Verwaltungsrecht

Zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot wegen Suizidgefahr aufgrund mittelgradig depressiver Episode

Aktenzeichen  M 17 K 17.34078

Datum:
30.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, 7 S. 1 – 3

 

Leitsatz

In Bangladesch ist eine mittelschwere depressive Störung nur behandelbar, wenn der Betroffene über ausreichende finanzielle Mittel verfügt. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen wurde.
II. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. November 2014 wird in den Nrn. 4 und 5 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich … vorliegen.
III. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 3/4 und die Beklagte 1/4.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1. Soweit die Prozessbevollmächtigte die Klage mit Ausnahme der Feststellung des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
2. Die zulässige Klage, über die im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist begründet, soweit sie aufrechterhalten wurde. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich … Insoweit war der Bescheid des Bundesamtes vom 26. November 2014 in den Nrn. 4 und 5 aufzuheben (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16f.)
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Umfasst werden von dieser Vorschrift nur sogenannte zielstaatsbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Die Vorschrift kann einen Anspruch auf Abschiebungsschutz begründen, wenn die Gefahr besteht, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Herkunftsland wesentlich verschlechtert. Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – juris). Eine Gefahr ist „erheblich“, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Herkunftsland eintreten wird, weil er auf die dort unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 29.7.1999 – 9 C 2/99 – juris Rn. 8). Der Abschiebungsschutz aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dient hingegen nicht dazu, eine bestehende Erkrankung optimal zu behandeln oder ihre Heilungschancen zu verbessern. Diese Vorschrift begründet insbesondere keinen Anspruch auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt und Standard in der medizinischen Versorgung in Deutschland (vgl. VG Arnsberg, B.v. 23.2.2016 – 5 L 242/16.A – juris Rn. 64 m.w.N.).
Mit der ab dem 17. März 2016 geltenden gesetzlichen Regelung hat auch der Gesetzgeber klargestellt, dass eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, vorliegt (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Es wird im Falle einer Erkrankung nicht vorausgesetzt, dass die medizinische Versorgung im Herkunftsland mit der Versorgung in Deutschland gleichwertig ist (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Nach der Gesetzesbegründung kann eine schwerwiegende Erkrankung in Fällen von PTBS regelmäßig nicht angenommen werden, sondern nur ausnahmsweise, wenn die Abschiebung zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung führt (vgl. BT-Drs. 18/7538 S. 18).
Zwar begründet eine Selbstmordgefahr, die in Verbindung mit einer bevorstehenden Abschiebung steht, kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, sondern allenfalls ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, das gemäß § 60a AufenthG gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen ist (BVerfG, B.v. 26.2.1998 – 2 BvR 185/98 – juris). Das Gericht ist aber davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach … wegen seiner psychischen Erkrankung alsbald in eine lebensbedrohliche Situation geraten würde.
Eine lebensbedrohliche Situation ist für den Kläger bei einer Rückkehr nach … zu befürchten, weil der Kläger an einer mittelgradig depressiven Episode (ICD-10: F32.1) leidet und eine medizinische Behandlung des Klägers in … jedenfalls nicht finanzierbar und damit erreichbar ist.
Das 21 Seiten umfassende psychiatrische Gutachten von Prof. … … und Frau … … (Klinikum … … … – Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Abteilung für Forensische Psychiatrie) vom … Dezember 2016, das aufgrund des Beweisbeschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 12. Mai 2016 eingeholt worden ist, kommt nach Auswertung sämtlicher vorhandener medizinischer und sonstiger Unterlagen und einer persönlichen Befragung des Klägers am … August 2016 zum Ergebnis, dass beim Kläger zwar keine PTBS, jedoch eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F32.1) vorliegt.
Der Kläger habe eine deutlich gedrückte Stimmung, die auch in der Exploration sichtbar gewesen sei, angezeigt. Zusätzlich habe er über ausgeprägte Schlafstörungen, eine pessimistische Zukunftssicht, Konzentrationsschwierigkeiten, Insuffizienz-und Schuldgefühle berichtet. Somit seien nach diagnostischen Leitlinien die Symptome für eine mittelgradige depressive Episode erfüllt. Nach dem Befundbericht des Diplom-Psychologen … habe sich der Kläger im Herbst 2012 erstmalig und seit März 2013 in regelmäßiger psychologischer Betreuung befunden, nachdem er seinem Vormund über die Vorkommnisse in … berichtet habe und daraufhin dekompensiert sei. Die Symptome würden unverändert seit vier Jahren vorliegen, sodass von einer existierenden depressiven Störung nach DSM-V (persistent depressive disorder) auszugehen sei. Insgesamt habe der Kläger berichtet, er fühle sich einsam, verloren und fühle sich nirgendwo zu Hause. Während der Exploration habe es keinen Anlass