Verwaltungsrecht

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Aktenzeichen  3 ZB 16.412

Datum:
25.4.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 45510
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO §§ 57 II, 60 I, 124a IV 4, 173 S. 1
ZPO §§ 85 II, 222 I, II
BGB §§ 187 I, 188 II

 

Leitsatz

1 Bei dem Einwurf eines Schriftstücks in den falschen Nachtbriefkasten handelt es sich um einen sogenannten Ablieferungsfehler. Eine hierdurch bedingte Fristversäumung ist in der Regel verschuldet. (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein Verschulden an einem Fristversäumnis entfällt nicht dadurch, dass ein Dritter die Fristversäumung noch hätte verhindern können. Kann aber ein zunächst fälschlich angegangenes Gericht aufgrund der auf dem Briefkuvert befindlichen Adressierung ohne weiteres erkennen, für welches Gericht das Schreiben seinem Inhalt nach bestimmt ist, so entspricht es dem Verfassungsprinzip der fairen Verfahrensgestaltung, wenn das Schreiben unmittelbar an das zuständige Gericht weitergeleitet wird. Diese Weiterleitung muss jedoch nur im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs erfolgen. (redaktioneller Leitsatz)
3 Der Einwurf eines Schriftstücks in den falschen Briefkasten ist für die Fristversäumung nur dann nicht kausal, wenn sie bei pflichtgemäßer Weiterleitung des Schreibens an das zuständige Gericht vermieden worden wäre. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 1 K 14.2054 2016-01-20 Ent VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird verworfen.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 48.273,12 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Festsetzung seiner Versorgungsbezüge unter Anerkennung der von ihm begehrten Vordienstzeiten als ruhegehaltsfähige Dienstzeiten weiter betreibt, hat keinen Erfolg. Er ist unzulässig, weil er nicht fristgerecht begründet worden ist (I.) und die Voraussetzungen für die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Begründungsfrist nicht vorliegen (II.).
I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist nicht fristgerecht begründet worden.
Nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Gemäß § 124a Abs. 4 Satz 5 VwGO ist die Begründung, soweit sie – wie hier – nicht mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht einzureichen. Die Begründung des Zulassungsantrags ist jedoch nicht innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung des vollständigen Urteils des Verwaltungsgerichts vom 20. Januar 2016 beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht worden.
Das angefochtene Urteil, das mit einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, wurde der Bevollmächtigten des Klägers ausweislich der Postzustellungsurkunde am 28. Januar 2016 zugestellt, und zwar mittels Ersatzzustellung durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten (§ 56 Abs. 2 VwGO, § 180 ZPO). Die Zwei-Monats-Frist der Darlegung der Zulassungsgründe nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO endete somit gemäß § 57 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 222 Abs. 1 und 2 ZPO und § 188 Abs. 2 BGB wegen des Feiertags am Montag, den 28. März 2016 (Ostermontag), am Dienstag, den 29. März 2016, um 24.00 Uhr. Die erforderliche Zulassungsbegründung ist jedoch erst am 30. März 2016 beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingegangen.
II.
Dem Kläger ist auch nicht nach § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Vielmehr ist sein entsprechender Antrag abzulehnen, weil die Voraussetzungen nicht vorliegen.
1. Nach § 60 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. „Verschulden“ im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO liegt vor, wenn der Beteiligte diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (vgl. BVerwG, B. v. 1.9.2014 – 2 B 93/13 – juris Rn. 11). Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Dabei sind die Tatsachen zur Begründung des Antrags glaubhaft zu machen (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO) und die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Antragsfrist nachzuholen.
2. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der Kläger war nicht ohne sein Verschulden verhindert, die Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO einzuhalten. Denn die Versäumung dieser Frist beruht auf einem Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten, das nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden des Klägers gleichsteht (vgl. BVerwG, B. v. 27.1.2003 – 1 B 92.02 – juris Rn. 7; BayVGH, B. v. 28.5.2013 – 10 ZB 13.559 – juris Rn. 6).
