Verwaltungsrecht

Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz – maßgeblicher Zeitpunkt für die Minderjährigkeit

Aktenzeichen  B 7 K 20.30677

Datum:
10.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 41375
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 5, § 3b, § 12, § 13 Abs. 1, § 14 Abs. 1, § 26 Abs. 2, Abs. 5

 

Leitsatz

Im Anschluss an das Urteil des EuGH vom 09.09.2021 (C-768.19) = BeckRS 2021, 25404 ist davon auszugehen, dass es für die Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz gem. § 26 Abs. 2 AsylG ausreichend ist, wenn das Kind zum Zeitpunkt seiner materiellen Asylantragstellung i.S.d. § 13 AsylG minderjährig war. (Rn. 22 – 25)

Tenor

1. Die Beklagte wird – unter Aufhebung der Ziff. 2 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13.09.2016 – verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I. Das Gericht konnte über die Klage gem. § 84 Abs. 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Natur aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden vor Erlass des Gerichtsbescheides gehört. Im Übrigen hat sich die Beklagte bereits mit Schriftsatz vom 06.10.2016 mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden erklärt.
II. *Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Dem Kläger steht ein abgeleiteter Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG zu (dazu 1.). Ein originärer Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG besteht hingegen nicht (dazu 2.).
1. Der Kläger kann gem. § 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 AsylG den Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft jedenfalls von seinen Eltern ableiten, denen im Verfahren Gz. … mit Bescheid vom 07.06.2016 unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde.
Gem. § 26 Abs. 2 AsylG wird ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten auf Antrag als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. Gem. § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG gilt die Vorschrift für Familienangehörige von international Schutzberechtigten entsprechend, wobei an die Stelle der Asylberechtigung die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz tritt (§ 26 Abs. 5 Satz 2 AsylG). Was unter „Zeitpunkt seiner Asylantragstellung“ gemäß § 26 Abs. 2 AsylG zu verstehen ist, ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten. Teilweise wird davon ausgegangen, dass für die Feststellung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der materiellen Asylantragstellung, also auf das Asylgesuch nach § 13 AsylG, abzustellen ist (VG Köln, U.v. 10.4.2018 – 14 K 1435.15.A – juris; vgl. auch OVG Bremen, U.v. 20.7.2021 – 2 LB 96.21 – juris, zu § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG m.w.N.). Nach anderer Ansicht ist der Asylantrag im Sinne des § 26 Abs. 2 AsylG nicht der Antrag nach § 13 AsylG, sondern die Asylantragstellung nach § 14 AsylG beim Bundesamt (VG Köln, U.v. 11.2.2019 – 21 K 10043.16.A – juris; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 13 AsylG Rn. 3). Nach dem Beschluss des OVG Münster vom 21.05.2021 (14 A 895/18.A – juris) soll der Asylantrag eines minderjährigen Ausländers wiederum dann im Sinne des § 26 Abs. 2 AsylG gestellt sein, wenn der zuständigen Stelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge eine schriftliche, mündliche oder andere Äußerung des minderjährigen Ausländers zugeht, der sich entnehmen lässt, dass der minderjährige Ausländer im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht. Dementsprechend soll auch ein formloses Asylgesuch gem. § 13 AsylG bei einer anderen Behörde ausreichen, wenn diese Äußerung der zuständigen Stelle des Bundesamts vor der Volljährigkeit des Asylsuchenden weitergeleitet wird bzw. anderweitig zugeht, so dass nach der Auffassung des OVG Münster ein Asylantrag im Sinne von § 26 Abs. 2 AsylG schon vor der förmlichen Antragstellung beim Bundesamt nach § 14 AsylG vorliegen kann.
