Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund von Verfolgung in Afghanistan

Aktenzeichen  W 1 K 16.31087

Datum:
30.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3a, § 3b Abs. 1 Nr. 2, § 3e
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 2-8
EMRK EMRK Art. 9, Art. 15 Abs. 2
Qualifikationsrichtlinie Art. 6-10

 

Leitsatz

Zum Christentum konvertierte ehemalige Moslems sind in Afghanistan gezwungen, ihren Glauben entweder ganz zu verleugnen oder ihn zumindest auch im pivaten Umfeld zu verheimlichen. (redaktioneller Leitsatz)
In Afghanistan ist der Islam Staatsreligion. Das Recht auf freie Religionsausübung schützt nicht die freie Religionswahl. Zum Christentum Konvertierte sind gezungen, ihren Glauben zu verheimlichen. (redaktioneller Leitsatz)
Konversion wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet. Auch in der Gesellschaft wird der Abfall vom Islam als Schande für die Familienehre angesehen. (redaktioneller Leitsatz)
Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es erforderlich, dass der Glaubenswechsel auf einem dauerhaften, ernsthaften religiösen Einstellungswandel beruht und die religiöse Identität des Betroffenen prägt. Das muss der Asylbewerber glaubhaft machen. (redaktioneller Leitsatz)
Schutz vor Übergriffen ist in keinem Landesteil Afghanistans dauerhaft zu erreichen; eine inländische Fluchtalternative besteht nicht. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. März 2013 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.
II.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 25. März 2013 ist daher, soweit er Gegenstand der Klage ist und der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Soweit die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter abgelehnt wurde (Ziffer 1), ist der Bescheid hingegen unanfechtbar geworden und daher nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling i. S. d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der ab 6. August 2016 geltenden, durch Art. 6 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939 ff.) geschaffenen Fassung anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG – wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG – die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen.
Gemessen an diesen Maßstäben befindet sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion außerhalb des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Aufgrund seiner Konversion zum christlichen Glauben droht ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG. Für den Kläger besteht auch keine Möglichkeit des internen Schutzes i. S. d. § 3e AsylG.
Eine Verfolgung i. S. d. Art. 9 Abs. 1 a) Qualifikationsrichtlinie (QRL), der durch § 3a Abs. 1 AsylVfG in deutsches Recht umgesetzt wurde, kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U. v. 5.9.2012 – Y und Z, C-71/11 und C-99/11 – BayVBl. 2013, 234, juris Rn. 57 ff.) sowie der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung (BVerwG, U. v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 21 ff.; VGH BW, U. v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 41 ff.; OVG NRW, U. v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 23 ff.) auch in einer schwerwiegenden Verletzung des in Art. 10 Abs. 1 GR-Charta verankerten Rechtes auf Religionsfreiheit liegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Die „erhebliche Beeinträchtigung“ muss nicht schon eingetreten sein, es genügt bereits, dass ein derartiger Eingriff unmittelbar droht (BVerwG a. a. O. Rn. 21). Zur Qualifizierung eines Eingriffs in das Recht aus Art. 10 Abs. 1 GR-Charta als „erheblich“ kommt es nicht auf die im Rahmen des Art. 16a Abs. 1 GG sowie des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 maßgebliche Unterscheidung an, ob in den Kernbereich der Religionsfreiheit, das „religiöse Existenzminimum“ (forum internum) eingegriffen wird oder ob die Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit (forum externum) betroffen ist (vgl. BVerwG, U. v. 20.1.2004 – 1 C 9/03 – BVerwGE 120, 16/20 f., juris Rn. 12 ff. m. w. N.). Vielmehr kann ein gravierender Eingriff in die Freiheit, den Glauben im privaten Bereich zu praktizieren, ebenso zur Annahme einer Verfolgung führen wie ein Eingriff in die Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben (EuGH a. a. O. Rn. 62 f.; BVerwG a. a. O. Rn. 24 ff.; VGH BW a. a. O. Rn. 43; OVG NRW a. a. O. Rn. 29 ff.). Für die Frage der Erheblichkeit der Beeinträchtigungen ist daher abzustellen auf die Art der Repressionen und deren Folgen für den Betroffenen (EuGH a. a. O. Rn. 65 ff.), mithin auf die Schwere der Maßnahmen und Sanktionen, die dem Ausländer drohen (BVerwG a. a. O. Rn. 28 ff.; VGH BW a. a. O.; OVG NRW a. a. O.). Dieser Rechtsprechung hat sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung angeschlossen (vgl. VG Würzburg, U. v. 26.4.2016 – W 1 K 16.30268 – juris; U. v. 19.12.2014 – W 1 K 12.30183 – juris Rn. 23; U. v. 25.2.2014 – W 1 K 13.30164 – juris Rn. 23; U. v. 7.2.2014 – W 1 K 13.30044 und W 1 K 13.30045, juris Rn. 19; U. v. 27.8.2013 – W 1 K 12.30200 – juris Rn. 19).