Aus der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils lässt sich ohne weiteres entnehmen, dass die Begründung des Zulassungsantrags, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung vorgelegt worden ist, beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof einzureichen ist. Neben der Postfachanschrift war dort ausdrücklich auch die Hausanschrift des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs – Ludwigstraße 23, 80539 München – genannt. Im Rahmen der Anhörung erklärte die Bevollmächtigte des Klägers, sie habe den Begründungsschriftsatz am 25. März 2016 (Karfreitag) gegen 14:30 Uhr in den Nachtbriefkasten des Landessozialgerichts (Ludwigstr. 15, 80539 München) geworfen. Zu diesem Zeitpunkt sei sie der Überzeugung gewesen, dass es sich bei dem fraglichen Briefkasten um den Nachtbriefkasten des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gehandelt habe. Eine spätere Nachschau am 8. April 2016 habe ergeben, dass auf dem Briefkasten ausdrücklich „Nachtbriefkasten des Landessozialgerichts“ gestanden sei. Dies habe sie jedoch zum Zeitpunkt des Einwurfs nicht gelesen bzw. nicht wahrgenommen. Ihr Verschulden hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers auch ausdrücklich im Schreiben vom 17. April 2016 im Rahmen der Anhörung eingeräumt.
Ein Verschulden ist vorliegend auch nicht deshalb entfallen, weil die Weiterleitung des Schriftsatzes durch das Landessozialgericht nicht am selben Tag – also noch innerhalb der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO – erfolgte. Bei dem vorliegenden Einwurf in den falschen Briefkasten handelt es sich um einen sogenannten Ablieferungsfehler. Eine hierdurch bedingte Fristversäumung ist in der Regel auch verschuldet. Es gilt der Grundsatz, dass das Verschulden nicht dadurch entfällt, dass ein Dritter die Fristversäumung noch hätte verhindern können (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 21. Auflage 2015, § 60 Rn. 17).
Kann das zunächst angegangene Gericht wie vorliegend aber aufgrund der auf dem Briefkuvert befindlichen Adressierung „VGH“ ohne weiteres erkennen, für welches Gericht das Schreiben seinem Inhalt nach bestimmt ist, so entspricht es dem Verfassungsprinzip der fairen Verfahrensgestaltung, wenn das Schreiben unmittelbar an das zuständige Gericht weiter geleitet wird (vgl. BVerfG, B. v. 20.6.1995 – 1 BvR 166/93 – juris Rn. 44 ff. für die bei der Vorinstanz eingereichte Rechtsmittelschrift). Diese Weiterleitung muss jedoch nur im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs erfolgen. Eine weitergehende Verpflichtung, etwa eine beschleunigte Weiterleitung an das zuständige Gericht oder eine Verpflichtung, den Beteiligten oder dessen Verfahrensbevollmächtigte durch Telefonat oder Telefax von der Einreichung des Schriftsatzes beim unzuständigen Gericht zu unterrichten, ergibt sich von Verfassungs wegen nicht (BVerwG, B. v.15.7.3003 – 4 B 83/02 – juris Rn. 9). Denn sonst würde dem Beteiligten die Verantwortung, fristgebundene Schriftsätze beim zuständigen Gericht einzureichen, vollständig abgenommen und dem nicht empfangszuständigen Gericht übertragen (so BVerfG, B. v. 20.6.1995 a. a. O. im Hinblick auf die Abwägung von Parteiverantwortung, gerichtlicher Fürsorgepflicht und Geschäftsbelastung der Gerichte; s. auch BGH, B. v. 12.6.2013 – XII ZB 394/12 – juris Rn. 20). Das bedeutet, dass ein Einwurf in den falschen Briefkasten für die Fristversäumung nur dann nicht kausal ist, wenn sie bei pflichtgemäßer Weiterleitung des Schreibens an das zuständige Gericht vermieden worden wäre. Soweit die Bevollmächtigte auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts verweist (B. v. 21.05.1992 – 1 DB 6/92 – juris Rn. 10), in der stillschweigend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden war, weil die Fristversäumung nicht auf einem Allein- oder Mitverschulden des Beamten, sondern ausschließlich auf amtlichen Verschulden, welches dem Kläger nicht zuzurechnen sei, beruhte, so ist diese Entscheidung vorliegend nicht übertragbar. Das Bundesverwaltungsgericht stellte in seiner Entscheidung ausdrücklich fest, dass die dort handelnden Justizbehörden, gerade nicht unverzüglich – wie geboten – die Beschwerde an das zuständige Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet hätten, sondern einen sog. „Irrläufer“ an das Oberverwaltungsgericht B. verursachten, der dann die Fristversäumung auslöste. Geht nämlich der Schriftsatz so zeitig in die Verantwortungssphäre des zur Weiterleitung verpflichteten Gerichts ein, dass die Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf die Partei nicht nur darauf vertrauen, dass der Schriftsatz überhaupt weitergeleitet wird, sondern auch darauf, dass er noch fristgerecht beim zuständigen Gericht eingeht (vgl. BVerfG, B. v. 20.6.1995 a.a.O Rn. 48). Mit dem Übergang des Schriftsatzes in die Verantwortungssphäre des zur Weiterleitung verpflichteten Gerichts wirkt sich ein etwaiges Verschulden der Partei und ihres Bevollmächtigten dann nicht mehr aus. