Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Asylbewerber aus Äthiopien wegen politischer Betätigung für Ginbot 7

Aktenzeichen  AN 9 K 16.31455

Datum:
11.10.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3a, § 3e Abs. 1

 

Leitsatz

Nach einer Betätigung für die Organisation Ginbot 7 ist im Fall der Aufdeckung mit Verfolgungshandlungen durch die äthiopische Regierung zu rechnen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. September 2016 wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Beklagte.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beklagte mit gerichtlichem Schreiben vom 18. August 2017 ordnungsgemäß geladen und auf die Folgen des Ausbleibens hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. Der Bescheid der Beklagten vom 15. September 2016, Az.: 5753887-225, ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat den Anspruch nach § 3 Abs. 1 AsylG, da er sich nach Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den äthiopischen Staat wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb seines Landes befindet. Bei einer Rückkehr nach Äthiopien wäre er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einem flüchtlingsrelevanten Verfolgungsrisiko im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt.
Die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention, BGBl. 1953 II S. 560) ist einem Ausländer nach § 3 Abs. 1, 4 AsylG zuzuerkennen, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder wenn er sich aus den genannten Gründen außerhalb des Landes befindet, in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Als Verfolgungshandlungen sind nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG solche Handlungen anzusehen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach § 3a Abs. 2 AsylG zählen dazu unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, diskriminierende gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, wie auch unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung. Bei den Akteuren, von denen die Verfolgung ausgeht, muss es sich nach § 3c AsylG um den Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen oder nichtstaatliche Akteure handeln, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen und dauerhaften Schutz vor Verfolgung zu bieten. Für die Frage, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er das entsprechende, zur Verfolgung führende Merkmal tatsächlich aufweist, ausreichend ist, dass es ihm von dem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG zugeschrieben wird.
Ob eine solche Bedrohungslage für den Ausländer vorliegt und ihm bei seiner unterstellten Rückkehr politische Verfolgung droht, hat das Gericht anhand einer Prognose zu beurteilen (vgl. BVerwG, U.v. 6.3.1990 – 9 C 14.89). Auszugehen ist hierfür zunächst von seinem bisherigen Schicksal, weil in der Vergangenheit liegenden Umständen auch Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft zukommt (vgl. BVerwG, U.v.27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris, Rn. 23; EuGH, U.v. 2.3.2010 – C-175/08 – juris, Rn. 92 ff.), aber auch nachträglich eingetretene Ereignisse sind zu berücksichtigen, weil nach § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf solchen Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer sein Herkunftsland verlassen hat. Die Prognoseentscheidung hat am Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erfolgen (vgl. BVerwG, U.v. 1.3.2012 – 10 C 7.11 – juris, Rn. 12). Es ist danach zu fragen, ob bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände des Falls ein vernünftig denkender und besonnener Mensch es ablehnen müsste, in sein Land zurückzukehren, weil die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 23.2.1988 – 9 C 32.87 – juris, Rn. 16; U.v. 15.3.1988 – 9 C 278.86 – juris, Rn. 23; Vorlagebeschluss v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris, Rn. 37). Entscheidend ist also der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, U.v. 23.7.1991 – 9 C 154.90 – juris, Rn. 28; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90 – juris, Rn. 17). Diese wird noch nicht berührt, wenn die politische Verfolgung lediglich eine theoretische Möglichkeit darstellt. Nicht zu fordern ist aber auch, dass der mathematische Wahrscheinlichkeitsgrad in jedem Fall 50% übersteigt, auch eine geringere Wahrscheinlichkeit kann hier ausreichend sein. Zu berücksichtigen ist insbesondere die Schwere des befürchteten Eingriffs. So macht es etwa für die Erwägungen eines besonnenen Menschen einen erheblichen Unterschied, ob er bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat lediglich eine geringe Freiheitsstrafe oder eine Geldbuße zu erwarten hat, oder aber ob ihm Folter, Misshandlung oder gar die Todesstrafe drohen (vgl. BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90 – juris, Rn. 17; Vorlagebeschluss v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris, Rn. 37). An die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Verfolgung im Falle der Rückkehr sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer und einschneidender die zu erwartende Verfolgungshandlung ist.
Ausgehend davon ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Aufgrund der ihr vorliegenden Erkenntnismittel und der Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung geht die Kammer davon aus, dass dem Kläger aufgrund seiner Tätigkeit für die Organisation Ginbot 7 im Falle seiner Rückkehr in Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung drohen würde.