Mit dieser „Problematik“ hat sich nunmehr auch der EuGH im Urteil vom 09.09.2021 (C – 768.19 – juris) befasst. Zwar betraf das Vorabentscheidungsverfahren primär Auslegungsfragen der Richtlinie im Rahmen des § 26 Abs. 3 AsylG, der EuGH hat aber insoweit mehr als deutlich generell zum Anknüpfungspunkt der Minderjährigkeit im Rahmen des § 26 AsylG Stellung genommen. Dabei greift der EuGH explizit den Unterschied im deutschen Recht zwischen dem formlosen Asylgesuch nach § 13 Abs. 1 AsylG und der förmlichen Stellung von Asylanträgen nach § 14 Abs. 1 AsylG auf und arbeitet heraus, dass für die Einreichung des Asylgesuchs im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylG keine bestimmte Form erforderlich sei sowie dass nach der Rechtsprechung des EuGH die „Stellung“ eines Antrags auf internationalen Schutz keine Verwaltungsformalität erfordere, da solche Formalitäten erst bei der „förmlichen Stellung“ des Antrags zu erfüllen seien. In Anbetracht dessen könne die Erlangung der Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt, weder von der förmlichen Stellung des Antrags, noch von dessen Registrierung abhängig gemacht werden. Es reiche vielmehr aus, dass bei einer „anderen Behörde“ die Absicht, internationalen Schutz zu beantragen, bekundet werde, um dem Ausländer die Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantrage, zu verleihen. Zusammenfassend kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich der Frage der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der Antragsteller – ggf. formlos – seinen Asylantrag eingereicht hat.
Diesen überzeugenden Erwägungen des EuGH schließt sich der erkennende Einzelrichter vollumfänglich an. Bei anderweitiger Sichtweise würde die „rechtzeitige Antragstellung“ und damit auch der Anspruch nach § 26 Abs. 2 AsylG von Umständen abhängen, die außerhalb der Sphäre des Minderjährigen liegen (beispielsweise die verzögerte Möglichkeit der förmlichen Antragstellung nach § 14 AsylG bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamts bzw. – nach der Rechtsprechung des OVG Münster – die rechtzeitige Weiterleitung des Asylgesuchs bei einer anderen Behörde an das Bundesamt), was – wie der EuGH mehrmals betont – mit dem Konstrukt des Familien(flüchtlings) schutzes nicht vereinbar ist.
Unschädlich ist ferner, dass der Kläger beim LABO Berlin den insoweit ausreichenden Asylantrag im Sinne von § 13 AsylG als Minderjähriger ohne Beisein eines gesetzlichen Vertreters gestellt hat. Die Antragstellung nach § 13 AsylG unterliegt nämlich keinen Formerfordernissen und setzt insbesondere keine Handlungsfähigkeit nach § 12 AsylG voraus (Houben in: BeckOK Ausländerrecht, § 13 AsylG Rn. 6 m.w.N.; Treiber in: GK – AsylG, § 13 Rn. 26 m.w.N.; a.A. offenbar OVG Müster, B.v. 21.5.2021 – 14 A 895.18.A – juris, welches die schriftliche, mündliche oder andere Äußerung des gesetzlichen Vertreters des minderjährigen Ausländers für einen Asylantrag im Sinne des § 26 Abs. 2 AsylG fordert, was jedoch ersichtlich der Auslegung des EuGH im Urteil vom 09.09.2021 widersprechen dürfte). Dies gilt nach Auffassung des erkennenden Gerichts jedenfalls im vorliegenden Fall, indem ein fast volljähriger Ausländer ein Asylgesuch i.S.d. § 13 AsylG gegenüber einer Behörde äußert. Insoweit ist davon auszugehen, dass ihm Sinn und Zweck seiner Handlung bewusst waren. Ferner hat das Gericht – was auch von der Beklagten nicht ernsthaft „bestritten“ wird – keine Zweifel daran, dass am 24.11.2015 beim LABO auch inhaltlich ein materielles Asylgesuch i.S.d. § 13 AsylG gestellt wurde, da weder dargelegt noch sonst ersichtlich ist, warum der Kläger ansonsten insbesondere seinen Pass beim LABO hinterlegt haben sollte.
Letztlich sind auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei den stammberechtigten Eltern zu widerrufen oder zurückzunehmen wäre, so dass – entgegen der Auffassung des Beklagten – dem Kläger ein Anspruch auf Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG zusteht.
2. Ein originärer Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers nach § 3 AsylG besteht hingegen nicht. Der Kläger hat Syrien weder vorverfolgt im Sinne des Flüchtlingsrechts verlassen, noch liegen sog. Nachfluchtgründe vor. Insoweit verweist das Gericht zunächst auf den angefochtenen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG). Daneben ist ergänzend auszuführen:
a) Der Kläger hat sein Herkunftsland nicht vorverfolgt im Sinne des Flüchtlingsrechts verlassen. Bei der persönlichen Anhörung am 18.07.2016 führte der Kläger gegenüber dem Bundesamt im Wesentlichen aus, er sei wegen des Krieges aus Syrien geflohen. Die Lage dort sei schlecht. Er sei nach Deutschland gekommen, um eine Ausbildung als Zahntechniker zu machen. Persönlich sei ihm in Syrien nichts passiert. Er habe jedoch Angst, zum Militär eingezogen zu werden. Deswegen sei er auch geflohen.