Die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) QRL zu erfüllen, hängt von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (EuGH, U. v. 5.9.2012 – Y und Z, C-71/11 und C-99/11 – juris Rn. 70; BVerwG, U. v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 28 ff.).
Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z. B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere – aber nicht nur – dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, weil ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, keine erhebliche Verfolgungsgefahr begründet (BVerwG, U. v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 28 m. w. N.).
Als relevanter subjektiver Gesichtspunkt ist der Umstand anzusehen, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrenträchtigen religiösen Praxis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (EuGH, U. v. 5.9.2012 – Y und Z, C-71/11 und C-99/11 – juris Rn. 70; BVerwG, U. v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 29; VGH BW, U. v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 48; OVG NRW, U. v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 35). Denn der Schutzbereich der Religionsfreiheit erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet. Dabei kommt es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers an, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (BVerwG, B. v. 9.12.2010 – 10 C 19.09 – BVerwGE 138, 270, juris Rn. 43; VGH BW a. a. O.). Maßgeblich ist dabei, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (BVerwG, U. v. 20.2.2013 a. a. O. Rn. 29). Dieser Maßstab setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glaubens verzichten müsste (BVerwG a. a. O. Rn. 30). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Demgegenüber reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen – jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat – nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben auszuüben oder hierauf zu verzichten (BVerwG a. a. O.; VGH BW a. a. O. Rn. 49).
Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (BVerwG, U. v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 30; B. v. 9.12.2010 – 10 C 19.09 – BVerwGE 138, 270, juris Rn. 43; OVG NRW, B. v. 11.10.2013 – 13 A 2041/13.A – juris Rn. 7; U. v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 13). Dabei ist das Gericht nicht an kirchliche Bescheinigungen und Einschätzungen gebunden (BayVGH, 9.4.2015 – 14 ZB 14.30444 – juris Rn. 5; OVG Lüneburg, B. v. 16.9.2014 – 13 LA 93/14 – juris Rn. 6). Da es sich um eine innere Tatsache handelt, lässt sich die religiöse Identität nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen aufgrund einer ausführlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung feststellen (BVerwG v. 20.2.2013 a. a. O. Rn. 31; VGH BW, U. v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris 50).
Gemessen an diesen Grundsätzen liegen im Falle des Klägers die erforderliche objektive (1.) und subjektive (2.) Schwere der ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan drohenden Verletzung seiner Religionsfreiheit vor. Ihm droht deshalb aufgrund eines anzuerkennenden subjektiven Nachfluchtgrundes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung i. S. d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 1 und 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG.
