anderen Kulturkreisen mit erheblichen Problemen verbunden ist (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989, a.a.O.). Der Asylbewerber befindet sich typischerweise in Beweisnot. Er ist als „Zeuge in eigener Sache“ zumeist das einzige Beweismittel. Auf die Glaubhaftigkeit seiner Schilderung und die Glaubwürdigkeit seiner Person kommt es entscheidend an. Wer durch Vortrag eines Verfolgungsschicksals um Asyl nachsucht, ist in der Regel der deutschen Sprache nicht mächtig und deshalb auf die Hilfe eines Sprachmittlers angewiesen, um sich mit seinem Begehren verständlich zu machen. Zudem ist er in aller Regel mit den kulturellen und sozialen Gegebenheiten des Aufnahmelands, mit Behördenzuständigkeiten und Verfahrensabläufen sowie mit den sonstigen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, auf die er nunmehr achten soll, nicht vertraut. Es kommt hinzu, dass Asylbewerber, die alsbald nach ihrer Ankunft angehört werden, etwaige physische und psychische Auswirkungen einer Verfolgung und Flucht möglicherweise noch nicht überwunden haben, und dies ihre Fähigkeit zu einer überzeugenden Schilderung ihres Fluchtgrunds beeinträchtigen kann (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – NVwZ 1996, 678).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist das Gericht auf der Grundlage des Vortrags des Klägers davon überzeugt, dass er sein Herkunftsland aus begründete Furcht vor einer Verfolgung durch seine Stiefbrüder und den Taliban wegen eines Erbstreits verlassen hat und ihm im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland weiter ein ernsthafter Schaden im Sinne von Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch nicht staatliche Akteure droht.
Der Kläger hat sowohl bei der Anhörung vor dem Bundesamt als auch bei seiner umfangreichen informatorischen Anhörung vor Gericht übereinstimmend angegeben, dass er wegen eines Erbstreits von seinen drei älteren Stiefbrüdern bedroht wurde und diese hierzu auch auf die ihnen bekannten Taliban zurückgegriffen haben. Der sichtlich von seinen Erlebnissen psychisch und physisch gezeichnete Kläger konnte unter Berücksichtigung seines Herkommens und seines Bildungsstands diese Verfolgung glaubhaft darlegen. Der Kläger schilderte nach seinen Möglichkeiten sowohl die Bedrohungen und Erniedrigungen durch seine Stiefbrüder, die Entführung und Folterungen durch die Taliban als auch seine Freilassung glaubhaft und überwiegend detailreich. Auch die Angaben der Ehefrau des Klägers decken sich mit den Angaben des Klägers, soweit sie selbst hierzu Angaben machen konnte. Beide Aussagen erfolgten ohne Übertreibung und erkennbar um Ehrlichkeit bemüht. Dementsprechend ging auch das Bundesamt gemäß des vorliegenden Aktenvermerks und auch den Ausführungen im Bescheid insoweit von einer glaubhaften Schilderung aus. Soweit das Bundesamt im Folgenden die Wiederholungsgefahr mangels hinreichender Glaubhaftmachung durch den Kläger bestreitet, wird die Rechtslage verkannt. Denn nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden begründet ist, es sei denn stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Verfolgungsvermutung wurde vorliegend entgegen den Ausführungen des Bundesamtes nicht durch stichhaltige Gründe widerlegt (vgl. insoweit auch VGH Baden-Württemberg, U.v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17 – juris Rn. 69 ff.). Vielmehr wurde der Kläger im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt hierzu nicht explizit gefragt, da die Anhörende entsprechend ihrem Aktenvermerk eine Wiederholungsgefahr auf Grund des weiterhin bestehenden Erbstreits von sich aus bejahte. Die fehlenden Ausführungen des Klägers hierzu in der Anhörung können daher bereits nicht als unsubstantiiert zurückgewiesen werden. Lediglich die Vermutung des Bundesamtes, dass aufgrund der Zeitdauer eine weitere Bedrohung nicht wahrscheinlich erscheint, genügt für die Widerlegung der Verfolgungsvermutung nicht. Darüber hinaus konnte der Kläger im Rahmen der informatorischen Anhörung vor Gericht glaubhaft darlegen, dass die Verfolgungssituation durch seine Stiefbrüder, möglicherweise auch unter nochmaliger Einschaltung der Taliban, weiterhin unvermindert besteht. Der Erbstreit ist nicht beigelegt, die Dokumente des Klägers befinden sich weiterhin bei seiner Schwester im Iran in Verwahrung und die Stiefbrüder haben weiterhin ein Interesse daran, ihren Besitz gegenüber den Dorfbewohnern und dem Dorfvorstand zu dokumentieren. Schließlich ist dem Kläger auch nicht zuzumuten, auf seine grundrechtlich geschützte Eigentumsposition zu verzichten und sein Eigentum – und damit auch seine Existenzgrundlage – den Stiefbrüdern zu übergeben. Der Kläger kann nicht gezwungen werden, seine relevante Rechtsposition aufzugeben, um nunmehr unverfolgt zu sein.