An der fehlenden Vorverfolgung des Klägers ändern auch die Ausführungen seines Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom 07.07.2020 nichts. Dort führt der Klägerbevollmächtigte im Wesentlichen aus, der Kläger stamme aus einer oppositionellen Familie, die sich an zahlreichen Demonstrationen in Damaskus gegen das Assad-Regime beteiligt habe. Auch der Kläger habe sich trotz seines damaligen jugendlichen Alters an diesen Demonstrationen beteiligt. Daher sei der Name der Familie des Klägers dem Regime bekannt. Bei der Ausreise über den Flughafen sei der Kläger zudem durch einen Polizeioffizier geschlagen und getreten worden und man habe nur aufgrund seines jugendlichen Alters vom Kläger abgelassen. Neben der Tatsache, dass die „nachgeschobenen“ Vorfluchtaspekte bei der Anhörung des Klägers am 18.07.2016 – zu einem Zeitpunkt, als dieser bereits 18 Jahre alt war und die Relevanz der Anhörung durchaus erkennen konnte – mit keinem Wort erwähnt wurden, fehlt es auch den Ausführungen im Schriftsatz vom 07.07.2020 an jeglicher Substanz. Auch der Bundesamtsakte der Eltern des Klägers ist nicht einmal ansatzweise die Teilnahme an zahlreichen Demonstrationen zu entnehmen, geschweige denn, dass von einer oppositionellen Familie gesprochen werden könnte. Im Übrigen kann – selbst bei Wahrunterstellung – nicht davon ausgegangen werden, dass eine Teilnahme des Klägers an Demonstrationen im „jugendlichen Alter“ zu flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen geführt haben. Dies wird auch von der Klägerseite nicht behauptet. Auch der einmalige Vorfall am Flughafen bei der Ausreise des Klägers stellt ersichtlich keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 AsylG dar.
b) Nachfluchtgründe sind ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Dem Kläger droht auch bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Syrien nunmehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine die Flüchtlingseigenschaft begründende Verfolgung.
aa) Eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Gefahr für den Kläger kann nicht im Hinblick darauf bejaht werden, dass – unterschiedslos – allen Syrern im Falle einer Rückkehr nach Syrien allein wegen ihrer (illegalen) Ausreise, ihrer Asylantragstellung und ihres längeren Aufenthalts im westlichen Ausland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den syrischen Staat drohen würde. Es ist unter Berücksichtigung der aktuellen Auskunftslage weiterhin nicht davon auszugehen, dass syrische Sicherheitskräfte jedem zurückkehrenden Asylantragsteller unterstellen, ein Regimegegner zu sein. Dies ist obergerichtlich geklärt (vgl. BayVGH, U.v. 21.9.2020 – 21 B 19.32725 – juris Rn. 23 ff.; U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 37 ff.; OVG Hamburg, U.v. 11.1.2019 – 1 Bf 81/17.A – juris, Rn. 52 ff., 63 ff.; U.v. 29.5.2019 – 1 Bf 284/17.A – juris, Rn. 100 ff., OVG LSA, U. v. 1.7.2021 – 3 L 154/18 – juris, Rn. 55 ff.; OVG Berlin-Bbg, U.v. 28.5.2021 – OVG 3 B 42.18 – juris, Rn. 34; OVG MV, U.v. 26.5.2021 – 4 L 238/13 – juris, Rn. 40; NdsOVG, U. v. 22.4.2021 – 2 LB 147/18 – juris, Rn. 42 ff.; OVG Bremen, U.v. 24.3.2021 – 2 LB 123/18 – juris, Rn. 30; OVG NW, U.v. 13.3.2020 – 14 A 2778/17.A – juris, Rn. 33 ff., U.v. 22.3.2021 – 14 A 3439/18.A – juris, Rn. 41 ff.; VGH BW, U.v. 4.5.2021 – A 4 S 468/21 – juris, Rn. 28). Besondere gefahrerhöhende Umstände, insbesondere aufgrund einer etwaiger Vorverfolgung, liegen in der Person des Klägers nicht vor.
bb) Dem Kläger droht ferner nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung wegen einer Entziehung vom Wehrdienst durch seine Ausreise aus Syrien.