1. Nach der Überzeugung des Gerichtes sind zum Christentum konvertierte ehemalige Moslems in Afghanistan gezwungen, ihren Glauben entweder ganz zu verleugnen oder ihn zumindest auch im privaten Umfeld zu verheimlichen, da anderenfalls schwerwiegende Übergriffe durch staatliche oder nicht-staatliche Akteure nicht ausgeschlossen werden können. Dauerhafter staatlicher Schutz vor derartigen Übergriffen ist derzeit – auch nur in bestimmten Landesteilen – nicht erreichbar (OVG NRW, U. v. 19.6.2008 – 20 A 3886/05.A – juris Rn. 25 ff.; VG Würzburg, U. v. 27.8.2013 – W 1 K 12.30200 – juris Rn. 25; U. v. 24.9.2012 – W 2 K 11.30303 – UA S. 11 ff.; U. v. 16.2.2012 – W 2 K 11.30264 – UA S. 8 ff.; VG Augsburg, U. v. 8.4.2013 – Au 6 K 13.30004 – juris Rn. 24 ff.; U. v. 9.6.2010 – Au 6 K 10.30098 – juris Rn. 39 ff.; VG Saarland, U. v. 21.3.2012 – 5 K 1037/10 – juris Rn. 33 ff.). Dies ergibt sich aus Folgendem:
Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan erklärt den Islam zur Staatsreligion Afghanistans. Zwar wird den Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften das Recht eingeräumt, im Rahmen der Gesetze ihren Glauben auszuüben und ihre religiösen Bräuche zu pflegen. Somit gewährleistet die Verfassung grundsätzlich das Recht auf freie Religionsausübung. Dieses Grundrecht umfasst jedoch nicht die Freiheit, vom Islam zu einer anderen Religion zu konvertieren, und schützt somit nicht die freie Religionswahl (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: März 2013, S. 10 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Hamburg v. 22.12.2004 Az.: 508-516.80/43288; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage, September 2012, S. 18). Vielmehr kommt im Fall des Wechsels vom Islam zu einer anderen Religion Scharia-Recht zur Anwendung. Konversion wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (sog. Apostasie). Die Todesstrafe wegen Konversion wurde allerdings nach Kenntnissen des Auswärtigen Amtes bisher nie vollstreckt (Lagebericht a. a. O. S. 11). Konvertiten drohen jedoch Gefahren oft auch aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld, da der Abfall vom Islam in der streng muslimisch geprägten Gesellschaft als Schande für die Familienehre angesehen wird (Lagebericht a. a. O.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, zusammenfassende Übersetzung vom 24.3.2011, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage, Oktober 2014, S. 17; Internationale Gesellschaft für Menschenrechte – IGFM, Situation christlicher Konvertiten in Afghanistan – Stellungnahme v. 27.2.2008, S. 1, 8 ff.; Dr. Mostafa Danesch, Gutachten v. 13.5.2004 an das VG Braunschweig, S. 1 ff.). Nach den in Afghanistan vorherrschenden (sunnitischen und schiitischen) Rechtsschulen muss ein vom Islam Abgefallener zur Reue aufgefordert werden. Der Betroffene hat dann drei Tage Bedenkzeit. Widerruft er bis dahin seinen Glaubenswechsel nicht, so ist sein Leben nach islamischer Rechtsauffassung verwirkt (IGFM, Stellungnahme vom 27.2.2008, S. 8; UNHCR-Richtlinien 2011, S. 6). Aus diesen Gründen sind in Afghanistan zum Christentum konvertierte ehemalige Moslems gezwungen, ihren Glauben zu verheimlichen. Es ist ihnen nicht möglich, an Gottesdiensten teilzunehmen, die ohnehin nur in privaten Häusern abgehalten werden könnten, und sie können ihren Glauben nicht einmal im familiären bzw. nachbarschaftlichen Umfeld ausüben (Auswärtiges Amt, Auskunft v. 22.12.2004, S. 2; UNHCR-Richtlinien 2011, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage, Oktober 2014, S. 17; Dr. Mostafa Danesch a. a. O., S. 2 f.). Es wäre Christen auch nicht möglich, sich der Teilnahme an muslimischen Riten wie dem fünf Mal täglichen Gebet, dem Moscheebesuch oder islamischen Feierlichkeiten zu entziehen (Dr. Mostafa Danesch a. a. O., S. 6 f.). Im Februar 2014 wurde durch die Taliban ein Anschlag auf ein „Guesthouse“ verübt, in welchem auch christliche Gottesdienste stattfanden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage, Oktober 2014, S. 17/18). Damit sind zum Christentum konvertierte Moslems in Afghanistan für den Fall, dass sie ihren Glauben nicht ablegen bzw. nicht verleugnen wollen, der Gefahr erheblicher Repressalien auch im privaten Umfeld bis hin zu Ehrenmorden ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Auskunft v. 22.12.2004, S. 2; UNHCR-Richtlinien 2011, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage, Oktober 2014, S. 17; IGFM a. a. O., S. 1, 5, 8 f.; Dr. Mostafa Danesch a. a. O., S. 1 f., 3 ff.). Anderweitige Erkenntnisse ergeben sich auch nicht aus dem aktuellen Lagebericht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 6.11.2015, S. 11, 12).
