Zivil- und Zivilprozessrecht

Corona: Rücktritt vom Pauschalreisevertrag – Pauschalreiserichtlinie verlangt nicht, dass Gutscheine ausgegeben werden können.

Aktenzeichen  172 C 9887/20

Datum:
18.5.2021
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 14374
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
PauschalreiseRL Art. 12 Abs. 4
BGB § 280 Abs. 2, § 286 Abs. 4, § 651h Abs. 4, § 651h Abs. 5

 

Leitsatz

1. Die Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie durch den deutschen Gesetzgeber war nicht fehlerhaft. Denn mit der Formulierung der „Erstattung oder Rückzahlung“ in Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie ist nicht gemeint, dass auch eine Gutschrift oder ein Gutschein ausgegeben werden können soll. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar kann eine Überforderungssituation eines Reiseveranstalters als Entschuldigungsgrund abstrakt in Betracht komm, so dass ein Verzug nicht zu vertreten ist, wenn beispielsweise aufgrund der cornabedingten Reisebeschränkungen und Verbote ein Vielzahl von Rückabwicklungen und Rückerstattungen vorzunehmen sind. Dies setzt allerdings voraus, dass der Reiseveranstalter eine solche Überforderungssituation substantiiert darlegt und beweist. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von außergerichtlich entstandenen Kosten für die anwaltliche Rechtsverfolgung in Höhe von 201,71 € freizustellen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
5. Die Berufung wird zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 201,71 € festgesetzt.

