Verwaltungsrecht

Wiederaufgreifen eines rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens

Aktenzeichen  Au 9 K 20.31006

Datum:
15.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 31399
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
VwVfG § 49, § 51 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1. Eine nachträgliche Änderung der Sachlage ist dann anzunehmen, wenn sich die allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat oder die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände so verändert haben, dass eine für ihn günstigere Entscheidung möglich erscheint. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Geburt eines weiteren Kindes ist nicht geeignet, eine günstigere Entscheidung zugunsten der vollziehbar ausreisepflichtigen Asylbewerberin und ihrer zwei anderen Kinder herbeizuführen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria und die verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe, auch durch Sicherheitskräfte, sind keine individuellen, sondern allgemeine Gefahren, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
4. Als alleinerziehende Mutter mit drei Kindern kann die Klägerin spezifische Hilfsorganisationen für alleinstehende Frauen, die in Nigeria zahlreich vertreten sind, in Anspruch nehmen, so dass sie nach einer Rückkehr nicht in existenzielle Not geraten würde. (Rn. 31 – 33) (redaktioneller Leitsatz)
5. Unter Berücksichtigung der tagesaktuellen Fallzahlen und des damit einher gehenden Ansteckungsrisikos besteht in Nigeria derzeit keine hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs einer  Corona-Erkrankung für die Personengruppen, denen die Klägerin und ihre Kinder angehören. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerinnen haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.   