2. Im Falle des Klägers liegt auch die erforderliche subjektive Schwere der Verletzung der Religionsfreiheit vor, weil es nach Überzeugung des Gerichts ein unverzichtbarer Bestandteil seiner religiösen Identität ist, seinen Glauben nicht zu verheimlichen, sondern ihn gemeinsam mit anderen auszuüben, insbesondere an Gottesdiensten teilzunehmen, sich mit der Bibel und den christlichen Glaubensinhalten zu beschäftigen und den Glauben an andere weiterzugeben.
Der formale Glaubenswechsel des Klägers ist durch den bereits vollzogenen Akt der Taufe am 11. Mai 2015 belegt. Darüber hinaus ist jedoch für die Annahme einer Verfolgungsgefahr und damit für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlich, dass der Glaubenswechsel, insbesondere wenn er erst nach der Ausreise aus dem Herkunftsland durchgeführt wurde, nicht rein aus asyltaktischen Gründen erfolgt, sondern auf einem ernsthaften, dauerhaften religiösen Einstellungswandel beruht und nunmehr die religiöse Identität des Betroffenen prägt (BayVGH, B. v. 20.4.2015 – 14 ZB 13.30257 – juris Rn. 4; B. v. 9.4.2015 – 14 ZB 14.30444 – juris Rn. 7; HessVGH, U. v. 26.7.2007 – 8 UE 3140/05.A – juris Rn. 20 ff.; B. v. 26.6.2007 – 8 UZ 1463/06.A – juris Rn. 12 ff.; OVG NRW, U. v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 37 ff.). Auf eine solche echte Glaubensüberzeugung kommt es nur dann nicht an, wenn im Herkunftsland bereits die Tatsache des formalen Glaubenswechsels genügt, um eine Verfolgungsgefahr zu begründen, selbst wenn der Betroffene seinen Glauben verheimlichen oder gar verleugnen würde (HessVGH a. a. O.; OVG NRW a. a. O.). Letzteres ist in Afghanistan nach der Erkenntnislage und der Rechtsprechung (vgl. z. B. HessVGH a. a. O.; OVG NRW a. a. O.), der sich das erkennende Gericht anschließt, jedoch nicht der Fall.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung die Hintergründe und Motive seines Glaubenswechsels zur vollen Überzeugung des Gerichts glaubhaft machen können. Das Gericht hat hierbei den Eindruck gewonnen, dass der Kläger sich aus voller innerer Überzeugung von seinem bisherigen Bekenntnis zum islamischen Glauben gelöst und dem Christentum zugewandt hat. So hat der Kläger nachvollziehbar dargelegt, wie er im Iran, obwohl seine Mitmenschen – wie er selbst – islamischen Glaubens gewesen seien, von der einheimischen Bevölkerung unterdrückt worden sei, weil er der Volksgruppe der Hazara zugehört und aus Afghanistan stammt. In Deutschland sei er dann vor etwa eineinhalb Jahren über einen iranischen Freund sowie seine seinerzeitige Deutschlehrerin das erste Mal mit der christlichen Gemeinde … in Berührung gekommen. Der Kläger hat sodann überzeugend weiter ausgeführt, dass jeder Mensch eine Beruhigung brauche; er selbst benötige diese Ruhe insbesondere wegen seiner schwierigen Situation in Deutschland und weil man im Iran versucht habe, ihn zu töten. Er habe nach dem Besuch der Gottesdienste gespürt, dass er stets ruhiger gewesen sei; er habe sich immer gut gefühlt, so dass aufgrund dessen mit der Zeit der Glaube für ihn immer interessanter geworden sei. Die positive Wirkung der Gemeinschaft im Glauben auf seine eigene Person und die Erfahrung, dass die Menschen in der Kirche stets sehr nett zu ihm gewesen seien, hätten schließlich dazu geführt, dass auch er „so ein Mensch habe werden wollen“, weshalb er sich zur Taufe entschlossen habe.
