Verwaltungsrecht

Zulassung der Berufung wegen nachträglicher Abweichung

Aktenzeichen  8 ZB 17.31817

Datum:
10.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 155265
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 60 Abs. 1, Abs. 2, § 132 Abs. 2 Nr. 2
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2

 

Leitsatz

1 Wird eine zunächst grundsätzlich klärungsbedürftige Frage nachträglich durch eine Entscheidung des Obergerichts geklärt und weicht das angefochtene Urteil von dieser Entscheidung ab, so kann die Grundsatzrüge in eine Divergenzrüge umgedeutet und dem zunächst wegen grundsätzlicher Bedeutung begründeten Zulassungsantrag stattgegeben werden, sofern die Grundsatzrüge ordnungsgemäß dargelegt wurde. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2 Hat die Beklagte im Vertrauen auf die Rechtsprechung eines Senats lediglich den Zulassungsgrund der Divergenz und nicht  – wie in anderen gleich gelagerten Fällen  – hilfsweise auch noch den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht, sind die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung mit besonderer Fairness zu handhaben. (Rn. 10 – 11) (redaktioneller Leitsatz)
3 Nach einhelliger Auffassung des Senats müssen infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 Personen – wie der Kläger – wegen ihrer Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die einer der in Äthiopien bis Sommer 2018 als Terrororganisation eingestuften Organisation der OLF nahesteht, oder wegen einer exilpolitischen Tätigkeit für eine solche Organisation bei ihrer Rückkehr nach Äthiopien grundsätzlich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen befürchten. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 3 K 17.32298 2017-11-10 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat Erfolg.
1. Zwar ist die Berufung nicht wegen der nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG geltend gemachten Abweichung von der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Juli 2015 – 21 ZB 15.30119 – juris oder der Abweichung von der Entscheidung vom 8. November 2002 – 9 B 00.31236 – juris zuzulassen. Denn insoweit ist der Zulassungsgrund der Divergenz nicht hinreichend dargelegt bzw. nicht gegeben. Auf die ausführliche Begründung hierzu in den Beschlüssen des Senats vom 31. August 2018 – 8 ZB 17.31854 und 8 ZB 17.31813 – juris und vom 24. September 2018 – 8 ZB 18.32331 – juris wird Bezug genommen.
2. Ebenso wenig kann die Berufung wegen des mit Schriftsatz vom 17. August 2018 nachträglich geltend gemachten Zulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG im Hinblick auf die im Zulassungsantrag (sinngemäß) aufgeworfene Tatsachenfrage zugelassen werden,
„ob in Deutschland exilpolitisch tätige äthiopische Staatsangehörige bei einer Rückkehr nach Äthiopien bereits dann mit dem Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG zu rechnen haben, wenn sich ihre nach außen zum Ausdruck kommenden Aktivitäten in der Mitgliedschaft in oder in der Anhängerschaft von Organisationen, die vom äthiopischen Staat als terroristisch eingeordneten Gruppierungen nahestehen, sowie der Teilnahme an Veranstaltungen und Demonstrationen solcher Organisationen zeigen.“
Denn diese Frage wurde im Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vom 13. Februar 2019 – 8 B 17.31645 (noch nicht veröffentlicht) – bereits geklärt, sodass der Zulassungsgrund nicht mehr vorliegt. Der Senat hat entschieden, dass infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 Personen wegen ihrer Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die – wie die TBOJ/UOSG – einer der in Äthiopien bis Sommer 2018 als Terrororganisation eingestuften Organisationen der Ginbot7, OLF oder ONLF nahesteht, oder wegen einer exilpolitischen Tätigkeit für eine solche Organisation bei ihrer Rückkehr nach Äthiopien grundsätzlich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen befürchten müssen (vgl. Leitsatz und Rn. 43 des Urteilsabdrucks).
3. Die Berufung ist aber wegen einer nachträglichen Abweichung der erstinstanzlichen Entscheidung von diesem Urteil zuzulassen.
Wird eine zunächst grundsätzlich klärungsbedürftige Frage nachträglich durch eine Entscheidung des Obergerichts geklärt und weicht das angefochtene Urteil von dieser Entscheidung ab, so kann die Grundsatzrüge in eine Divergenzrüge umgedeutet und dem zunächst wegen grundsätzlicher Bedeutung begründeten Zulassungsantrag stattgegeben werden, sofern die Grundsatzrüge ordnungsgemäß dargelegt wurde (vgl. BVerwG, B.v. 29.10.2015 – 3 B 70.15 u.a. – BVerwGE 153, 169 = juris Leitsatz 3 und Rn. 9; B.v. 27.4.2017 – 1 B 6.17 – juris Rn. 7; B.v. 19.12.2017 – 8 B 7/17 u.a. – ZOV 2018, 54 = juris Rn. 1; BVerfG, B.v. 23.6.2000 – 1 BvR 830/00 – NVwZ 2000, 1163 = juris Rn. 23). Das gilt auch im Falle des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG, der § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nachgebildet ist (vgl. BayVGH, B.v. 17.02.1999 – 27 ZB 98.31112 – juris).
