Arbeitsrecht

Außerordentliche Kündigung, Arbeitszeitbetrug, Abmahnung

Aktenzeichen  3 Sa 836/20

Datum:
14.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 9380
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
BGB: §§ 241 Abs. 2, 626 Abs. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

18 Ca 1451/19 2020-07-14 Urt ARBGMUENCHEN ArbG München

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 14.07.2020 – 18 Ca 1451/19 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.
I.
Die nach § 64 Abs. 2 lit. c) ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO, und damit zulässig.
II.
Die Berufung der Beklagten ist jedoch unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zurecht geurteilt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche fristlose noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung vom 18.10.2019 aufgelöst worden ist. Diese Kündigungen sind unwirksam, § 626 Abs. 1 BGB und § 1 Abs. 2 KSchG. Ebenso war der Weiterbeschäftigungsantrag begründet.
1. Die außerordentliche Kündigung ist nach § 626 Abs. 1 BGB unwirksam.
a) Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Ein haltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung nicht zugemutet werden kann.
Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.
b) Danach liegt mit dem Verhalten des Klägers ein wichtiger Grund „an sich“ für eine außerordentliche Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB vor.
aa) Der vorsätzliche Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber nur schwer zu kontrollierende Arbeitszeit korrekt zu erfassen oder zu dokumentieren, ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Dies gilt für den vorsätzlichen Missbrauch einer Stempeluhr ebenso wie für das wissentliche und vorsätzliche falsche Ausstellen entsprechender Formulare. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung an, sondern auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schweren Vertrauensbruch. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation oder Erfassung der Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer vertrauen können. Überträgt er den Nachweis der geleisteten Arbeitszeit den Arbeitnehmern selbst und füllt ein Arbeitnehmer die dafür zur Verfügung gestellten Formulare wissentlich oder vorsätzlich falsch aus, so stellt dies in aller Regel einen schweren Vertrauensmissbrauch dar. Nicht anders zu bewerten ist es, wenn der Arbeitnehmer verpflichtet ist, geleistete Arbeit in einer elektronischen Zeiterfassung zu dokumentieren und er hierbei vorsätzlich falsche Angaben macht. Darauf, ob dem Arbeitgeber durch das Verhalten ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist oder das Verhalten des Arbeitnehmers auf andere – nicht wirtschaftliche – Vorteile ausgerichtet war, kommt es grundsätzlich nicht an (vgl. BAG, Urteil vom 26.09.2013 – 2 AZR 682/12 – Rn. 54 m.w.N.; Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 17).
Ebenso stellt es einen wichtigen Grund „an sich“ i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB dar, wenn sich der Arbeitsnehmer von seinem Arbeitsplatz unerlaubt entfernt.
bb) Der Kläger hat vorsätzlich und rechtswidrig gegen seine Verpflichtung, die elektronische Zeiterfassung korrekt zu bedienen, verstoßen.
(1) Unstreitig hat der Kläger am 27.09.2019 um 7:55 Uhr eingestempelt und, als er den Betrieb kurz darauf wieder verließ, nicht ausgestempelt. Hierdurch war in der elektronischen Zeiterfassung als Arbeitsbeginn 7:55 Uhr erfasst, obwohl der Kläger seine Arbeitsleistung nicht erbrachte.
(2) Der Kläger handelte auch vorsätzlich. Dem langjährig beschäftigten Kläger ist bekannt, dass er sein „Kommen“ und „Gehen“ in der elektronischen Zeiterfassung zu erfassen hat. Er hat erstinstanzlich nicht vorgetragen, dass er in Folge der Aufregung um seinen defekten Reifen „schlicht vergessen“ hätte, wieder auszustempeln. Dies ist eine Annahme des erstinstanzlichen Gerichts, die sich der Kläger erst zweitinstanzlich zu eigen gemacht hat. Diese nunmehrige Behauptung ist jedoch nicht glaubhaft. Sie lässt außer Acht, dass der Kläger trotz der angeblichen Aufregung um seinen defekten Reifen einstempelte, und zwar – wie er gegenüber dem Inklusionsamt angab – „aus Gewohnheit und zur Dokumentation seines Eintreffens“ (vgl. Anlage BB 1 = Bl. 158, 159 d. A.). Eine Erklärung dafür, warum er dann nicht aus „Gewohnheit“ beim „Gehen“ ausstempelte, gibt der Kläger nicht. Der Kläger hat auch