Der Kläger hat zudem überzeugend darlegen können, dass er sich aus tiefer innerer Überzeugung dem Christentum zugewendet hat. Er hat in diesem Zusammenhang erläutert, dass er vom Christentum das erhalte, was er vom Islam nicht bekommen habe. Zentral sei für ihn in diesem Zusammenhang die Nächstenliebe im christlichen Glauben, die es im Islam so nicht gebe. Dies deckt sich auch mit der von ihm beschriebenen lebensgeschichtlichen Erfahrung, wonach er im Iran von gläubigen Menschen des Islam rein aufgrund äußerer Merkmale unterdrückt worden sei. Ein zweiter herausragender Aspekt für die Hinwendung zum christlichen Glauben sei für ihn der Friede; Frieden und Liebe seien die zentralen Aspekte in der Bibel, wohingegen der Koran grausam sei und man im Islam alles machen dürfe. Er sehe im Christentum zudem den einzig richtigen Weg, sich Gott zu nähern. Wichtig sei ihm hierbei vor allem, dass es sich beim christlichen Glauben um eine Religion handele, in der jeder sein Recht bekomme. Damit hat der Kläger einen gewissensgeleiteten, durch religiöse Werte und Normen hervorgerufenen Akt der inneren Umkehr und einen Wendepunkt in seinem Leben glaubhaft geschildert und hiermit hinreichend deutlich gemacht, dass es sich bei seiner Hinwendung zum Christentum um eine Gewissensentscheidung handelt, die von einer echten Glaubensüberzeugung und nicht von asyltaktischen Erwägungen geleitet ist. Der Kläger machte auf das Gericht in der mündlichen Verhandlung einen sehr ruhigen und in sich gekehrten Eindruck; seine Antworten auf die Fragen des Gerichts waren jedoch stets spontan und ohne Zögern. An keiner Stelle drängte sich dem Gericht der Eindruck auf, dass der Kläger in seinen Aussagen inhaltlich übertrieben, sondern stets in jeder Hinsicht authentisch von tatsächlichen eigenen Überzeugungen und Erlebnissen berichtet hat. Der Kläger erscheint dem Gericht daher auch persönlich glaubwürdig.
Der Kläger hat darüber hinaus auch glaubhaft machen können, mit zentralen Inhalten des christlichen Glaubens vertraut zu sein, indem er etwa auf Frage des Gerichts eine Reihe von christlichen Feiertagen aufzählen und deren Bedeutung erläutern konnte. Auch die Bedeutung der 10 Gebote konnte der Kläger darlegen sowie den Inhalt einzelner dieser Gebote benennen. Auch dies spricht nach Überzeugung des Gerichts für die Glaubhaftigkeit der Konversion.