Seit der Verhängung des Ausnahmezustands am 9. Oktober 2016 infolge der seit November 2015 in der Region Oromia und seit Sommer 2016 in der Region Amhara aufflammenden Unruhen geht die äthiopische Regierung deutlich verstärkt gegen die Opposition vor. So wurde die Versammlungsfreiheit explizit suspendiert. Es gibt von verschiedenen Seiten zahlreiche Berichte über Hunderte Tote und Tausende Verletzte bzw. Inhaftierte bei politischen Demonstrationen, die zum Teil gewaltsam und unter Einsatz von scharfer Munition beendet werden. Insbesondere versucht die Regierung, oppositionelle Gruppen zu kriminalisieren und auf diese Weise aus dem politischen Diskurs auszuschließen. Im Zuge der Proteste in der Region Oromia wurden die Organisationen Al Quaida, Al Shabaab, Ginbot 7, OLF (Oromo Liberation Front) und Teile der ONLF (Ogaden National Liberation Front) zu terroristischen Vereinigungen erklärt. Auch wird versucht, legale Oppositionsparteien als „Schirm“ für Terroristen, extremistische islamische Gruppierungen oder ethnische Separatisten darzustellen. Dem Verdacht der Kooperation mit Terrororganisationen setzen sich aus Sicht der Regierung regelmäßig auch Demonstranten aus. Oppositionelle Gruppen wie auch regierungskritische Journalisten werden durch den National Intelligence Service (NIS) umfassend überwacht, der über ein funktionierendes Netz an Zuträgern in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens verfügt und auch den Telefon- und Internetverkehr überwacht. Polizei und Militär sollen gezielt gegen vermutete und tatsächliche Unterstützer und Angehörige der genannten Gruppierungen vorgehen, neben der gewaltsamen Niederschlagung von Demonstrationen wird von willkürlichen Hausdurchsuchungen und Verhaftungen berichtet. Nach Demonstrationen fanden nachts häufig Razzien der Polizei statt, bei denen bestimmte Gebiete regelrecht durchkämmt wurden und die Polizei von Haus zu Haus ging. Ziel waren vor allem junge Männer. Auch sollen deren Eltern verhaftet worden sein, wenn die Zielpersonen nicht anwesend waren. Infolge der Notstandsdekrete können Verdächtige bis zu vier Monate ohne Gerichtsverfahren inhaftiert werden. Obwohl den Sicherheitskräften im Allgemeinen ein diszipliniertes Handeln attestiert wird, gibt es zahlreiche Berichte von Folter, Misshandlungen und Hinrichtungen, insbesondere während der Untersuchungshaft und gegenüber Häftlingen, die verdächtigt werden, mit Terrororganisationen in Verbindung zu stehen. Ein behördliche Überprüfung bzw. Verfolgung solcher Vorfälle findet in der Regel nicht statt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien, März 2017).
Vor diesem Hintergrund hält die Kammer die Aussagen des Klägers für glaubhaft. Fragen nach den politischen Zielen von Ginbot 7 konnte er spontan beantworten, auch sein politisches Engagement erschien glaubhaft. Er schilderte stringent und in sich widerspruchsfrei, dass er für die Organisation tätig gewesen und für sie die geheime Übergabe von Geld und Dokumenten an andere Organisationsmitglieder durchgeführt habe. Unmittelbar zusammengearbeitet habe er mit seinem Onkel, den er für die Übergaben im Kaffeehaus oder in der Kirche getroffen habe. Die im angegriffenen Bescheid hieran geäußerten Zweifel erscheinen der Kammer nicht durchgreifend. Die Ausführungen erschöpfen sich darin, die klägerische Aussage als unglaubwürdig abzutun, da nach der Ansicht des Entscheiders ein Treffen zur Übergabe von Geld und Dokumenten im privaten Rahmen unauffälliger gewesen wäre. Allein die Tatsache, dass man die Übergabe auch anders hätte bewerkstelligen können, bedeutet allerdings nicht, dass die Schilderung nicht der Wahrheit entsprechen kann. Mit den Einwänden in der mündlichen Verhandlung konfrontiert gab der Kläger an, man habe zur Übergabe bewusst Kaffeehäuser gewählt, da er sich zum einen mit seinem Onkel schon in der Vergangenheit immer in Kaffeehäusern getroffen habe, und es insofern leichter Verdacht hätte erwecken können, wenn sein Onkel plötzlich regelmäßig zu ihm nach Hause gekommen wäre. Zum anderen hätten seine Familienmitglieder zu deren eigenen Schutz nichts von seiner Tätigkeit für Ginbot 7 mitbekommen sollen. Das erscheint nachvollziehbar. Weiter schilderte er, dass ihm durch einen Telefonanruf signalisiert worden sei, dass er gesucht werde, und sein Leben in Gefahr sei. Dieses ist auf Grundlage der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel insbesondere über das Verhalten der äthiopischen Regierung gegenüber Oppositionellen naheliegend. Wenn der Kläger – wovon hier ausgegangen wird – tatsächlich für Ginbot 7 tätig war, so ist im Falle seiner Aufdeckung mit Verfolgungshandlungen durch die äthiopische Regierung zu rechnen, zumal die Vereinigung von der äthiopischen Regierung als terroristische Organisation eingestuft wurde. Anders als der Entscheider hält die Kammer es daher für nachvollziehbar, dass der Kläger nach dem Warnanruf nicht mehr explizit den Kontakt zu seinem Onkel gesucht hat, um diesen nicht auch in Gefahr zu bringen. Aus Berichten des Auswärtigen Amts geht eindeutig hervor, dass der äthiopische Staat in der Lage ist, die Telekommunikation umfangreich zu überwachen und hiervon zur Überwachung der inländischen Opposition auch umfangreich Gebrauch macht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien, März 2017).
Somit ist der Kläger bereits vorverfolgt aus Äthiopien ausgereist, und es ist bei seiner unterstellten Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass er aufgrund seiner politischen Überzeugung Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt sein wird. Auf die Frage, ob daneben seine politische Tätigkeit in Deutschland zu Verfolgungshandlungen in Äthiopien führen könnte, kommt es für die Entscheidung nicht mehr an.
Eine inländische sichere Fluchtalternative im Sinne des § 3 e Abs. 1 AsylG steht dem Kläger nicht zur Verfügung.
Die Beklagte war daher antragsgemäß zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Über die hilfsweise geltend gemachten Klageanträge musste nicht mehr entschieden werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gerichtsverfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708, 711 ZPO.


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