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist deshalb dann zu gewähren, wenn der Schriftsatz so rechtzeitig beim unzuständigen Gericht eingegangen ist, dass die fristgerechte Weiterleitung an das zuständige Gericht im ordentlichen Geschäftsgang erwartet werden konnte (vgl. Zöller, ZPO, 31. Auflage 2016, § 167 Rn. 7 und § 233 Rn. 22b m. w. N.). Geschieht dies dann tatsächlich nicht, wirkt sich das Verschulden der Partei oder ihrer Verfahrensbevollmächtigten nicht mehr aus (vgl. BVerwG, B. v. 21.5.1992 – 1 DB 6/92 – juris Rn. 10).
Ein Verschulden im Verantwortungsbereich des Landessozialgerichts ist vorliegend jedoch nicht ersichtlich. Aus dem Eingangsstempel des Landessozialgerichts auf dem Kuvert des Schriftsatzes, auf dem mit handschriftlichen Buchstaben als Adressat „VGH“ ohne Adresszusatz vermerkt ist, ergibt sich ein Einwurf und die Entnahme des Schriftsatzes aus dem Nachtbriefkasten des Landessozialgerichts am Dienstag, dem 29. März 2016. Selbst wenn die Bevollmächtigte – wie vorgetragen – den Schriftsatz bereits am Freitag, den 25. März 2016 (Karfreitag) beim Landessozialgericht eingeworfen hat, hätte sie angesichts des bevorstehenden Osterwochenendes einschließlich des Feiertags am Ostermontag, nicht mit einer Entnahme ihres Schriftsatzes aus dem Briefkasten vor Dienstag, dem 29. März 2016, rechnen können. Der Einwurf in einen falschen Briefkasten ist für die Fristversäumung jedoch nur dann nicht kausal, wenn diese bei pflichtgemäßer Weiterleitung des Schreibens an das zuständige Gericht vermieden hätte werden können. Eine Weiterleitung des Schriftsatzes an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof durch Abgabe an der Pforte erfolgte jedoch unverzüglich am nächsten Tag, also am 30. März 2016. Ein pflichtwidriges Verhalten im Verantwortungsbereich des Landessozialgerichts ist hierin nicht zu erkennen, insbesondere keine dem ordentlichen Geschäftsgang zeitlich nicht entsprechende Weiterleitung. Eine Versendung des Schriftsatzes mit der Post hätte keinesfalls weniger Zeit in Anspruch genommen (vgl. hierzu BVerwG, B. v. 15.7.2003 a. a. O. juris Rn. 9). Besondere Bemühungen des unzuständigen Gerichts sind nicht erforderlich (vgl. Zöller a. a. O. § 233 Rn. 22 b). Ebenso besteht nach Auffassung des Senats keine Verpflichtung des nach der Adressierung auf dem Kuvert eindeutig nicht als Empfänger ausgewiesenen Gerichts, etwaige Fristberechnungen durchzuführen und im Hinblick auf die dann unter Umständen für die Fristeinhaltung notwendige Übermittlung am gleichen Tag einzustehen. Insoweit gilt der Grundsatz, dass das Verschulden nicht dadurch entfällt, dass ein Dritter die Fristversäumnis noch hätte verhindern können (Kopp a. a. O. § 60 Rn. 17). Vielmehr muss die Partei, die sich auf eine Unterbrechung der Kausalkette zwischen ihrem schuldhaften Verhalten und dem Eintritt der Fristversäumung beruft, darlegen und glaubhaft machen, dass die bei einer Weiterleitung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang verbleibende Zeit für die Fristwahrung ausreichend ist (BGH, B. v. 12.6.2013 – XII ZB 394/12 – juris Rn. 19), wobei allein der Nachweis, dass der Schriftsatz einige Tage vor Fristablauf eingereicht wurde, grundsätzlich nicht als ausreichend zu sehen ist (vgl. Zöller, ZPO, 31. Auflage 2016, § 167 Rn. 7 und § 233 Rn. 22 b). Diesen Nachweis konnte der Kläger nicht erbringen.
Eine Weiterleitung mit Zugang beim zuständigen Gericht innerhalb des gleichen Tags ist im Rahmen eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs nicht zu erwarten. Nach diesen Maßstäben ist die Zulassungsbegründungsfrist nicht ohne ein demjenigen des Klägers gleichstehendes Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten versäumt worden. Demzufolge kommt eine Wiedereinsetzung nicht in Betracht. Der Wiedereinsetzungsantrag war daher abzulehnen und der Antrag auf Zulassung der Berufung als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 3 und Abs. 1 Satz 1 sowie § 52 Abs. 1 GKG.
Mit der Verwerfung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts nach § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig.

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