Baurecht

Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung, Bestimmung der näheren Umgebung, Strukturschnitt (abgelehnt)

Aktenzeichen  M 29 K 19.5959

Datum:
16.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 12491
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid vom 8. November 2019 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Baugenehmigung nach Plan-Nr. 19- … zu erteilen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 BayBO, da dem streitgegenständlichen Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen.
Das streitgegenständliche Vorhaben ist bauplanungsrechtlich zulässig.
Die bauplanungsrechtliche Beurteilung richtet sich im Hinblick auf das vorhandene, gemäß § 173 Abs. 3 BBauG und § 233 Abs. 3 BauGB übergeleitete und fortgeltende Bauliniengefüge nach § 30 Abs. 3 BauGB und im Übrigen nach § 34 BauGB. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist Das Bauvorhaben der Klägerin fügt sich insbesondere hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung und der überbaubaren Grundstücksfläche in die nähere Umgebung ein.
Maßgeblicher Beurteilungsrahmen für das Vorhaben ist die nähere Umgebung. Als nähere Umgebung ist dabei der umliegende Bereich anzusehen, soweit sich die Ausführung des Vorhabens auf ihn auswirken kann und soweit er seinerseits den bodenrechtlichen Charakter des zur Bebauung vorgesehenen Grundstücks prägt oder beeinflusst (BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – juris Rn. 33; B.v. 20.8.1998 – 4 B 79/98 – juris Rn. 7). Daraus folgt, dass nicht nur die unmittelbare Nachbarschaft des Baugrundstücks zu berücksichtigen ist, sondern auch die weitere Bebauung der Umgebung, soweit diese noch prägend auf das Baugrundstück wirkt (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: August 2021, § 34 Rn. 36). Wie weit die wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist. In der Regel gilt bei einem, inmitten eines Wohngebiets gelegenen Vorhaben als Bereich gegenseitiger Prägung das Straßengeviert und die gegenüberliegende Straßenseite (BayVGH, B.v. 27.9.2010 – 2 ZB 08.2775 – juris Rn. 4, U.v. 10.7.1998 – 2 B 96.2819 – juris Rn. 25, U.v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19, U.v. 24.7.2014 – 2 B 14.1099 – juris Rn. 20).
Dabei ist jedoch die nähere Umgebung für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB angeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann (BVerwG, B.v. 6.11.1997 – 4 B 172.97 – NVwZ-RR 1998, 539; BayVGH, U.v. 18.7.2013 a.a.O. Rn. 19). Bei den Kriterien Nutzungsmaß und überbaubare Grundstücksfläche ist der maßgebliche Bereich in der Regel enger zu begrenzen als bei der Nutzungsart (BayVGH, B.v. 16.12.2009 – 1 CS 09.1774 – juris Rn. 21 m.w.N.). Entscheidend bleiben in jedem Fall die tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall. Bestehende Sichtbeziehungen sind zu berücksichtigen (vgl. OVG NRW, U.v. 1.3.2017 – 2 A 46/16 – juris Rn. 35 ff. m.w.N.).
Meist wird sich die Bebauung in einem Quartier bzw. bei größeren Quartieren in einem entsprechenden Teil des Gevierts nach den oben genannten Grundsätzen wechselweise prägen. Eine andere Beurteilung ist nur dann gerechtfertigt, wenn innerhalb des Quartiers unterschiedliche Bau- und Nutzungsstrukturen vorhanden sind, die sich auch klar voneinander trennen lassen (BayVGH, B.v. 19.4.2017 – 9 ZB 15.1590 – juris Rn. 5). Die nähere Umgebung kann so beschaffen sein, dass die Grenze zur ferneren Umgebung dort zu ziehen ist, wo zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedenen Bau- und Nutzungsstrukturen aneinanderstoßen, insoweit also ein klarer Strukturschnitt zu erkennen ist.
Ein solcher Strukturschnitt kann zwischen der nördlichen Bebauung des Gevierts insbesondere auf den Fl.Nrn. 1903/5, 1903/27, 1903/30 und 1903/31 sowie 1903/28, 1903/29, 1903/21 und 1903/23 einerseits und der im Süden vorhandenen Bebauung der … Straße beginnend ab Fl.Nr. 1900/5 andererseits nach den Augenscheinsfeststellungen des Gerichts nicht festgestellt werden. Zwar ist die Bebauung der … Straße in ihrem alten Bestand, also ab der Fl.Nr. 1900/5 in südlicher Richtung von geringerer Kubatur und geringerer Geschossigkeit als dies bei der nördlichen Bebauung der … Straße der Fall ist. Allerdings ist eine solch massivere Bebauung auch im nördlichen Bereich nicht durchgehend vorhanden, wie die Bebauung der Flurstücke 1903/42, 1903/41 und letztlich auch 1903/7 zeigt. Dort finden sich jeweils Einfamilienhäuser mit kleinerer Kubatur, die hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung in etwa identisch mit den südlich davon gelegenen Einfamilienhäusern sind. Damit kann Aneinanderstoßen zweier jeweils einheitlicher Bebauungskomplexe unterschiedlicher Bau- und Nutzungsstrukturen an der Grenze zwischen den Grundstücken Fl.Nr. 1900/5 und 1900/6 einerseits und 1903/5, 1903/42, 1903/42 und 1903/7 andererseits nicht angenommen werden. Überdies befindet sich auch östlich der … Straße auf den Grundstücken mit den FlNrn. 1903/10 und 1903/15 Bebauung mit deutlich größerer Kubatur als die von der Beklagten als Obergrenze der Umgebungsbebauung angenommenen, wenngleich der … Straße nach dem Ergebnis des Augenscheins und nach den vorliegenden Luftbildern eine trennende Wirkung nicht beigemessen werden kann.