Soweit der Bescheid des Bundesamts darüber hinaus ausführt, dass die Bedrohungen und Verletzungen des Klägers keine Folter seien, kann auch diese Argumentation nicht nachvollzogen werden. Weder ist für die Bejahung von Folter ausschließlich ein Leidens- oder Erniedrigungselement erforderlich, noch muss die Folter von Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder ähnlichen amtlichen Personen ausgeübt werden, wie sich bereits aus § 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG ausdrücklich ergibt. Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die Vorschrift der Umsetzung der RL 2011/95/EU dient, ist sie in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b RL 2011/95/EU auszulegen. Demnach ist unter einer unmenschlichen Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden, die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen, zu verstehen. Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen (vgl. VGH Baden-Württemberg, U.v. 12.12.2018 – A 11 S 1923/1, juris Rn. 23 ff. m.w.N.). Für das Gericht steht unzweifelhaft fest, dass die erheblichen Bedrohungen und umfangreichen Verletzungen des Klägers Folter bzw. eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG darstellen und dem Kläger bei einer Rückkehr auch weitere solcher Übergriffe drohen. Sowohl durch die Schilderung des Klägers über seine Erlebnisse während seiner Entführung als auch durch die vorgelegten ärztlichen Atteste, die entsprechende Verletzungen bestätigen, sowie den persönlichen Eindruck des Gerichts in der mündlichen Verhandlung erscheint sein Vortrag glaubhaft. Der Kläger konnte insoweit auch glaubhaft darlegen, dass er nachträglich von der Einschaltung der Taliban durch seine Brüder, welche erheblichen Einfluss und Macht haben, erfahren hat.
Dem Kläger steht auch kein staatlicher Schutz hiergegen zur Verfügung, § 3d AsylG i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG. Zwar hat der Kläger ausgeführt, dass seine Entführung durch die Einschaltung des Dorfvorstehers beendet werden konnte, dies bedeutet jedoch nicht, dass der Kläger auch zukünftig vor weiteren Übergriffen seiner Verfolger durch geschützt wäre. Verwaltung und Justiz sind in Afghanistan nur eingeschränkt wirkmächtig. Einflussnahme durch Verfahrensbeteiligte oder Unbeteiligte und Zahlung von Bestechungsgeldern verhindern Entscheidungen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in weiten Teilen des Justizsystems. Personen in Machtpositionen können sich auf der strafrechtlichen Verfolgung entziehen. Der Großteil der Bevölkerung hat unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen, sozialen oder religiösen Gruppe kein Vertrauen in die afghanischen Sicherheitskräfte und Justizorgane. Sie werden als korrupt und zum Teil auch gefährlich wahrgenommen, deshalb ihre Hilfe in Notfällen oft nicht in Anspruch genommen wird (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, im Folgenden: Lagebericht, Stand: Mai 2018, S. 12).
Ebenso wenig steht dem Kläger eine inländische Fluchtalternative, § 3e Abs. 1 AsylG i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG zur Verfügung. Demnach wird dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine Gefahr eines ernsthaften Schadens fürchten muss oder er Zugang zu Schutz hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, bedarf der Prüfung im Einzelfall unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ort des internen Schutzes) und subjektiver Umstände (etwa Alter, Geschlecht, familiärer und biographischer Hintergrund einschließlich einer ggf. bestehenden Vorverfolgungssituation, Gesundheitszustand, finanzielle Situation bezogen auf Vermögen und Erwerbsmöglichkeiten sowie Leistungen aus Hilfsangeboten für Rückkehrer, Fähigkeiten/Ausbildung/Berufserfahrung, das Vorhandensein von tragfähigen Beziehungen/Netzwerken am Ort des internen Schutzes, Kenntnisse zumindest einer der am Ort des internen Schutzes gesprochenen Sprache, sowie ggf. auch die Volkszugehörigkeit u.a.). Bei dieser Beurteilung ist neben der Sicherheit vor flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung bzw. vergleichbaren Bedrohungen auch der Umstand von Bedeutung, ob bzw. inwieweit jenseits dessen am Ort des internen Schutzes die Existenzsicherung des Betroffenen gewährleistet ist. Eine Existenzsicherung muss dabei zumindest soweit gegeben sein, dass der Betroffene auf Basis der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, also wenigstens das Existenzminimum gewährleistet ist, wobei dieser Zumutbarkeitsmaßstab über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beachtlichen existentiellen Notlage hinausgeht. So soll die Gewährleistung dieser Lebensbedingungen verhindern, dass der Betroffene sich letztlich gezwungen sieht, doch wieder seine Herkunftsregion aufzusuchen und sich damit gerade den Gefährdungen auszusetzen, wegen derer er zuvor auf die Möglichkeit internen Schutzes verwiesen worden war. Die entsprechenden Anforderungen dienen damit der Wahrung von Art. 33 GFK. Denn dieser verbietet Maßnahmen, die in irgendeiner Weise zu Refoulementgefahren führen (also gerade auch die Rückführung in unsichere Gebiete und Gebiete, in denen unzumutbare Lebensbedingungen bestehen) (VGH Baden-Württemberg, U.v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17 juris Rn. 80 ff. m.w.N.). Unabhängig von der Frage, ob der Kläger tatsächlich an einem anderen Ort vor der Verfolgung durch seine Stiefbrüder sicher wäre, kann dem Kläger nicht zugemutet werden, sich in einem anderen Landesteil in Afghanistan niederzulassen. Gemäß dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes ist Afghanistan nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan; die Arbeitslosenquote ist auf 39% gestiegen. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Für Rückkehrer gilt dies in besonderem Maß. Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren auffangen Möglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Die Absorptionsfähigkeit der genutzten Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und der Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan bereits stark in Anspruch genommen. Dies schlägt sich sowohl in einem Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch in einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder (Lagebericht, Stand: Mai 2018, S. 20, 25). Auch der UNHCR macht darauf aufmerksam, dass nur wenige Städte von Angriffen regierungsfeindlicher Kräfte, die gezielt gegen Zivilisten vorgehen, verschont bleiben. UNHCR stellt fest, dass gerade Zivilisten, die in städtischen Gebieten ihren tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer dieser Gewalt zu werden. Laut der Erhebung über die Lebensbedingungen in Afghanistan 2016-2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen. Das Armutsniveau sei auf 55% im Zeitraum 2016/2017 angestiegen. Selbst Kabul stehe angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage als interne Schutzalternative grundsätzlich nicht zur Verfügung (UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, Stand 30. August 2018, S. 125 ff.). Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnismittel ist nicht davon auszugehen, dass der psychisch und physisch nur eingeschränkt leistungsfähige Kläger auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden kann. Die Situation des Klägers vor seiner Ausreise – unverletzt, am Heimatort und mit Grundbesitz – kann auch entgegen der Ansicht des Bundesamtes nicht mit einer Rückkehrsituation an einem anderen inländischen Fluchtort gleichgestellt werden. Auch kann nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger ein unterstützender Familienverband zur Verfügung steht. Von der eigenen Familie des Klägers erfolgt gerade die Verfolgung, die Familie der Ehefrau des Klägers hat sich zwar der Ehefrau und Kinder des Klägers während seiner Entführung angenommen, eine Unterstützung des Klägers ist jedoch nicht zu erwarten. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Kläger für seine Familie zu sorgen hat. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan geht es damit nicht nur um die Sicherstellung des Lebensunterhalts des Klägers, sondern es sind alle Familienmitglieder gemeinsam in den Blick zu nehmen. Eine isolierte Betrachtung lediglich des Klägers im Rahmen der Prognose, ob ihm eine inländische Fluchtalternative zumutbar ist, erscheint vorliegend nicht zulässig. Zwar hat der Kläger zunächst auf der Flucht ein Jahr alleine im Iran gelebt und seine Familie während dieser Zeit in Afghanistan zurückgelassen. Bereits diese Trennung erfolgte jedoch ausschließlich fluchtbedingt. Bei dem Kläger und seiner Ehefrau sowie seinen minderjährigen Kindern ist somit von einem existierenden Familienverband auszugehen, der bezüglich Rückkehr- und Schutzalternativen gemeinsam zu beurteilen ist (vgl. insoweit auch BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris; VGH Baden-Württemberg, U.v. 16.10.2017 – A 11 S. 512717 – juris Rn. 78 ff.). Bei eine Rückkehr einer Familie mit minderjährigen Kindern ist jedoch nach der ständigen Rechtsprechung des bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich das Gericht anschließt, unter den in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen bereits unabhängig von einer zusätzlichen Verfolgungssituation eine Gefahrenlage anzunehmen, die zu einem ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führt (vgl. zuletzt BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632, juris Rn. 29). Dementsprechend bleibt kein Raum für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative mit höheren Anforderungen an die Existenzsicherung (s.o.).
Nach alledem war der Klage auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG hinsichtlich Afghanistans und der Aufhebung der entgegenstehenden Nr. 2 des Bescheids des Bundesamts vom 18. September 2017 stattzugeben. Infolge der Zuerkennung subsidiären Schutzes waren auch die Nummern 3, 4 und 5 des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. Beschluss vom 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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