Verwaltungsrecht

Asylrecht, Herkunftsland: Türkei, „Familienasyl“ (bejaht für Ehefrau eines syrischen Flüchtlings), gemeinsame Staatsangehörigkeit i.S.e. „Verfolgungsgemeinschaft“ keine Voraussetzung für Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes

Aktenzeichen  M 28 K 20.30958

Datum:
2.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 13693
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 26
RL 2011/95/EU Art. 3

 

Leitsatz

Tenor

I.Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. März 2020 wird in den Nrn. 1. und 3. bis 6. aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II.Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Gründe

1. Mit Einverständnis aller Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
2. Die zulässige Verpflichtungsklage hat in der Sache Erfolg.
Die Klägerin hat im insoweit gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts einen Anspruch darauf, die Beklagte zu verpflichten, ihr unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheids die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid der Beklagten vom 11. März 2020 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Der Klägerin ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da die Voraussetzungen des internationalen Schutzes für Familienangehörige (§ 26 Abs. 1 und 5 AsylG) erfüllt sind (und Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen der § 3 Abs. 2 und 3 AsylG, § 60 Abs. 8 AufenthG weder ersichtlich noch vorgetragen sind).
Hierzu im Einzelnen:
Nach § 26 Abs. 1 und 5 AsylG wird u.a. der Ehegattin eines international Schutzberechtigten mit Flüchtlingseigenschaft auf Antrag selbst die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn die Anerkennung des international Schutzberechtigten unanfechtbar ist (Nr. 1), die Ehe mit dem international Schutzberechtigten schon in dem Staat bestanden hat, in dem der international Schutzberechtigte verfolgt wird (Nr. 2), die Ehegattin den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat (Nr. 3) und die Anerkennung des international Schutzberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist (Nr. 4). Ein spezieller Antrag auf Gewährung von Familienasyl- oder Familienflüchtlingsschutz ist aber nicht erforderlich (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 26 Rn. 18).
aa) Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 5 AsylG i.V.m. § 26 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1, 3 und 4 AsylG sind vorliegend unproblematisch erfüllt, wie auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den jüngsten Sohn der Klägerin (abgeleitet vom Vater des Sohnes bzw. Ehemann der Klägerin) durch das Bundesamt selbst zeigt.
bb) Auch die Voraussetzung des § 26 Abs. 5 AsylG i.V.m. § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG ist zu bejahen: Die Klägerin hat nach Überzeugung des Einzelrichters vor ihrer Ausreise aus Syrien über einen mehrjährigen Zeitraum tatsächlich mit ihrem Ehemann, mit dem sie auch nach Einschätzung des Bundesamts nachweislich verheiratet ist, und den drei gemeinsamen Kindern in familiärer Lebensgemeinschaft zusammengelebt.
cc) Entgegen der Ansicht des Bundesamts steht der Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes vorliegend auch nicht entgegen, dass die Klägerin Staatsangehörige eines Staates (hier: der Türkei) ist, in dem ihr keine Verfolgung droht.
Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 – 4 AsylG sehen ein solches Erfordernis nicht vor. Schon dem Wortlaut des § 26 Abs. 1 AsylG lässt sich nicht entnehmen, dass auch der Familienangehörige aus demselben Herkunftsstaat wie der Stammberechtigte kommen muss. Auch sonst findet sich im Gesetz keine Grundlage dafür, dass eine gemeinsame Staatsangehörigkeit vorliegen müsse. Der Zweck der Norm spricht, worauf auch der Klägerbevollmächtigte zurecht hinweist, ebenfalls nicht dafür, dass die Vorschrift teleologisch zu reduzieren wäre. Die Intention des Gesetzgebers ist es gewesen, nahen Angehörigen von anerkannten Stammberechtigten einen Schutzstatus zuzuerkennen, ohne dass für diese eigene Verfolgungsgründe (i.S.e. „Verfolgungsgemeinschaft“) vorliegen bzw. geprüft werden müssen. Dies soll letztlich dem Ziel der Wahrung der Familieneinheit durch Ermöglichung des Zusammenlebens sowie der Integration naher Familienangehöriger dienen. Außerdem sollen die Regelungen des Familienasyls dem Bundesamt und den Verwaltungsgerichten die Möglichkeit eröffnen, von einer unter Umständen schwierigen und zeitraubenden Prüfung eigener Verfolgungsgründe der einzelnen Familienangehörigen abzusehen, wenn einem Angehörigen der Kernfamilie bereits Schutz worden ist (VGH BW, U.v. 16.5.2002 – A 13 S 1068/01 – juris Rn. 19; VG Würzburg, U.v. 17.8.2020 – W 8 K 20.30183 – juris Rn. 18; VG Berlin, G.v. 7.10.2019 – 34 K 16.19 A – juris Rn. 19; jeweils m.w.N). Im Übrigen hat auch die Beklagte weder in ihrem Bescheid noch im gerichtlichen Verfahren eine (nachvollziehbare) Begründung dafür gegeben, wieso § 26 AsylG entsprechend teleologisch reduziert werden sollte. Nicht zuletzt kann auch der Stammberechtigte nicht (zumutbar) darauf verwiesen werden, im Herkunftsstaat des Angehörigen um Schutz nachzusuchen, da bereits völlig ungewiss ist, ob die Familieneinheit auch im Herkunftsland der Familienangehörigen (hier also in der Türkei) fortgeführt werden könnte.
Tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass ein derartiges Verständnis des § 26 AsylG europarechtswidrig wäre, sind ebenfalls weder geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich. Art. 3 RL 2011/95/EU gestattet es den Mitgliedstaaten, günstigere Normen zur Entscheidung darüber zu erlassen, wer als Flüchtling gilt, sofern diese Normen mit der EU-Anerkennungsrichtlinie vereinbar sind. Unvereinbar sind nur solche nationale Normen, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Drittstaatsangehörige oder Staatenlose vorsehen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen (EuGH, U.v. 18.12.2014 – M’Bodj, C-542/13 – ECLI:ECLI:EU:C:2014:2452 Rn. 44). Einen Anwendungsfall eines solchen fehlenden Zusammenhangs zu dem Zweck des internationalen Schutzes begründen die in Art. 12 RL 2011/95/EU geregelten Ausschlussgründe. So laufen dem Vorbehalt des Art. 3 RL 2011/95/EU etwa nationale Bestimmungen zuwider, auf deren Grundlage die Rechtsstellung eines Flüchtlings Personen gewährt wird, welche von dieser Rechtsstellung nach Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU ausgeschlossen sind (EuGH, U.v. 9.11.2010 – Bundesrepublik Deutschland, C-57/09 und C-101/09 -ECLI:ECLI:EU:C:2010:661 Rn. 107 ff.). Unterfallen Familienangehörige eines anerkannten Flüchtlings keinem der in Art. 12 RL 2011/95/EU geregelten Ausschlussgründe und weist ihre Situation wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes auf, so gestattet es Art. 3 RL 2011/95/EU einem Mitgliedstaat, diesen Schutz auf andere Angehörige dieser Familie zu erstrecken (EuGH, U.v. 4.10.2018 – Ahmedbekova, C-652/16 – ECLI:ECLI:EU:C:2018:801 Rn. 57). Letztlich bekräftigt auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 9. November 2021 (LW, C-91/20 – ECLI:ECLI:EU:C:2021:898 Rn. 62) nochmals, dass eine wohlwollende Auslegung das § 26 AsylG als begünstigende nationale Norm durchaus mit den europäischen Richtlinien vereinbar sein kann. In seinem Urteil bejaht der Europäische Gerichtshof dies explizit für einen Fall divergierender Staatsangehörigkeiten, bei welchem dem Familienangehörigen in seinem Herkunftsstaat keine Verfolgung drohte. Im Urteil heißt es hierzu konkret, dass „Art. 3 und 23 Abs. 2 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes dahingehend auszulegen seien, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem minderjährigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem Flüchtlingsschutz zuerkannt wurde, zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen, und zwar auch in dem Fall, dass dieses Kind (…) die Staatsangehörigkeit eines anderen Drittstaats besitzt, in dem es nicht Gefahr laufen würde, verfolgt zu werden (…).“
Überzeugende Gründe dafür, dass der Fall der Klägerin anders beurteilt werden sollte, sind im gerichtlichen Verfahren nicht geltend gemacht worden. Soweit die Beklagte lediglich pauschal behauptet, dass die Urteilsgründe nicht auf den hiesigen Fall übertragbar seien, verkennt sie schon, dass es an sich ihr obläge vorzutragen, wieso – trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 9. November 2021, das (wenn auch in einer etwas anders gelagerten Fallkonstellation) zu dem Ergebnis kommt, dass der Besitz einer dritten Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Gewährung des „Familienasyls“ unschädlich sei – im Falle der Klägerin eine teleologische Reduktion des § 26 AsylG (ausnahmsweise) geboten wäre. Nachvollziehbare Gründe dafür, dass der Fall der Klägerin anders zu beurteilen wäre als etwa der Fall eines nachgeborenen Kindes eines Drittstaatsangehörigen, sind jedoch auch sonst nicht ersichtlich. So befindet sich die Klägerin keineswegs in einer Situation, die überhaupt nichts mit dem Zweck der Schutzgewährung zu tun hätte. Bevor die Klägerin aus dem Herkunftsstaat ihres Ehemanns, Syrien, ausgereist ist, hat sie dort über einen sehr langen Zeitraum hinweg, ca. 17 Jahre, ihren Lebensmittelpunkt innegehabt, dort mit ihrem Ehemann zusammengelebt und die drei gemeinsamen Kinder großgezogen. Somit hat die Klägerin sogar noch eine deutlich engere Bindung an den Verfolgungsstaat als dies beispielweise bei einem nachgeborenen Kind der Fall wäre, das (naturgemäß) niemals dort gelebt hat. Aufgrund dessen kann durchaus davon gesprochen werden, dass die Klägerin und ihr syrischer Ehemann trotz der divergierenden Staatsangehörigkeiten eine Art „Verfolgungsgemeinschaft“ bilden. Andernfalls würde die Schutzgewährung letztlich von Zufälligkeiten abhängen, wie zum Beispiel, ob der Familienangehörige im Verfolgerstaat bereits die Staatsangehörigkeit erworben oder auch nur beantragt hätte. Hinzu kommt, dass die Klägerin letztlich aus demselben Grund wie ihr Ehemann und die drei gemeinsamen Kinder, nämlich wegen des syrischen Bürgerkriegs, aus dem Staat, in dem sich der gemeinsame Lebensmittelpunkt der Familie befunden hat, ausgereist ist. Nach alldem erscheint eine abweichende Beurteilung des Falles der Klägerin, d.h. eine teleologische Reduktion des § 26 AsylG, nicht angezeigt.
b) Wegen des Anspruchs der Klägerin auf eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erweist sich der streitgegenständliche Bescheid (jedenfalls) in den Nummern 1. und 3. bis 6 als rechtswidrig (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 2, § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG, § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Er verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten und war folglich aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
c) Nachdem die Klagepartei bereits mit ihrem Hauptantrag in vollem Umfang Erfolg hatte, war über ihre Hilfsanträge nicht mehr zu entscheiden.
3. Der Klage war deshalb stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.


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