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Klägerinnen aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. Oktober 2020 verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 15. Oktober 2020 form- und fristgerecht geladen worden.
Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Die Klägerinnen haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Wege der Wiederaufnahme des behördlichen Verfahrens bzw. auf ermessensfehlerfreie Entscheidung diesbezüglich. Der diesen Anspruch versagende Bescheid des Bundesamts vom 10. Juni 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Zur Begründung wird zunächst unter Absehen von der weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe auf die im Wesentlichen zutreffenden Ausführungen des Bundesamts im angefochtenen Bescheid Bezug genommen, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist noch Folgendes auszuführen:
Das Bundesamt ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die Klägerinnen die Wiederaufnahmevoraussetzungen des § 51 VwVfG nicht erfüllen. Nach dem hier allein in Betracht kommenden Abs. 1 Nr. 1 und 2 dieser Vorschrift hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn (1) sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat oder (2) neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Beides ist hier nicht der Fall.
Neue Beweismittel wurden im Wiederaufnahmeverfahren bereits nicht vorgelegt. Es liegt aber auch zugunsten der Klägerinnen keine Änderungen der Sach- und Rechtslage vor, die eine günstigere Entscheidung herbeiführen könnte.
Eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG kann weder dem klägerischen Vortrag entnommen werden noch ist eine derartige Veränderung ersichtlich. Eine Änderung der Sachlage ist dann anzunehmen, wenn sich entweder die allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat oder aber die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände so verändert haben, dass eine für den Asylbewerber günstigere Entscheidung möglich erscheint (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Auflage 2018, § 71 Rn. 24).
Soweit die Klägerin zu 1 zur Begründung des Asylfolgeantrags (§ 71 AsylG) auf die Geburt ihres dritten Kindes (Kläger im Verfahren Au 9 K 20.31150) verweist, liegt nach Auffassung des Gerichts bereits keine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vor. Selbst wenn man jedoch von einer solchen ausgehen wollte, ist diese jedenfalls nicht geeignet, eine für den Asylbewerber günstigere Entscheidung herbeizuführen. Die Klägerinnen sind bereits aufgrund der Bestandskraft des Bescheids des Bundesamts im Erstverfahren vom 28. Oktober 2016 (Gz: …) vollziehbar ausreisepflichtig. Die Geburt eines weiteren Kindes bei bestehender Ausreisepflicht kann keine günstigere Entscheidung zugunsten der Klägerin zu 1 und ihren beiden Kindern, den Klägerinnen zu 2 und 3 herbeiführen.
Auch eine Änderung in Bezug auf das Vorliegen von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist nicht ersichtlich.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria – hier leben immer noch ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum und sind von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria – Lagebericht – a.a.O. Nr. I.2.) – ebenso wie die Situation hinsichtlich der verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe, z.T. auch durch die Sicherheitskräfte, und die damit zusammenhängenden Gefahren (s.o. und Lagebericht a.a.O. Nr. II.2 und 3.) grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade dem Antragsteller drohenden Gefahr führt, sondern unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren ist, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG durch Anordnungen gemäß § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23 ff. m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – a.a.O. – juris Rn. 22, 36).
Auch eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) für einen Betroffenen aufgrund allgemein für die Bevölkerung bestehender Gefahren, die über diese allgemein bestehenden Gefahren hinausgeht ist, nur im Ausnahmefall im Sinne eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (BVerwG, U. v. 31.1.2013 – a.a.O., juris Rn. 38). Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O., juris Rn. 38).
Für derartige besondere Gefahren aufgrund schlechter humanitärer oder wirtschaftlicher Verhältnisse ist hier nichts ersichtlich. Insbesondere kann im Falle der Klägerin nicht davon ausgegangen werden, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria zu einem Abschiebungsverbot aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse führt, die im Ausnahmefall als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifiziert werden könnten. Dies gilt auch unter Berücksichtigung ihrer unterstellten Rückkehr als quasi alleinerziehende Mutter mit mittlerweile drei Kindern. So ist darauf zu verweisen, dass im liberaleren Südwesten Nigerias – und dort vor allem in den Städten – alleinstehende oder alleinlebende Frauen eher akzeptiert werden. Im Allgemeinen ist eine interne Relokation insbesondere für alleinstehende Frauen nicht übermäßig hart. Diese sind darauf angewiesen, spezifische Hilfsorganisationen für Frauen in Anspruch zu nehmen. Diese sind in Nigeria insbesondere in den größeren Städten zahlreich vertreten. Auf die ins Verfahren eingeführte Aufstellung im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – BFA – Nigeria – Gesamtaktualisierung vom 12.4.2019, Nr. 18.2, S. 41 wird verwiesen. Weiter ist auf das in Afrika herrschende Prinzip der wechselseitigen Solidarität (Ubuntu) zu verweisen. So hat die Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung auf eine in … lebende Freundin verwiesen, die dort als Lehrerin tätig ist. Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA – Nigeria, Gesamtaktualisierung vom 12.4.2019, Nr. 20, S. 50).
Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass die Klägerin zu 1 in Nigeria einen mehrjährigen Schulbesuch (bis zur Stufe SS 3 der Secondary School) vorweisen kann, der sich bei einer Analphabetenquote bei nigerianischen Frauen von annährend 50% als überdurchschnittlich erweist. Auch hat die Klägerin zu 1 nach ihrem eigenen Vorbringen in Nigeria bereits im Handwerk eines Frisörs gearbeitet und ihrer Mutter beim Betrieb einer Kantine geholfen. Damit ist letztlich auch nicht erheblich, ob es zutrifft, dass die Klägerin zu 1 keinen Kontakt mehr zu ihrer noch in Nigeria lebenden Familie besitzt.
Es kann daher nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Klägerinnen nach einer Rückkehr in existenzielle Not geraten werden. Vielmehr ist es den Klägerinnen durchaus zuzumuten, in ihre Heimat zurückzukehren, auch wenn dies mit gewissen Schwierigkeiten verbunden ist.
