Verwaltungsrecht

Zumutbarer Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – Erkennungsdienstliche Behandlung

Aktenzeichen  10 ZB 19.2459

Datum:
5.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 2713
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 4, § 124a Abs. 5 S. 4, § 152 Abs. 1
StPO § 81b, § 170 Abs. 2
StGB § 246
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1
GKG § 47 Abs. 1, Abs. 3, § 52 Abs. 2, § 63 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1. Die Vornahme erkennungsdienstlicher Maßnahmen gegen den Willen des Betroffenen und die weitere Aufbewahrung der dabei gewonnenen Unterlagen greift in nicht unerheblicher Weise in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Das öffentliche Interesses an der Strafverfolgungsvorsorge muss daher stets überwiegen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Darlegung einer Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO erfordert, dass ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender Rechts- oder Tatsachensatz bezeichnet wird, mit dem die Vorinstanz von einem in der Rechtsprechung eines übergeordneten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechts- oder Tatsachensatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift abgewichen ist. (Rn. 9 – 11) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 1 K 18.311 2019-11-08 GeB VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage weiterverfolgt, den Bescheid des Beklagten vom 27. Februar 2018 mit der Anordnung seiner erkennungsdienstlichen Behandlung gemäß § 81b 2. Alt. StPO aufzuheben, ist zulässig, aber unbegründet.
Die vom Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe greifen nicht durch. Die Berufung ist weder wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, 1.) noch wegen Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO, 2.) zuzulassen.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung der Abweisung der Klage unter Bezugnahme auf die Gründe des angefochtenen Bescheids ergänzend ausgeführt, gegen den Kläger sei wegen einer am 23. Januar 2018 zulasten einer Gerichtsvollzieherin hinsichtlich deren Dienstausweises begangenen Unterschlagung (§ 246 StGB) inzwischen ein rechtskräftiger Strafbefehl mit einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen ergangen. Da der Kläger diesen akzeptiert habe, bestehe kein Anlass mehr, an dem Geschehensablauf vom 23. Januar 2018, wie er im streitgegenständlichen Bescheid dargestellt sei, zu zweifeln. Der Kläger habe bei der Anlasstat mit zwei Personen, Herrn R. und Herrn H., agiert, die nach Kenntnis der Kammer aus anderen Verwaltungsstreitverfahren der sogenannten Reichsbürgerbewegung zuzuordnen seien. Bei Angehörigen dieser Bewegung bestehe immer die Gefahr von Widerstandshandlungen oder sogar Straftaten gegenüber Staatsbediensteten, weil Reichsbürger die (rechtmäßige) Existenz der Bundesrepublik Deutschland bestreiten und deren staatliche Gewalt generell als nicht legitim ansehen würden. Demgemäß sei es durchaus möglich, dass der Kläger erneut in den Kreis potentieller Verdächtiger einer noch aufzuklärenden Straftat aus der Reichsbürgerszene einbezogen werden müsse und erkennungsdienstliche Unterlagen dann geeignet und erforderlich seien, um eine Tatbeteiligung des Klägers feststellen oder ausschließen zu können. Die erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers sei auch nicht unverhältnismäßig. Der damit verbundene Eingriff in seine Rechte sei als gering zu qualifizieren, da die Daten nur für polizeiliche Zwecke intern gespeichert würden und von der Maßnahme für den Kläger zudem auch eine entlastende Wirkung ausgehen könne, indem beispielsweise eine mögliche Tatbeteiligung von vornherein ausgeschlossen werden könne.
Der Kläger macht dagegen geltend, mangels Wiederholungsgefahr sei bei ihm die Notwendigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen schon nicht gegeben. Die Annahme, er werde künftig wieder derartige Straftaten begehen, sei nicht gerechtfertigt. Allein aus dem Umstand, dass er während der Anlasstat in Gesellschaft von Angehörigen der Reichsbürgerszene gewesen sein solle, rechtfertige nicht den Schluss, er werde künftig in Konfliktsituationen vergleichbare Straftaten begehen. Er selbst gehöre nicht der Reichsbürgerszene an, sei fast 72 Jahre alt und strafrechtlich das letzte Mal (vor der Anlasstat) vor mehr als zehn Jahren in Erscheinung getreten, wobei diese Verfahren alle nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden seien.