nicht später die Ankunftszeit berichtigt. Bei Rückkehr in den Betrieb hat er nicht „aus Gewohnheit“ eingestempelt, wie er dies angeblich tut. In diesem Fall wäre es zu einer Fehlermeldung gekommen, die seine unterlassene Buchung offengelegt hätte. Der Kläger hat aber auch nicht die Schichtleiterin Frau G. auf die Buchung um 7:55 Uhr und die unterlassene Ausbuchung gegen 8:00 Uhr hingewiesen. Hierzu wäre er nach § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet gewesen, weil die Pflicht zur korrekten Erfassung der Arbeitszeit nicht nur die korrekte Buchung am Zeiterfassungssystem, sondern auch die nötigen Handlungen, um eine fehlerhafte oder unterbliebene Buchung zu berichtigen, umfasst. Indem der Kläger entgegen seiner Nebenpflicht aus § 241 Abs. 2 BGB die falsche Erfassung seines Arbeitszeitbeginns stehengelassen hat, hat er sie gebilligt. Darauf, ob dem Arbeitgeber in Folge dessen ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist, der im vorliegenden Fall durch das Nacharbeiten am Nachmittag fraglich sein könnte, kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht an (vgl. nochmals BAG, Urteil vom 26.09.2013 – 2 AZR 682/12 – Rn. 54). Es genügt, dass das Verhalten des Arbeitnehmers auf andere – nicht wirtschaftliche – Vorteile gerichtet ist, die darin bestehen können, arbeitsrechtliche Konsequenzen zu verhindern. Selbst wenn der Kläger die fehlende Arbeitszeit am Morgen durch ein Nacharbeiten am Nachmitttag hätte ausgleichen wollen, hätte er durch das Einstempeln um 7:55 Uhr und das unterlassene Ausstempeln bzw. die Anzeige von fehlerhaften bzw. unterlassenen Buchungen der Beklagten Arbeitszeiten vorgespiegelt, die er in Wirklichkeit nicht geleistet hat (vgl. BAG, Urteil vom 26.09.2013 – 2 AZR 682/12 – Rn. 51). Der Vorsatz des Klägers muss sich nicht auf die Erschleichung von Vergütung für nicht geleistete Arbeit beziehen.
(3) Das Verhalten des Klägers war auch nicht gerechtfertigt. Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, er habe sich bei seinen Kollegen Frau X und Herrn W abgemeldet und gesagt „er würde in ca. einer halben Stunde wiederkommen und dafür am Ende der Schicht auch länger bleiben“ (vgl. Schriftsatz vom 21.01.2020, S. 1). Diese Mitteilung, die mangels Vorgesetztenfunktion der Kollegen schon nicht an diese zu richten war, sagt über die Erfassung der Arbeitszeit durch den Kläger nichts aus. Die Kollegen konnten der Mitteilung nur entnehmen, dass der Kläger länger arbeiten würde. Ob der Kläger beim Verlassen des Betriebs ausstempeln und damit eine korrekte Erfassung der Arbeitszeit ermöglichen würde, stand zum Zeitpunkt der Mitteilung an die Kollegen noch gar nicht fest. Im Übrigen konnte diese Erklärung eher den Eindruck hervorrufen, der Kläger werde seine Arbeitsleistung am 27.09.2019 korrekt erbringen, wozu das korrekte Ausstempeln bzw. die Berichtigung falscher oder unterlassener Buchung gehört. Schließlich hat der Kläger die Kollegen nicht aufgefordert, die Vorgesetzten entsprechend zu informieren, sodass die Mitteilung schon nicht geeignet war, das Verhalten des Kläger gegenüber der Beklagten zu entschuldigen.
Darüber hinaus kann sich der Kläger für sein Verhalten nicht auf die am 27.09.2019 durchzuführende Reifenreparatur berufen. Eine erforderliche Reparatur hätte den Kläger nicht daran gehindert, seine Arbeitszeiten korrekt zu erfassen.
cc) Zu Recht hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass der Kläger, als er unentschuldigt den Arbeitsplatz am 27.09.2019 wieder verlassen hat, vorsätzlich gegen seine Pflicht zur Arbeitserbringung und seine Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen der Beklagten verstoßen hat.
Auch dieses Verhalten des Klägers war nicht gerechtfertigt. Die Mitteilung, er würde in ca. einer halben Stunde wiederkommen und dafür am Ende der Schicht auch länger bleiben, hätte – wie bereits ausgeführt – gegenüber den Vorgesetzten, nicht aber den Kollegen erfolgen müssen. Im Übrigen hätte die Reifenreparatur, die nur kurz währte, auch zu einem späteren Zeitpunkt am Vormittag ausgeführt werden können, nämlich nachdem der Kläger die Erlaubnis seiner Vorgesetzten eingeholt hätte.
c) Die außerordentliche Kündigung erweist sich jedoch aufgrund der vorzunehmenden Interessenabwägung als unverhältnismäßig.
