Arbeitsrecht

Rumänischer Staatsangehöriger, Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, Straftäter, Ungelöste Gewalt- und Alkoholproblematik, Grundinteresse der Gesellschaft berührt

Aktenzeichen  M 25 K 19.3223

Datum:
29.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 23281
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6
FreizügG/EU § 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. 
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.     
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung am 29. Juni 2021 entschieden werden, obwohl der Kläger nicht erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO). Der Kläger wurde ausweislich der Postzustellungsurkunde am 29. Mai 2021 ordnungsgemäß geladen.
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 21. Juni 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Die von der Beklagten vorgenommene Ermessensentscheidung ist nicht zu beanstanden, § 114 VwGO.
1. Die nach pflichtgemäßem Ermessen ausgesprochene Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als rechtmäßig.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der der mündlichen Verhandlung (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 11).
a. Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts ist § 6 FreizügG/EU. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 AEUV) getroffen werden. Die Anwendung des § 6 FreizügG/EU setzt nicht voraus, dass der Kläger überhaupt freizügigkeitsberechtigt ist, denn der Anwendungsbereich der Norm ist nicht nur auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger beschränkt, sondern umfasst alle Unionsbürger (VG München, U.v. 19.5.2010 – M 25 K 09.673; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage, 2020, § 6 FreizügG/EU Rn. 8).
Soweit – wie hier – die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgt, genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht, um diese Maßnahme zu begründen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte – Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung i.S. des Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris). Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts daher nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, U.v. 27.10.1977 – C-30/77 – juris – Bouchereau; U.v. 4.10.2007 – C-349/96 – juris – Polat; U.v. 4.10.2012 – C 249/11 – Hristo Byankor; BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris).
Der Kläger ist als rumänischer Staatsangehöriger Unionsbürger, so dass er in den Anwendungsbereich des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU fällt und es nicht darauf ankommt, ob er nach § 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist.
Weiter tritt in den vom Kläger begangenen Straftaten ein persönliches Verhalten zu Tage, das eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Sie berührt zudem Grundinteresse der Gesellschaft. Der Kläger ist Wiederholungstäter und wurde bereits in der Vergangenheit mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt. Diese Verurteilungen haben den Kläger nicht davon abgehalten, erneut straffällig zu werden, so dass schließlich die Bewährung im Juni 2019 widerrufen wurde. Der Kläger war bei den Taten alkoholbedingt enthemmt. Laut den vorliegenden Führungsberichten der JVA … … … vom 21. November 2019 und 1. Oktober 2020 liegt beim Kläger ein ungelöstes Gewalt- und Alkoholproblem vor. Während der Haftzeit hat sich der Kläger am 8. Juni 2020 zudem in seiner Zelle verbarrikadiert und dabei fast sein komplettes Haftrauminventar zerstört. Das Landgericht Augsburg hat mit Beschluss vom 11. März 2020 und 4. November 2020 den jeweiligen Strafrest auf Grund der beim Kläger nach wie vor bestehenden nicht gelösten Alkohol- und Gewaltproblematik nicht zur Bewährung ausgesetzt.
Eine entsprechende Gewalt- und Alkoholtherapie hat der Kläger bislang nicht absolviert. Das vom Kläger in der Haft besuchte soziale Kompetenztraining reicht hierfür schon deswegen nicht aus, weil ausweislich des Führungsberichts der JVA … … … vom 1. Oktober 2020 dem Kläger die Änderungsbereitschaft fehlen würde, was ein weiterer Hinweis auf die bei ihm bestehende Weigerungs- und Leugnungshaltung hinsichtlich seiner Probleme sei. Schon allein wegen der fehlenden Therapie geht das Gericht von einer weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr aus. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs kann vom Wegfall der für die Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine entsprechende Therapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung in ein künftig straffreies Verhalten auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. (vgl. BayVGH, B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12 mit weiteren Nachweisen).
b. Die Begehung von Körperverletzungsdelikten und Delikten gegen Vollzugsbeamte berühren auch ein Grundinteresse der Gesellschaft. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit nimmt in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang ein. Der Schutz von Polizeibeamten als wichtige Repräsentanten der staatlichen Ordnung und des staatlichen Gewaltmonopols stellt ebenfalls ein Grundinteresse der Gesellschaft dar. Mit den Taten am 31. Dezember 2017 hat der Kläger zudem eine Vielzahl von Personen, insbesondere auch Kinder, in große Angst versetzt und damit das Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft empfindlich verletzt. In Bezug auf diese Taten liegt das Grundinteresse der Gesellschaft in der Sicherung des friedlichen Zusammenlebens unter Einhaltung der geltenden Rechtsordnung.
c. Schließlich ist die von der Beklagten zu treffende Ermessensentscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht zu beanstanden. Besondere Gesichtspunkte i.S.d. § 6 Abs. 3 FreizügG/EU, die eine Rückkehr des Klägers in seine Heimat im Rahmen der von der Beklagten vorzunehmenden Ermessens- und Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere mit Blick auf Art. 8 EMRK und Art. 6 GG unzumutbar erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich und wurden auch im gerichtlichen Verfahren nicht vorgetragen.
Der Kläger verfügt über keine schützenswerten sozialen Bindungen im Bundesgebiet, die in den Schutzbereich des Art. 6 GG fielen.
Eine soziale und wirtschaftliche Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse ist dem Kläger auch nicht gelungen. Der Kläger ist mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zuletzt wurde er zu einer Haftstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten verurteilt. Während seiner Aufenthalte im Bundesgebiet hat der Kläger nur zeitweise gearbeitet und zuletzt ausschließlich von Sozialhilfe gelebt. Von 5. Juni 2019 bis 16. April 2021 befand er sich in Haft. Ob und was der Kläger derzeit in Deutschland arbeitet, konnte nicht geklärt werden, da der Kläger nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist und damit die Gelegenheit nicht genutzt hat, über seine persönlichen Verhältnisse Auskunft zu geben.
Eine Rückkehr nach Rumänien ist dem Kläger hingegen möglich und auch zumutbar. Der Kläger ist in Rumänien aufgewachsen und hat dort bis zur 9. Klasse die Schule besucht. Er spricht rumänisch. Einer Rückkehr steht grundsätzlich auch nicht die kürzliche ärztliche Behandlung entgegen, da nach den vorliegenden ärztlichen Attesten (Anstaltsarzt der JVA … und des Klinikums … … … vom 5. Mai 2021) die Behandlung in Kürze abgeschlossen ist und keine dauerhaften krankheitsbedingten Einschränkungen vorliegen.
2. Die Befristung der Wiedereinreisesperre auf fünf Jahre beruht auf § 7 Abs. 2 FreizügG/EU und begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Frist verhält sich im gesetzlichen Rahmen (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU) und Ermessensfehler sind nicht ersichtlich.
3. Die in Ziffer 3 verfügte Ausreisepflicht beruht auf § 7 Abs. 1 FreizügG/EU, die Ausreisefrist von einem Monat entspricht den Anforderungen des § 7 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 FreizügG/EU.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.


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