Damit zeigt der Kläger jedoch keine Umstände auf, die ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts begründen könnten. Nach § 81b Alt. 2 StPO dürfen die dort aufgeführten Maßnahmen nur angeordnet und vorgenommen, die dabei gewonnenen Daten nur gespeichert werden, wenn sie für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig sind. Diese Datenerhebung und -speicherung dient der Strafverfolgungsvorsorge, indem sie der Kriminalpolizei sächliche Hilfsmittel für die Erforschung und Aufklärung künftiger Straftaten zur Verfügung stellt. Notwendigkeit im Sinne des § 81b Alt. 2 StPO ist anzunehmen, wenn angesichts aller Umstände des Einzelfalles tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, der Beschuldigte könne künftig als Verdächtiger einer Straftat in Betracht kommen, deren Aufklärung die erkennungsdienstlichen Unterlagen überführend oder entlastend fördern können. Zu den Umständen, die bei dieser Prognoseentscheidung zu berücksichtigen sind, gehören das Ermittlungsergebnis des strafprozessualen Anlassverfahrens sowie Art, Schwere und Begehungsweise der dem Beschuldigten im Anlassverfahren zur Last gelegten Straftaten, seine Persönlichkeit sowie der Zeitraum, während dessen er strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten ist (stRspr, vgl. zuletzt BVerwG, B.v. 25.3.2019 – 6 B 163/18, 6 PKH 10/18 – juris Rn. 10 m.w.N.).
Solche tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme der Wiederholungsgefahr hat das Verwaltungsgericht beim Kläger angesichts aller Umstände seines Einzelfalls zu Recht angenommen. Es hat unter Hinweis auf Erkenntnisse der Kammer aus anderen Verwaltungsstreitverfahren (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 16.1.2019 – 21 C 18.578 – juris) zutreffend festgestellt, dass der Kläger bei der Anlasstat am 23. Januar 2018 zusammen mit zwei Personen, Herrn R. und Herrn H., agiert hat, die beide der Reichsbürgerbewegung zuzuordnen sind. Reichsbürger sind Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen. Den Vertretern des Staates sprechen sie die Legitimation ab und definieren sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend. Zur Verwirklichung ihrer Ziele treten sie zum Teil aggressiv gegenüber den Gerichten und Behörden der Bundesrepublik Deutschland auf. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet die Reichsbürger in Bayern als sicherheitsgefährdende Bestrebung (Verfassungsschutzbericht 2018 des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration, S. 175 f.). Zur Anlasstat kam es, nachdem sich der Kläger mit seinen beiden Begleitern zum Anwesen der Frau W. als „Beistand“ und „Zeugen“ für den an diesem Tag angekündigten Termin der Gerichtsvollzieherin wegen nicht bezahlter GEZ-Gebühren begeben und dort auf das Eintreffen der Gerichtsvollzieherin gewartet hatten, um „ältere Leute“ wie Frau W. „vor willkürlichen Maßnahmen zu schützen“. Nur Herrn H. kannte Frau W. im Übrigen näher. Bei der Sachverhaltsaufklärung durch die (von der Gerichtsvollzieherin) herbeigerufenen Polizeibeamten kam es wiederholt zu Aussagen der drei „Beistände“ wie Deutschland sei eine (private) Firma und damit in der Reichsbürgerszene typischen ideologischen Argumentationsmustern (vgl. Verfassungsschutzbericht 2018 des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration, S. 179). Das Vorgehen des Klägers und seiner beiden Begleiter war erkennbar auch darauf angelegt, die Gerichtsvollzieherin bei ihrer Tätigkeit zu behindern und sie einzuschüchtern. Die mit Strafbefehl als Unterschlagung gemäß § 246 Abs. 1 StGB geahndete länger andauernde Weigerung der Herausgabe des Dienstausweises der Gerichtsvollzieherin durch den Kläger stellt vor diesem Hintergrund und der Art und Weise der Begehung nicht nur, wie der Kläger meint, ein Bagatelldelikt dar, sondern lässt vielmehr deutlich erkennen, dass (auch) von ihm staatliche Gewalt nicht als legitim angesehen wird. Im Übrigen ist in der Rechtsprechung geklärt, dass das Anlassdelikt kein besonders hohes Maß an Gemeinschädlichkeit aufweisen muss (stRspr des BVerwG, vgl. zuletzt U.v. 27.6.2018 – 6 C 39.16 – juris Rn. 23). Die Folgerung des Verwaltungsgerichts, der Kläger könne künftig durchaus wieder als potentieller Verdächtiger einer noch aufzuklärenden Straftat in dieser Reichsbürgerszene in Betracht kommen, deren Aufklärung die erkennungsdienstlichen Unterlagen überführend oder entlastend fördern können, ist angesichts dieser Umstände nicht nur nachvollziehbar, sondern naheliegend. Dem Alter des Klägers und dem Zeitpunkt der von der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellten früheren Strafverfahren kommt demgegenüber für diese Prognose keine entscheidende Bedeutung zu.