Der staatlichen Wehrpflicht – ohne die Möglichkeit einer Kriegsdienstverweigerung – unterliegen in Syrien nach dem dortigen Recht Männer im Alter von 18 bis 42 Jahren mit syrischer Staatsangehörigkeit. Es entsprach bereits bisher der ständigen Rechtsprechung des Gerichts, das sich der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes angeschlossen hat (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 21.9.2020 – 21 B 19.32725 – juris), dass einem syrischen Mann im militärdienstpflichtigen Alter (Wehr- oder Reservedienst) keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit in Syrien droht, wenn er hypothetisch wieder zurückkehren würde. Männern, die sich dem Wehr- oder Reservedienst durch ihre Ausreise aus Syrien und ihrem Aufenthalt im Ausland entzogen haben, kann erst dann eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung drohen, wenn weitere risikoerhöhende Faktoren in der jeweiligen Person vorliegen. Hieran hält das Gericht auch unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnislage und unter Berücksichtigung des Urteils des EuGH vom 19.11.2020 (C- 238/19) fest.
Nach dem Regelbeispiel des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG können zwar als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG auch die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Die dem zugrunde liegende Vorschrift des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2011/95/EU ist nach der jüngsten Rechtsprechung des EuGH dahingehend auszulegen, dass sie es, wenn das Recht des Herkunftsstaats die Möglichkeit der Verweigerung des Militärdienstes nicht vorsieht, nicht verwehrt, diese Verweigerung in dem Fall festzustellen, in dem der Betroffene seine Verweigerung nicht in einem bestimmten Verfahren formalisiert hat und aus seinem Herkunftsland geflohen ist, ohne sich der Militärverwaltung zur Verfügung zu stellen (EuGH, U.v. 19.11. 2020 – C-238/19 – juris Rn. 32). Für einen Wehrpflichtigen, der seinen Militärdienst in einem Konflikt verweigert, seinen künftigen militärischen Einsatzbereich aber nicht kennt, würde demnach die Ableistung des Militärdienstes in einem Kontext eines allgemeinen Bürgerkriegs, der durch die wiederholte und systematische Begehung von Verbrechen oder Handlungen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet ist, unabhängig vom Einsatzgebiet unmittelbar oder mittelbar die Beteiligung an solchen Verbrechen oder Handlungen umfassen (EuGH, U. v. 19.11. 2020 – C-238/19 – juris Rn. 32).
Aus der gesetzlichen Bestimmung des § 3a Abs. 3 AsylG, der insoweit Art. 9 Abs. 3 der RL 2011/95/EU umsetzt, ergibt sich aber, dass die Qualifizierung einer Handlung als Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 bis 6 AsylG noch nicht ausreicht, um eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahme zu begründen. Hinzukommen muss vielmehr eine „Verknüpfung“ zwischen Handlung und Verfolgungsgrund, d.h. die Verfolgung muss „wegen“ bestimmter Verfolgungsgründe drohen (BVerwG, B.v. 5.12.2017 – 1 B 131/17 -juris Rn. 10). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen daher, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. BVerwG, U. v. 6.2.2019 – 1 A 3/18 – juris Rn. 98). Der EuGH führt im Urteil vom 19.11.2020 zwar aus, dass eine starke Vermutung dafürspreche, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) RL 2011/95/EU genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 RL 2011/95/EU – der dem § 3b AsylG zugrunde liegt – aufgezählten Gründe in Zusammenhang steht. Es sei aber Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen.