Der Kläger konnte auch darlegen, dass er seinen neuen Glauben in Deutschland praktiziert und dies auch in Afghanistan tun wollen würde. Er hat diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung glaubhaft erläutert, dass er jede Woche am Gottesdienst der Gemeinde …. teilnehme und dort zudem über die Bibel und das Christentum unterrichtet werde. Er habe sich explizit dieser Gemeinde angeschlossen, da der Glaube dort auch in persischer Sprache unterrichtet werde, was ihm besonders wichtig gewesen sei. Auch hierdurch wird die Ernsthaftigkeit des Glaubenswechsels zur Überzeugung des Gerichts nochmals bekräftigt. Überdies übernehme er in der Gemeinde auch ehrenamtliche Tätigkeiten und helfe neuen Flüchtlingen, die in die Gemeinde kämen. All diese Betätigungen werden auch durch eine Bescheinigung der Gemeinde Bauhaus e.V. vom 11. Juli 2015 bestätigt. Der Kläger hat klar und deutlich erklärt, dass er auch in Afghanistan auf jedem Fall Christ bleiben und seinen neuen Glauben dort öffentlich verbreiten wolle. Eine Rückkehr zum Islam und ein Leben nach den islamischen Glaubensriten könne er sich nicht mehr vorstellen. Er sei nun zum christlichen Glauben gekommen und wolle auch weiterhin danach leben. Mit diesen genannten Verhaltensweisen und Überzeugungen würde der Kläger in der ausschließlich muslimisch geprägten Gesellschaft Afghanistans unweigerlich auffallen und landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erheblichen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sein. Damit hat er glaubhaft gemacht, auch in Afghanistan unter Inkaufnahme von Risiken als Christ leben zu wollen. Es steht somit fest, dass der Kläger sich zur Wahrung seiner religiösen Identität auch in Afghanistan zu seinem Glauben bekennen würde. Es wäre ihm deshalb im Herkunftsland nicht möglich, seine Religion entsprechend seinem religiösen Selbstverständnis auszuüben, ohne der Gefahr einer Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure i. S. des § 3c Nr. 1, 3 AsylG ausgesetzt zu sein.
Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Die oben (unter 1.) geschilderten Gefahren für vom Glauben abgefallene Muslime drohen in Afghanistan landesweit, auch in der Stadt Kabul. Zwar mögen insbesondere nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes Repressionen gegen Konvertiten in städtischen Gebieten aufgrund der größeren Anonymität weniger als in Dorfgemeinschaften zu befürchten seien. Selbst dort würde aber ein vom Glauben abgefallener Muslim unweigerlich auffallen und selbst im privaten, familiären Umfeld bedroht sein (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg vom 13.5.2012 im Verfahren W 2 K 11.30269). Schutz vor Übergriffen ist jedoch in keinem Landesteil Afghanistans dauerhaft zu erreichen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.12.2004, S. 2; Schweizerische Flüchtlingshilfe, a. a. O., S. 19; IGFM, a. a. O., S. 1). In der Rechtsprechung wird diese Einschätzung teilweise geteilt (z. B. OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 19.6.2008 – 20 A 3886705.A – InfAuslR 2008, 411, juris Rn. 33 ff., dort auch explizit zu Kabul; VG Würzburg, U. v. 19.5.2015 – W 1 K 14.30534 – juris Rn. 36 m. w. N.; VG Augsburg, U. v. 8.4.2013 – AU 6 K 13.30004 – juris Rn. 27 ff.; U. v. 18.1.2011 – AU 6 K 10.30647 – juris Rn. 46; eine Fluchtalternative in Kabul bejahend VG Augsburg, U. v. 22.6.2012 – AU 6 K 11.30345 – juris Rn. 20 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 12.4.2013 – 13 A 2819/11.A – juris Rn. 26). Der Bayer. Verwaltungsgerichtshof hat diese Frage, soweit ersichtlich, in Bezug auf Konvertiten offen gelassen (vgl. BayVGH, B. v. 16.5.2013 – 13a ZB 12.30297 – juris Rn. 3 f.); in der genannten Entscheidung war dies nicht entscheidungserheblich. Das erkennende Gericht schließt sich im vorliegenden Verfahren aufgrund der Ausführungen in den zitierten Erkenntnismitteln der Auffassung an, wonach eine innerstaatliche Fluchtalternative für glaubhaft vom Islam abgefallene ehemalige Moslems in Afghanistan ausscheidet, wenn sie nicht bereit sind, entgegen ihrer inneren Überzeugung an religiösen Riten und Feierlichkeiten teilzunehmen (vgl. VG Würzburg, U. v. 26.4.2016 – W 1 K 16.30268 – juris; U. v. 19.5.2015 – W 1 K 14.30534 – juris; U. v. 19.12.2014 – W 1 K 12.30183 – juris). Ein derartiges Verhalten wäre dem Kläger nicht zumutbar, da es, wie in der mündlichen Verhandlung deutlich wurde, seine religiöse Identität verletzen würde.
Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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