Auch ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist zugunsten der Klägerinnen nicht zu erkennen. Nach dieser Vorschrift kann von der Abschiebung eines Ausländers abgesehen werden, wenn im Zielstaat für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (sogenannte individuelle Gefahren). Eine wesentliche Verschlechterung ist dabei nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Das Abschiebeverbot dient nicht dazu, eine bestehende Erkrankung optimal zu behandeln und ihre Heilungschancen zu verbessern. Ein Ausländer muss sich vielmehr auf den Standard der Gesundheitsversorgung im Heimatland verweisen lassen, auch wenn dieser dem entsprechenden Niveau in Deutschland nicht entspricht (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Es wird im Fall einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland mit der Versorgung in Deutschland gleichwertig ist und eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel zudem vor, wenn diese zumindest in einem Teil des Zielstaats erlangt werden kann (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG). Nennenswerte gesundheitliche Einschränkungen sind für die Klägerinnen im Verfahren nicht bekannt geworden. Ärztliche Atteste wurden nicht vorgelegt.
Dies gilt auch unter Berücksichtigung der sich wohl auch in Afrika ausbreitenden Corona-Pandemie. Auch dieser Umstand ist nicht geeignet, zur Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu führen. Insoweit gilt es die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG zu beachten. Danach sind Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nur bei einer Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Eine derartige allgemeine Entscheidung hinsichtlich des Zielstaats Nigeria i.S.d. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegt derzeit nicht vor. Eine persönliche Betroffenheit von der Krankheit selbst haben die Klägerinnen nicht aufgezeigt.
Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sind überdies in Nigeria lediglich 60.834 Corona-Fälle bestätigt, wovon 52.143 Personen genesen sind und es lediglich zu 1.116 Todesfällen gekommen ist (Quelle: COVID-19 pandemic data, Wikipedia, Stand: 15.10.2020). Im Zeitraum zwischen dem 30. September und dem 13. Oktober 2020 ist es demnach nur zu 2.008 Neuerkrankungen gekommen. Demnach handelt es sich um eine lediglich abstrakte Gefährdung, der im Rahmen des § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu begegnen ist. Der von den Klägerinnen angeführte Umstand ist daher nicht geeignet, für diesen ein Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu begründen.
Es gibt keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass sich Wirtschaft und Versorgungslage der Bevölkerung trotz internationaler humanitärer Hilfe und lokaler Hilfsbereitschaft infolge der Pandemie derart verschlechtern, dass die Antragstellerin zu 1) nicht mehr in der Lage wäre, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder in Nigeria sicherzustellen. Der Internationale Währungsfonds gewährte Nigeria bereits im April 2020 Nothilfe in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar, um Wirtschaft und Währung in der Corona-Krise auch angesichts des Verfalls der Ölpreise zu stabilisieren („IWF gewährt Nigeria wegen Corona-Krise Milliardenhilfe“, www.spiegel.de, 28. April 2020). Selbst wenn bei einer Rückkehr der Antragstellerinnen noch die aktuellen nächtlichen Ausgangssperren gelten sollten, fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass diese Maßnahmen dauerhaft auf unbestimmte Zeit gelten würden. Die als „Lockdown“ bzw. „Ausgangssperre“ bezeichneten Maßnahmen wurden außerdem soweit ersichtlich bisher lediglich in Lagos, Abuja und Kano verhängt, jedoch ab Anfang Mai 2020 bereits wieder gelockert. Die Maßnahmen sollen in Lagos und Abuja sind Mitte Juni 2020 ausgelaufen. Für andere Orte im Süden Nigerias bzw. landesweit fehlt es an Angaben darüber, dass aktuell überhaupt ein „Lockdown“, „Ausgangssperren“ oder vergleichbare Maßnahmen dauerhaft verhängt worden wären. Vielmehr sind seit Mitte September 2020 alle Flughäfen des Landes wieder für Inlandsflüge geöffnet.
Im Übrigen genügt nicht eine allgemeine Behauptung mit Hinweis auf die Corona-Pandemie, dass eine Gefahr bestünde. Denn für die Beurteilung ist auf die tatsächlichen Umstände des konkreten Einzelfalls abzustellen. Erforderlich ist, durch Benennung bestimmter begründeter Informationen, Auskünfte, Presseberichte oder sonstiger Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür aufzuzeigen, dass der Betreffende etwa zu einer Risikogruppe gehört und in seinem speziellen Einzelfall mit einer Ansteckung, einschließlich eines schweren Verlaufs, zu rechnen ist. Anzugeben ist dabei weiter, wie viele Personen im Zielland konkret infiziert sind, einen schweren Verlauf haben und gestorben sind, ob landesweit eine betreffende Gefahr besteht bzw. konkret an dem Ort, an dem der Betreffende zurückkehrt und welche Schutzmaßnahmen der Staat zur Eindämmung der Pandemie getroffen hat (OVG NW, B.v. 23.6.2020 – 6 A 844/20.A – juris). An einem entsprechenden substanziierten Vorbringen der Klägerinnen fehlt es. Durchgreifende Gründe für eine relevante Gefahr sind auch sonst nicht ersichtlich.
Unter Berücksichtigung der oben aufgeführten tagesaktuellen Fallzahlen und des damit einhergehenden Ansteckungsrisikos besteht in Nigeria derzeit nach dem oben genannten Maßstab keine hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Erkrankung für die Personengruppen, denen die Klägerinnen angehören. Sie müssen sich letztlich, wie hinsichtlich etwaiger anderer Erkrankungen, wie etwa Malaria, HIV, Masern, Cholera, Lassa-Fieber, Meningitis oder Tuberkulose, bei der die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung und eines schweren Verlaufs teilweise um ein Vielfaches höher liegt als bei dem „Coronavirus“ (vgl. zu Malaria OVG NW, U.v. 24.3.2020 – 19 A 4479/19.A – juris; VG Karlsruhe, U.v. 26.2.2020 – A 4 K 7158/18 – juris), im Bedarfsfalle auf die Möglichkeiten des – zugegebenermaßen mangelhaften – nigerianischen Gesundheits- und Sozialsystems (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand: September 2019, vom 16.1.2020, S. 22 ff.) verweisen lassen.
Soweit die Klägerin zu 1) schließlich darauf verweist, dass der Vater der Klägerin zu 3 sich ebenfalls in Deutschland aufhalte und sie bei einer Abschiebung eine Trennung von diesem befürchte, so ist dieses Vorbringen hier nicht von Belang. Die Frage der familiären Beziehung der Klägerin zu 3 zu ihrem (mutmaßlichen) Vater bleibt einer etwaigen Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse vorbehalten. Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse sind nicht Streitgegenstand im Asylverfahren, wo nur herkunftsstaatsbezogene Abschiebungsverbote zu prüfen sind.
Sollte z.B. ein Verbleib der Klägerinnen in Deutschland im Hinblick auf den Kindesvater notwendig sein, wäre dies als inlandsbezogene Frage auf der ausländerrechtlichen, nicht aber auf der asylrechtlichen Ebene zu berücksichtigen.
Damit haben die Klägerinnen aber auch keinen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinne gemäß § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48,49 VwVfG. Die Klägerinnen haben diesbezüglich zwar einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Im gerichtlichen Verfahren beachtliche Ermessensfehler (§ 114 VwGO) sind vorliegend weder ersichtlich, noch vorgetragen.
Nach allem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen haben die Klägerinnen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner gemäß § 159 Satz 2 VwGO zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.

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