Vorliegend kann dahinstehen, ob der Militärdienst in Syrien Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (verneinend beispielsweise SächsOVG, U.v. 22.9.2021 – 5 A 855.19.A – juris) und ob dem Kläger bei einer (hypothetischen) Rückkehr wegen seiner Militärdienstentziehung eine Verfolgungshandlung durch das syrische Regime droht. Es besteht jedenfalls keine Verknüpfung einer evtl. Verfolgungshandlung mit einem der in § 3b AsylG aufgezählten Verfolgungsgründe. Das Gericht geht – mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung – unter Auswertung der vorliegenden Erkenntnisquellen davon aus, dass der syrische Staat einfache Wehrdienstentzieher – wie den hiesigen Kläger – nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als politische Oppositionelle oder Regimegegner ansieht und schließt sich insoweit der weit überwiegenden aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung an, insbesondere der Bewertung, dass die nach der Rechtsprechung des EuGH für eine Verknüpfung von Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG und Verfolgungsgrund sprechende „starke Vermutung“ widerlegt ist (vgl. mit teils unterschiedlicher Begründung: BayVGH, U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 74 ff.; OVG NW, U.v. 22.3.2021 – 14 A 3439/18.A – juris, Rn. 46 ff.; NdsOVG, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 147/18 – juris, Rn. 48 ff.; VGH BW, U.v. 4.5.2021 – A 4 S 468/21 – juris, Rn. 25 ff.; OVG MV, U.v. 26.5.2021 – 4 L 238/13 – juris, Rn. 27 ff.; OVG LSA, U.v. 1.7.2021 – 3 L 154/18 -, juris, Rn. 58 ff.; HessVGH, U.v. 23.8.2021 – 8 A 1992/18.A – juris; SächsOVG, U.v. 22.9.2021 – 5 A 855.19.A – juris; mit Blick auf eine Entziehung vom Reservedienst ebenso: OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 28.5.2021 – OVG 3 B 42.18 – juris, Rn. 23 ff.; a.A. mit Blick auf Männer, die noch keinen Wehrdienst geleistet haben: OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.1.2021 – OVG 3 B 109.18 – juris, Rn. 78 ff.).
cc) Soweit sich der Bevollmächtigte des Klägers auf den Bericht von Amnesty International mit dem Titel „You‘re going to your death“ vom September 2021 beruft, ist festzustellen, dass sich aus den dortigen Ausführungen kein anderes Ergebnis ableiten lässt. Vielmehr stützt dieser Bericht, der sich im Übrigen mit der Problematik der Militärdienstentziehung nicht eingehend befasst, die genannte obergerichtliche Rechtsprechung, die davon ausgeht, dass das syrische Regime nicht zielgerichtet gegen syrische Rückkehrer vorgeht, die Syrien (illegal) verlassen haben, einen Asylantrag gestellt haben, längere Zeit im Ausland gelebt haben oder sich durch ihre Ausreise dem Militärdienst entzogen haben. Auch aus diesem Bericht ergeben sich nicht ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass das syrische Regime allen Rückkehrenden eine oppositionelle Haltung unterstellt. Die in dem Bericht genannten Vorhalte, die Rückkehrenden gemacht werden, sind nicht einheitlich und es lässt sich auch kein „Muster“ dahingehend erblicken, dass zielgerichtet bestimmen Personengruppen flüchtlingsrelevante Vorhalte gemacht werden. So führt der Bericht vielmehr unterschiedliche Vorhalte der Sicherheitsbehörden aus. So wurde Rückkehrenden vorgeworfen, sie hätten ihr Land im Stich gelassen und würden nunmehr zurückkehren, weil das Land befriedet sei. Anderen wurde vorgeworfen, sie hätten das Militär nicht unterstützt. Frauen wurden als Prostituierte bezeichnet, weil sie Syrien verlassen haben und in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebten. Verhaftet wurden sogar Personen, die sich eindeutig als Anhänger von Bashar al-Assad gezeigt haben. Weitere Vorwürfe waren z.B. die IS-Anhängerschaft oder die Unterstützung des Terrorismus. Verhaftungen erfolgten schließlich auch, damit Bestechungsgelder für eine Freilassung kassiert werden konnten. Diese Angaben im genannten Bericht zeigen gerade keine eindeutige Strategie der syrischen Sicherheitsbehörden zum Umgang mit Rückkehrenden auf. Der Umgang ist maßgeblich von der Entscheidung des jeweiligen Beamten bzw. der Sicherheitskräfte abhängig. Die grundsätzliche Gefahr, bei Kontakten mit syrischen Sicherheitskräften Opfer einer willkürlichen Festnahme oder auch Misshandlung zu werden, kann zwar angenommen werden. Es fehlt aber an einer erforderlichen Verknüpfung zwischen einer etwaigen Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund. Eine pauschale und regelhafte Unterstellung einer regimefeindlichen Gesinnung betreffend syrische Rückkehrer ergibt sich auch nicht aus dem Bericht von Amnesty International. Dieser zeigt vielmehr gerade das willkürliche und uneinheitliche Vorgehen der Sicherheitsbehörden auf. Insoweit wurde dem Kläger auch seitens des Bundesamtes der subsidiäre Schutzstatus zugesprochen.
3. Da dem Kläger ein abgeleiteter Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 AsylG zusteht, war die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht erhoben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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