Verwaltungsrecht

Zulassung der Berufung (abgelehnt), Grundsätzliche Bedeutung (verneint), Dublin-Verfahren, Kleinkind (geb. 2020), Bestandskräftige Unzulässigkeitsentscheidung, Feststellung von Abschiebungshindernissen bezüglich Italien bei Rückkehr im Familienverband

Aktenzeichen  24 ZB 22.50009

Datum:
11.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8475
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG §§ 29 Abs. 1 Nr. 1, 78 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 S. 4
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Verfahrensgang

W 8 K 21.50166 2022-03-11 GeB VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungszulassungsantrags.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Klägerin ist nach Angaben ihrer Mutter nigerianische Staatsangehörige und im Jahr 2020 in Deutschland geboren. Ihre Mutter hat nach Angaben der italienischen Behörden im Schreiben vom 14. Dezember 2020 in Italien den internationalen Schutzstatus zuerkannt bekommen und verfügt dort über eine Aufenthaltserlaubnis „Asyl“ die bis 12. November 2023 befristet ist.
Mit Bescheid vom 1. Juni 2021 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag der Klägerin nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen, ordnete die Abschiebung nach Italien an und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 15 Monate.
Mit Bescheiden vom 27. Mai 2021 und 12. März 2021 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Mutter (Klägerin im Verfahren 24 ZB 22.30322) und des Vaters (Kläger im Verfahren 24 ZB 22.50010) der Klägerin nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 und § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ab, da die Mutter in Italien internationalen Schutz erhalten habe und für den Vater nach der Dublin-III-VO Italien der zuständige Mitgliedstaat sei.
Mit Beschluss vom 21. Juni 2021 ordnete das Verwaltungsgericht Würzburg die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 1. Juni 2021 an (Az. W 10 S 21.50167). Mit Gerichtsbescheid vom 11. März 2022 hob das Verwaltungsgericht Nr. 2 bis 4 des Bescheids vom 1. Juni 2021 auf und verpflichtete die Beklagte, festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italiens vorliegt. Im Übrigen wies es die Klage ab. Die Unzulässigkeitsentscheidung sei rechtmäßig, denn es drohten keine unmenschlichen Zustände in Italien. Die Klägerin dürfe aber nicht ohne vorherige Zusicherung der italienischen Behörde, dass eine Unterkunft zur Verfügung gestellt werde, abgeschoben werden. Hinsichtlich des Vaters der Klägerin erging eine entsprechende Entscheidung. Hinsichtlich der Mutter der Klägerin hob das Verwaltungsgericht ebenfalls mit Gerichtsbescheid vom 11. März 2022 den Bescheid vom 27. Mai 2021 bis auf die Anordnung, sie dürfe nicht nach Nigeria abgeschoben werden (Nr. 3 Satz 4 des Bescheids vom 27. Mai 2021), auf.
Die Beklagte hat gegen alle drei Entscheidungen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Sie macht geltend, die Berufung sei wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Es stellten sich die grundsätzlichen Tatsachenfragen,
ob Antragstellern bzw. Familien mit minderjährigen Kindern, welche in Italien internationalen Schutz erhalten haben, eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK insbesondere Obdachlosigkeit droht, welche die Beklagte verpflichten, ein Asylverfahren in eigener Zuständigkeit durchzuführen,
bzw. ob anerkannt Schutzberechtigten bzw. Familien mit minderjährigen Kindern in Italien spätestens dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit und extreme Armut droht, sobald ihr zeitlich befristeter Aufenthalt in den Aufnahmezentren beendet ist,
insb. ob international Schutzberechtigte tatsächlich Zugang zu einem sog. SAI-Projekt erhalten können oder ob Obdachlosigkeit durch Zugang zu anderen karitativen Einrichtungen abgewendet werden kann.