gegeben, an der Glaubhaftigkeit des Klägers zu zweifeln. Leitliniengerecht werde empfohlen, eine mittelgradige depressive Episode psychotherapeutisch und/oder psychopharmakologisch zu behandeln. Erfolge keine Behandlung der Erkrankung des Klägers könne eine psychopathologische Verschlechterung bzw. Persistenz der Symptomatik eintreten. Die Wahrscheinlichkeit einer Chronifizierung erhöhe sich bzw. die Wahrscheinlichkeit einer Totalremission verringere sich mit Andauern der Symptome. Hinzukommende allfällige Belastungen würden dann nicht mehr ertragen und führten zu einer Verschlimmerung der Depression, bis hin zur Suizidalität. Ob der Kläger eine entsprechende Behandlung in … erhalte, sei sicherlich kritisch zu hinterfragen. Dekompensation und Suizidalität seien dann als typische Folge einer chronischen Depression wahrscheinlich.
In Gesamtschau der Ausführungen des Sachverständigen ist daher davon auszugehen, dass eine Abschiebung mit Sicherheit zu einer erheblichen Verschlechterung und einem dauerhaften Schaden der psychischen Gesundheit des Klägers führen würde. Das fachärztliche Gutachten ist nachvollziehbar und enthält keine Widersprüche oder strukturellen Mängel. Es bestätigt – mit Ausnahme einer bestehenden PTBS – in wesentlichen Teilen die vorliegende psychologische Stellungnahme vom … August 2014 durch Herrn Diplom-Psychologen …
Es ist zudem nicht davon auszugehen, dass dem Kläger eine adäquate psychiatrische Behandlung einschließlich einer medikamentösen Therapie, auf die der Kläger unter Umständen angewiesen ist, in seinem Herkunftsland … trotz der prinzipiell existierenden Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung steht. Ausweislich der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 10. Juni 2016 (Gz.: 508-9-516.80/48694) ist eine mittelschwere depressive Störung in … zwar behandelbar (VG München, U.v. 9.5.2017 – M 17 K 14.31223 – juris). Jedoch gibt es praktisch in … keine kostenlose medizinische Versorgung. Die Behandlung in den existierenden Krankenhäusern ist dem zahlungsfähigen Patienten vorbehalten. Im Gegensatz zu ambulanten sind in Einzelfällen längerfristige psychologische und psychiatrische Behandlungen und Betreuungen nach ärztlichen Auskünften in … nur schwer zu gewährleisten. Nach Erfahrungen der International Organization for Migration (IOM) seien diese Behandlungen sehr teuer. Im ländlichen Bereich seien sie nicht möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik … vom 14. Januar 2016, Stand Januar 2016, im Folgenden: Lagebericht, S. 26). Pro ärztlicher Konsultation ist mit Kosten in Höhe von BDT 500,- bis BDT 1.000,- (entspricht 5,55 € bis 11,10 €) zu rechnen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 10. Juni 2016, Gz.: 508-9-516.80/48694), bei einem monatlichen Durchschnittsverdienst von circa 64 US-Dollar (= ca. 57,28 €) im Monat (Bruttonationaleinkommen 2011 je Einwohner, Quelle: Weltbank).
Gemessen an den vorliegenden Erkenntnissen wäre dem Kläger aufgrund fehlender finanzieller Mittel ein Zugang zu einer aufsuchenden Behandlung und Medikamenten verwehrt. Eine finanzielle Unterstützung durch Familienmitglieder ist nicht zu erwarten. Sein Vater starb nach einer Schlägerei auf dem Dorfplatz. Seine Mutter und sein Bruder wurden nach den eigenen Angaben des Klägers von der bengalischen Polizei nach … abgeschoben. Der Kläger habe keine Kenntnis, an welchem Ort sich seine Mutter und sein Bruder aufhalten. Die Polizei habe ihm hierzu keine Auskunft erteilt. Unter Zugrundelegung der Auskunftslage müsste der Kläger mangels Leistungen durch eine Krankenversicherung sowohl die Kosten für eine aufsuchende fachärztliche Betreuung als auch für die Medikation selbst aufbringen. Obwohl er derzeit in Deutschland einer beruflichen Tätigkeit nachgeht, ist nicht damit zu rechnen, dass der ungelernte Kläger aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes ohne Familienanbindung in …, die letztlich für die Rückkehrer maßgeblich ist und als Auffangnetz in einer kritischen Lebensphase dient (Lagebericht, a.a.O. unter IV.1.1, S. 25 f.), in der Lage sein wird, neben seinem Lebensunterhalt die Kosten seiner gesundheitlichen Versorgung zu erwirtschaften. Unter diesen Voraussetzungen wäre es dem Kläger mangels hinreichender finanzieller Mittel nicht möglich, die benötigte psychiatrische Versorgung in … zu erreichen. Infolgedessen besteht die konkrete Gefahr, dass sich seine psychische Krankheit in … erheblich verschlimmert. Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach … in eine ausweglose Situation geraten würde. Selbst wenn der Gefahr eines Selbstmords im Zusammenhang mit der Abschiebung durch ärztliche Begleitung vor und während der Abschiebung entgegengewirkt werden könnte, besteht bei einer Rückkehr des Klägers nach … derzeit eine erhebliche konkrete Gefahr für das Leben des aktuell psychisch kranken Klägers.
Vor diesem Hintergrund bejaht das Gericht beim Kläger das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
3. Aufgrund dessen war auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des streitgegenständlichen Bescheides vom 26. November 2014 aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. Beschluss vom 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
5. Die Entscheidungen über die Einstellung des Verfahrens (Nr. I des Tenors) ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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