Gründe

Gemäß § 495 a ZPO bestimmt das Gericht das Verfahren nach billigem Ermessen. Innerhalb dieses Entscheidungsrahmens berücksichtigt das Gericht grundsätzlich den gesamten Akteninhalt.
Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
I.
Das Amtsgericht München ist sachlich gem. §§ 1 ZPO, 23 Nr. 1, 71 GVG und örtlich gem. §§ 12, 17 ZPO zuständig.
II.
1. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 201,71 € gem. §§ 280 Abs. 2, 286, 249 BGB zu.
1.1 Zwischen den Parteien bestand unstreitig ein Pauschalreisevertrag, von dem die Beklagte am 11.03.2020 gem. § 651 h Abs. 4 Nr. 2 BGB zurückgetreten ist.
1.2 Gem. § 651 h Abs. 4 S. 2, Abs. 5 BGB verliert der Reiseveranstalter mit seinem Rücktritt den Anspruch auf den vereinbarten Reisepreis, wobei die Rückerstattung des Reisepreises unverzüglich jedenfalls innerhalb von 14 Tagen nach dem Rücktritt zu leisten ist. Insoweit ist gem. § 286 Abs. 2 Nr. 1 BGB für die Rückerstattung des Reisepreises die Leistung nach dem Kalender bestimmt. Unter Berücksichtigung der zunächst angebotenen und vom Kläger auch in Erwägung gezogenen Umbuchung trat Verzug der Beklagten gem. § 242 BGB jedoch erst mit Ablauf der vom Kläger telefonisch und mit Schreiben vom 07.04.2020 zur Rückzahlung gesetzten Frist – mithin mit Ablauf des 14.04.2020 ein.
1.3 §§ 651 h Abs. 4 S. 2, 651 h Abs. 5 BGB sind nicht europarechtswidrig.
1.3.1 Die Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie durch den deutschen Gesetzgeber war nicht fehlerhaft. Denn mit der Formulierung der „Erstattung oder Rückzahlung“ in Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie ist nicht gemeint, dass auch eine Gutschrift oder ein Gutschein ausgegeben werden können soll. Die Formulierung der „Erstattung“ wurde nach Ansicht des Gerichts deshalb gewählt, da nicht immer eine einfache Rückzahlung erfolgen kann, sondern oft eine Rückabwicklung über Reisevermittler oder eine Rückbuchung über die Kreditkarte erfolgen muss.
Der Erwägungsgrund Nr. 31 gibt an, dass der Reisende bei unvermeidbaren außergewöhnlichen Umständen jederzeit ohne Zuzahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurücktreten können soll. Anhaltspunkte dafür, dass unter Erstattung auch die zwangsweise Übergabe eines Gutscheins fallen könnte, sind den Erwägungsgründen hingegen nicht zu entnehmen.
Hinzu kommt, dass sich die Kommission ausdrücklich gegen eine Gutscheinausstellung gegen den Willen des Reisenden ausgesprochen hat, obwohl ihr dabei die Gefahr der Insolvenzen der Reiseveranstalter bewusst war.
1.3.2 Der Wille des europäischen Gesetzgebers war es gerade, dass der Reiseveranstalter das alleinige Risiko für Fälle der höheren Gewalt trägt. Aus dem Erwägungsgrund Nr. 31 wird deutlich, dass dem Reisenden in Fällen der unvermeidbaren außergewöhnlichen Umstände keinerlei Kosten entstehen sollen. Diese Fälle wurden bewusst anders gelöst, als die des „grundlosen“ Rücktritts des Reisenden, für die eine angemessene Entschädigung des Reiseveranstalters vorgesehen ist. Der Gesetzgeber hat auch bewusst, nicht mehr eine teilweise Kostentragung des Reisenden bei einem Fall der höheren Gewalt vorgesehen, wie sie vor der Pauschalreiserichtlinie im deutschen Gesetz in § 651 j Abs. 2 BGB a.F. enthalten war. Eine Auslegung der Richtlinie dahingehend, dass bei Fällen der höheren Gewalt eine Kostenquotelung eingreifen soll, ist damit ausgeschlossen.
1.3.3 Eine Vorlage zum EuGH zur Vorabentscheidung war nicht verpflichtend, da die Entscheidung noch mit einem innerstaatlichen Rechtsmittel angefochten werden kann.
1.4 Der Verzug ist auch nicht nach § 286 Abs. 4 BGB wegen fehlendem Vertretenmüssens seitens der Beklagten ausgeschlossen. Zutreffend ist, dass eine Überforderungssituation als Entschuldigungsgrund abstrakt in Betracht kommt. Nach dem eigenen Vortrag der Beklagten hätten Rückabwicklungen sowie Rückerstattungen von Reisepreisen der mehreren zehntausend Buchungen aus Kapazitätsgründen bis Mitte April 2020 nicht durchgeführt werden können, weil die komplette Arbeitszeit der Mitarbeiter der Beklagten in der Kundenbetreuung mit vorrangigen Aufgaben ausgefüllt war. Gem. § 286 Abs. 4 BGB ist die Beklagte für fehlendes Verschulden darlegungs- und beweisbelastet. Soweit die Beklagte vorträgt, ihr sei aufgrund der Ausnahmesituation der Pandemie und den erhöhten Stomo-Tasks eine fristgerechte Auszahlung nicht möglich, sondern erst Mitte April seien Auszahlungen darstellbar gewesen, so hat die Beklagte insoweit ihrer Darlegungs- und Beweislast nicht zur Überzeugung des Gerichts genügt. Unstreitig wurde mit dem Beklagten zweimal telefonisch Kontakt aufgenommen. Vor diesem Hintergrund war der Vortrag der Beklagten zum fehlenden Verschulden nicht hinreichend substantiiert. Hierauf hat das Gericht die Beklagte auch mit Verfügung vom 23.02.2021 hingewiesen. Weiterer Vortrag insbesondere zur Frage welche Aufgaben der „Kundenbetreuung“, auch mit Blick auf die Stornierungen durch welche Mitarbeiter und in welcher Anzahl erfolgte ist seitens der Beklagten nicht erfolgt. Vor dem Hintergrund, dass die Stomierungsrechnung der Beklagten unter dem 16.04.2020 erfolgte ist auch die Angabe der Beklagten bis Mitte April hätten Rückabwicklungen sowie Rückerstattungen von Reisepreisen gar nicht durchgeführt werden können, nicht ausreichend substantiiert. Dies gilt umso mehr, als zur Begründung die Durchführung vorrangiger Aufgaben genannt wird, wobei diese Liste auch „Stornierungen von Flügen und Unterkünften, Rückabwicklungen von Flügen und Unterkünften“ umfasste. Der angebotene Zeuge P war entsprechend nicht zu vernehmen. Mangels hinreichend substantiiertem Vortrag ist gem. § 286 Abs. 4 BGB von einem Verschulden der Beklagten auszugehen.
2. Dem Kläger steht kein Anspruch auf die beantragten Nebenforderungen weder gem. §§ 280 Abs. 2, 286, 288 BGB noch aus einem anderen rechtlichen Grund zu. Ausweislich des Klageantrags als auch der Begründung in der Anspruchsbegründung ist die Klage darauf gerichtet, den Kläger „freizuhalten“ bzw. wird ein „Anspruch auf Freistellung von den auf Grundlage des RVG entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten“ geltend gemacht. § 288 BGB setzt das Vorliegen einer Geldschuld voraus. Dies ist im Falle eines Freistellungsanspruchs jedoch nicht gegeben (vgl. Palandt, 79. Aufl. 2020, § 288 Rn. 6; OLG Frankfurt a. M. Urt. v. 20.12.2018 – 8 U 53/17, BeckRS 2018, 35942 m.w.N.).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 ZPO. Hinsichtlich der Verfahrenskosten war eine Kostenteilung im Hinblick auf die vorgenommene Teilklageabweisung hinsichtlich der Nebenforderungen nicht veranlasst, da diese nicht wesentlich ins Gewicht fällt, § 92 Abs. 1 ZPO (vgl. Zöller, 33. Aufl., § 92 Rn. 11).
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 S. 1, S. 2, 709 S. 2 ZPO.
Die Zulassung der Berufung erfolgte gemäß § 511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO. Angesichts der Corona-Pandemie handelt es sich vorliegend auch mit Blick auf §§ 651 h Abs. 4 S. 2 und Abs. 5 BGB um eine neue, nicht geklärte Rechtsfrage, die zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert.
Der Streitwert war gem. §§ 48 Abs. 1, 63 Abs. 2 GKG, 3 ZPO festzusetzen.


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