Auch der Einwand des Klägers, die Maßnahme sei jedenfalls ermessensfehlerhaft und unverhältnismäßig, weil die Schwere des damit verbundenen Eingriffs in sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG außer Verhältnis zu dem Gewicht des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgungsvorsorge bei dem allenfalls geringfügigen Vergehen mit einer Geldstrafe von lediglich 30 Tagessätzen stehe, rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel. Zwar greift die Vornahme erkennungsdienstlicher Maßnahmen gegen den Willen des Betroffenen und weitere Aufbewahrung der dabei gewonnenen Unterlagen in nicht unerheblicher Weise in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Entgegen der Auffassung des Klägers handelt es sich bei der durch Strafbefehl mit einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen geahndeten Unterschlagung aber nicht um eine Bagatellsache, bei der § 81b StPO nicht angewendet werden dürfte (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 62. Aufl. 2019, § 81b Rn. 12 m.w.N.). Dass beim Kläger hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme der Wiederholungsgefahr einer gegen staatliche Gewalt gerichteten Delinquenz mit aggressivem Verhalten gegenüber Behörden und Gerichten bestehen, wurde bereits dargelegt. Zudem dient die angeordnete erkennungsdienstliche Behandlung dem Zweck der erleichterten Aufklärung künftiger Straftaten und damit einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege, einem Rechtsgut, dem ein hoher Rang zukommt (BVerwG, U.v. 27.6.2018 – 6 C 39.16 – juris Rn. 27). Schließlich hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass durch diese Maßnahme eine Tatbeteiligung des Klägers künftig unter Umständen auch ausgeschlossen werden kann, ohne dass es einer erneuten Befragung oder Vorladung bedarf. Damit erweisen sich die im Bescheid angeordneten Maßnahmen – Abnahme von Finger- und Handflächenabdrücken, Fertigung von Lichtbildern, Messungen und Personenbeschreibungen – im konkreten Fall (auch) als zumutbar.
2. Die Berufung ist auch nicht wegen Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) zuzulassen.
Die Darlegung einer Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO erfordert, dass ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender Rechts- oder Tatsachensatz bezeichnet wird, mit dem die Vorinstanz von einem in der Rechtsprechung eines übergeordneten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechts- oder Tatsachensatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift abgewichen ist (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 73 m.w.N.). Die divergierenden Sätze sind einander so gegenüberzustellen, dass die Abweichung erkennbar wird (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 22.3.2019 – 10 ZB 18.2598 – juris Rn. 18; B.v. 18.4.2019 – 10 ZB 18.2660 – juris Rn. 9 m.w.N.). Es genügt nicht, wenn in der angegriffenen Entscheidung ein in der Rechtsprechung der übergeordneten Gerichte aufgestellter Grundsatz lediglich übersehen, übergangen oder in sonstiger Weise nicht richtig angewandt worden ist (BVerwG, B.v. 20.7.2016 – 6 B 35.16 – juris Rn. 12 m.w.N).
Diesen Anforderungen wird die Zulassungsbegründung, der angefochtene Gerichtsbescheid weiche von Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes (B.v. 16.11.2015 – 10 CS 15.1564) und des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 19.10.1982 – 1 C 29.79 -, U.v. 23.11.2005 – 6 C 2.05 -) ab, nicht gerecht. Hierdurch wird der Sache nach allenfalls eine fehlerhafte Anwendung eines dort aufgestellten Rechtssatzes geltend gemacht, auf die eine Divergenzrüge aber nicht gestützt werden kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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