Zur Begründung wird ausgeführt, für international schutzberechtigte Rückkehrerinnen und Rückkehrer, die noch keinen Zugang zu einem solchen Projekt gehabt hätten, bestehe grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu einem SAI-Projekt. Hätten sie schon früher Zugang zu einem solchen Projekt erhalten, dann könnten sie über die zuständigen Präfekturen, die Quästuren oder die Kommunen, die das SAI-Projekt betreiben, einen Antrag auf Rückkehr in eine SAI oder eine staatliche Unterkunft stellen. Vulnerable Personen würden prioritär behandelt und hätten größere Chancen, in eine SAI zurückkehren zu können. Zwar sei grundsätzlich nur eine Aufnahme für sechs Monate vorgesehen, diese könne aber verlängert werden. Zudem stünden anerkannt Schutzberechtigten Unterstützung bei der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten und einer Wohnung zur Verfügung. Ergänzend zu den behördlichen Aufnahmezentren bestehe ein Netzwerk von privaten Einrichtungen, die von kirchlichen und Nichtregierungsorganisationen getragen würden und Unterbringungsmöglichkeiten in nichtstaatlichen Unterkünften in der Trägerschaft von Vereinen, NGO’s und kirchlichen Organisationen. Die Aufnahmebedingungen in Italien hätten sich weiter verbessert und die Klägerin habe zusammen mit ihrer im Dublin-Verfahren befindlichen Tochter gute Chancen, einen Platz in einer Einrichtung zu bekommen. Bei vulnerablen Rückkehrern sei die Unterkunft auch bereits bei Ankunft sichergestellt, denn es erfolge eine Anbietung zur Rückübernahme und erst wenn eine Unterkunft gefunden sei, werde eine Überstellung vorgenommen. Dies resultiere aus einer entsprechenden Vereinbarung der italienischen Grenzpolizei und dem italienischen Kommunalverband.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, denn keiner der in § 78 Abs. 3 AsylG genannten Berufungszulassungsgründe ist hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG ist erforderlich, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und klärungsfähig, insbesondere entscheidungserheblich, ist; ferner, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72; Seeger in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.1.2022, § 78 AsylG Rn. 18 ff.). Diese Voraussetzungen erfüllt die Begründung des Berufungszulassungsantrags nicht.
Soweit mit allen formulierten Fragen für grundsätzlich klärungsbedürftig angesehen wird, ob anerkannt Schutzberechtigten eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK, insbesondere Obdachlosigkeit droht, ist diese Frage hier nicht klärungsfähig, da die Klägerin unstreitig in Italien nicht als schutzberechtigt anerkannt worden ist, sondern gemäß der Dublin-III-VO überstellt werden soll. Auch die Frage, ob diese Gefahren zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland führen müssen, stellt sich hier nicht, denn die Klage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Der Bescheid ist diesbezüglich mittlerweile in Bestandskraft erwachsen, da die Klägerin kein Rechtsmittel eingelegt hat. Das Verwaltungsgericht geht offensichtlich davon aus, dass das italienische Asylverfahren und auch die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien nicht an systemischen Mängeln leiden (s. S. 5 des Urteils) und hat die Fragen daher im Sinne der Beklagten beantwortet.
Die Beklagte ist im vorliegenden Fall lediglich dazu verpflichtet worden, festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt. Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, hängt aber regelmäßig von einer Vielzahl von individuellen Faktoren des jeweiligen Einzelfalls ab und lässt sich nicht losgelöst von den tatsächlichen Umständen des konkreten Einzelfalls klären, da § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG auf die individuelle Bedrohungssituation abstellt (vgl. BayVGH, B.v. 3.12.2020 – 15 ZB 20.32306 – juris Rn. 12; OVG NW, B.v. 8.2.2019 – 13 A 1776/18.A – juris Rn. 25 f. m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 2.9.2010 – 9 B 12.10 – juris Rn. 9 ff.). Welcher grundsätzliche Klärungsbedarf diesbezüglich bestehen soll, wird mit der Zulassungsbegründung nicht substantiiert dargelegt, sondern es wird die Begründung des Zulassungsantrags im Verfahren der Mutter der Klägerin wortwörtlich übernommen, obgleich sich diese in einer völlig anderen Situation befindet. Ändert sich die Situation, ist die Beklagte aber auch verpflichtet, nach § 73c Abs. 2 AsylG die Feststellungen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.
Soweit die Beklagte geltend macht, der Gerichtsbescheid gehe von falschen Voraussetzungen aus, weil keine vorherige Zusicherung der italienischen Behörden erforderlich sei, da bei vulnerablen Personen vor einer Abschiebung stets eine Unterkunft gesucht werde und nur dann eine Rücküberstellung erfolge, kann dies nicht zur Zulassung der Berufung führen, selbst wenn dies zutreffen würde. Denn damit werden im Grunde ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils geltend gemacht, was kein Berufungszulassungsgrund i.S.d. § 78 Abs. 3 AsylG ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss, mit dem das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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