Schließlich sieht die erkennende Kammer auch in der vorhandenen Ringerschließung im nördlichen Bereich des Gevierts keinen Anlass, einen Strukturschnitt anzunehmen, zumal der nördliche Teil der H. Straße weder vom Baugrundstück der Klägerin noch von der … Straße zu sehen ist.
Ist damit als nähere Umgebung das gesamte Straßengeviert der … Straße und dort insbesondere die Bebauung der Fl.Nr. 1903/5 bei der Prüfung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit nach § 34 Abs. 1 BauGB zu berücksichtigen, fügt sich das Bauvorhaben der Klägerin, das in jeder Hinsicht innerhalb des aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmens bleibt, objektiv-rechtlich in seine entsprechende Umgebung ein (vgl. BVerwG, U. v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – juris).
Die Klägerin hat schließlich Anspruch auf Erteilung der beantragten Befreiung hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenze durch Müllboxen, zwei Lichtschächte, einer Terrasse im Erdgeschoss und einem untergeordneten Balkon im Obergeschoss.
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB sind erfüllt. Insbesondere sind die Grundzüge der Planung angesichts der nur durch Müllboxen, Lichtschächte einer Terrasse und einem untergeordneten Balkon überschrittenen Baugrenze nicht berührt. Überdies ist ausweislich des amtlichen Lageplans auch auf dem Grundstück Fl.Nr. 1903/4 eine Überschreitung der Baugrenze ersichtlich. Dies ist aus Sicht der erkennenden Kammer auch städtebaulich vertretbar. Zwar steht die Entscheidung über die Erteilung einer Befreiung nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift („kann“) im Ermessen der Behörde, was bedeutet, dass trotz Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen kein Anspruch auf eine Befreiung besteht. Aufgrund der Tatsache, dass die Befreiungstatbestände in § 31 Abs. 2 BauGB allerdings so detaillierte Vorgaben für die Erteilung einer Befreiung enthalten, verbleibt für die Genehmigungsbehörde kaum „Ermessensrest“ und eine Ablehnung ist nach der Rechtsprechung im Ergebnis nur dann ermessensgerecht, wenn der Befreiung gewichtige Interessen entgegenstehen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.1986 – 4 C 31/84 – juris Rn. 17; BVerwG, U.v. 19.9.2002 – 4 C 13/01 – juris Rn. 31; BayVGH, B.v. 11.4.2017 – 1 ZB 14.2723 – juris Rn. 10). Da hierzu allerdings von der Beklagten weder vorgetragen wurde noch sonst Umstände ersichtlich sind und die in Betracht kommenden städtebaulichen Belange bereits im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB berücksichtigt wurden, ist die Erteilung der Befreiung die einzig ermessensfehlerfreie Entscheidung. Folglich hat sich das Ermessen im konkreten Fall auf Null reduziert, weshalb die Klägerin einen Anspruch auf eine Befreiung von den Festsetzungen zu den überbaubaren Grundstücksflächen hat.
Gleiches gilt für die beantragte Abweichung hinsichtlich der maximal zulässigen Rampenneigung. Bei vollständiger Einhausung der Rampe und der Nutzung durch einen eingeschränkten, mit den örtlichen Verhältnissen vertrauten Personenkreis hält die erkennende Kammer eine Abweichung unter Berücksichtigung des Zwecks des § 3 Abs. 1 der Verordnung über den Bau und Betrieb von Garagen sowie über die Zahl dern notwendigen Stellplätze (Garagen- und Stellplatzverordnung – GaStellV) vom 30. November 1993 (GVBl. S. 910) und unter Würdigung mit den öffentlichen Belangen für genehmigungsfähig. Da die Beklagte derartige Abweichungen in vergleichbaren Fällen genehmigt und im vorliegenden Verfahren weder Umstände vorgetragen hat, die einer Abweichung entgegenstehen könnten, noch solche sonst ersichtlich sind, ist das Ermessen vorliegend ebenfalls auf Null reduziert mit der Folge eines Anspruchs der Klägerin auf Erteilung der Abweichung.
Sonstige im Genehmigungsverfahren zu prüfende bauplanungs- oder bauordnungsrechtliche Belange, die dem Vorhaben entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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