Die Grundsatzrüge wurde von der Beklagten ordnungsgemäß dargelegt. Zwar hat die Beklagte die Rüge der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache erst nachträglich mit Schriftsatz vom 17. August 2018 und damit nach Ablauf der Monatsfrist zur Begründung der Berufungszulassung gemäß § 78 Abs. 4 Satz 1 und 4 AsylG erhoben. Der Beklagten ist insoweit aber Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 bis 4 VwGO zu gewähren.
Nach § 60 Abs. 1 und 2 VwGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Dabei sind die Tatsachen zur Begründung des Antrags glaubhaft zu machen (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO) und die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist nachzuholen.
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der beim Verwaltungsgerichtshof eingegangene Wiedereinsetzungsantrag genügt den formellen Anforderungen des § 60 Abs. 2 VwGO. Er wurde am 17. August 2018 form- und fristgerecht innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO gestellt, nachdem die Beklagte durch das richterliche Hinweisschreiben des 8. Senats vom 9. August 2018 erfahren hat, dass nach dessen Auffassung – entgegen der Rechtsprechung des bis 31. Dezember 2017 für Asylverfahren von Bewerbern aus Äthiopien zuständigen 21. Senats des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. Beschluss vom 14.11.2017 – 21 ZB 14.31340 – juris Rn. 2) – aus Rechtsgründen der Zulassungsgrund der Abweichung des erstinstanzlichen Urteils von der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Juli 2015 – 21 ZB 15.30119 – juris nicht vorliegt. Zugleich wurde mit der Geltendmachung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die versäumte Rechtshandlung nachgeholt (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO).
Die Klagefrist wurde ohne Verschulden des Beklagten versäumt. Verschulden im Sinn von § 60 Abs. 1 VwGO liegt vor, wenn der Beteiligte diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (vgl. BVerwG, B.v. 1.9.2014 – 2 B 93.13 – juris Rn. 11). Danach ist ein Verschulden der Beklagten nicht gegeben. Denn die Beklagte ist im Vertrauen auf die Rechtsprechung des 21. Senats im Beschluss vom 14. November 2017 – 21 ZB 14.31340 – juris Rn. 2 davon ausgegangen, dass lediglich der Zulassungsgrund der Divergenz vorliegt. Infolge dessen hat sie nicht – wie in den anderen gleich gelagerten Fällen – hilfsweise auch noch den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht. Zwar rechtfertigt ein Rechtsirrtum nur in Ausnahmefällen die Annahme fehlenden Verschuldens (vgl. BVerfG, B.v. 16.1.2019 – 2 BvR 1081/18 – juris Rn. 4). Ist die Fristversäumung aber – wie hier – durch Fehler, Unklarheiten oder Versäumnisse des Gerichts selbst veranlasst, sind die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung mit besonderer Fairness zu handhaben. Nach dem Gebot eines fairen Verfahrens darf das Gericht in diesen Fällen zulasten eines Beteiligten keine Verfahrensnachteile ableiten und diesem kein Verschulden anrechnen (vgl. BVerfG, B.v. 4.5.2004 – 1 BvR 1892/03 – BVerfGE 110, 339 = juris Rn. 10 f.; BVerwG, B.v. 31.8.1999 – 9 B 171.99 – NVwZ 2000, 66 = juris Rn. 4; BAG, U.v. 19.3.2008 – 7 AZR 1100/06 – BAGE 126, 211 = juris Rn. 16).
4. Der Senat erwägt, nach § 130 a VwGO der Berufung entsprechend seiner im beigefügten Urteil vom 13. Februar 2019 – 8 B 17.31645 – niedergelegten Rechtsprechung stattzugeben und dabei die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf Gewährung subsidiären Schutzes und hilfsweise auf Feststellung nationalen Abschiebungsschutzes zu verneinen. Nach einhelliger Auffassung des Senats müssen infolge der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 Personen – wie der Kläger – wegen ihrer Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die – wie die TBOJ/UOSG – einer der in Äthiopien bis Sommer 2018 als Terrororganisation eingestuften Organisation der OLF nahesteht, oder wegen einer exilpolitischen Tätigkeit für eine solche Organisation bei ihrer Rückkehr nach Äthiopien grundsätzlich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahmen befürchten (vgl. Leitsatz und Rn. 43 des Urteilsabdrucks).
Die Beteiligten können sich dazu binnen vier Wochen ab Zugang der Berufungsbegründung äußern. Auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. September 2018 – 1 B 50.18 u.a. – juris Rn. 21 ff. wird hingewiesen.
5. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.


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