aa) Bei der Prüfung gem. § 626 Abs. 1 BGB, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der – fiktiven – Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Sie scheidet aus, wenn es ein „schonenderes“ Gestaltungsmittel – etwa Abmahnung, Versetzung, ordentliche Kündigung – gibt, das ebenfalls geeignet ist, den mit einer außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses – zu erreichen. Der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers ist im Rahmen der Interessenabwägung insbesondere hinsichtlich einer möglichen Wiederholungsgefahr von Bedeutung. Je höher er ist, desto größer ist diese (vgl. zu allem BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 28 – 29 m.w.N.)
Beruht die Pflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Die außerordentliche und ordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder dass es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (vgl. BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – 30 m.w.N.; Urteil vom 27.02.2020 – 2 AZR 570/19 – Rn. 23).
bb) Bei Abwägung der Umstände im vorliegenden Fall stellt sich die außerordentliche Kündigung mit sofortiger Wirkung gegenüber dem Kläger als unverhältnismäßig dar.
(1) Als Reaktion der Beklagten auf das Fehlverhalten des Klägers hätte eine Abmahnung ausgereicht.
Zwar liegt dem Verhalten des Klägers eine schwere Pflichtverletzung vor. Er hat am Morgen des 27.09.2019 mehrfach die Arbeitszeit nicht korrekt erfasst bzw. auf ihre korrekte Erfassung hingewirkt. Dieses Verhalten ist geeignet, das Vertrauen der Beklagten in die zukünftig korrekte Erfassung der Arbeitszeiten durch den Kläger zu erschüttern. Jedoch hat der Kläger in dem elf Jahre bestehenden Arbeitsverhältnis erstmalig seine Pflicht zur korrekten Arbeitszeiterfassung verletzt (vgl. grundlegend BAG, Urteil vom 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – (Emmely) Rn. 32 ff., 46), und zwar durch Erfassung eines um 40 Minuten zu früh dokumentierten Arbeitszeitbeginns. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall von den bereits vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Konstellationen zur falschen Arbeitszeitdokumentation, in denen ein Arbeitnehmer fünf Jahre lang monatlich sieben Überstunden unberechtigt geltend gemacht (siehe BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 25) oder an sieben Arbeitstagen hintereinander Arbeitszeit im Umfang von jeweils 13-28 Minuten zu Lasten des Arbeitsgebers falsch angegeben hatte (vgl. BAG, Urteil vom 09.06.2011 – 2 AZR 381/10 – Rn. 23), weshalb der Arbeitnehmer nicht hätte annehmen dürfen, dass der Arbeitgeber sein Verhalten hinnehmen würde (siehe BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 33) bzw. wegen des auf Heimlichkeit angelegten, vorsätzlichen und systematischen Fehlverhaltens eine besonders schwere Störung der für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderlichen Vertrauensgrundlage vorläge, die es rechtfertige, das Arbeitsverhältnis ohne vorherige Abmahnung mit sofortiger Wirkung zu kündigen (vgl. BAG, Urteil vom 09.06.2011 – 2 AZR 381/10 – Rn. 20). Entgegen der Auffassung der Beklagten rechtfertigt auch die Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 06.10.2010 – 6 Sa 293/10 -) keine abweichende Beurteilung. Im dortigen Fall hatte sich der Arbeitnehmer an einem Tag mindestens 35 Minuten mehr Arbeitszeit aufgeschrieben als tatsächlich geleistet. Im vorliegenden Fall wurde als Differenz zwischen Soll- und Iststunden für den 27.09.2019 „0“ ausgewiesen (Anlage K3 = Bl. 90 d. A.).
Soweit die Beklagte geltend macht, der Kläger hätte keinen Anlass zu der Annahme gehabt, die Beklagte würde sein Verhalten hinnehmen, weil es im Betrieb üblich sei, dass jeder Mitarbeiter, der entgegen den bestehenden Regelungen unerlaubt während der Arbeitszeit das Betriebsgelände verlässt, wegen Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Obliegenheiten abgemahnt werde (vgl. Schriftsatz vom 05.12.2019, S. 2 = Bl. 24 d. A.) und auch eine unentschuldigte, verspätete Arbeitsaufnahme regelmäßig mit einer Abmahnung geahndet werde (vgl. Schriftsatz vom 26.10.2020, S. 7 = Bl. 154 d. A), übersieht sie, dass es für die Frage der Entbehrlichkeit einer Abmahnung auf einen objektiven Maßstab ankommt. Die Frage, ob die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist, ist aus der Sicht eines objektiven Betrachters zu beantworten (vgl. BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 30 m.w.N.) und im Anschluss an die vorstehenden AusDie Abmahnung ist im vorliegenden Fall aber auch nicht deshalb entbehrlich, weil bereits ex ante erkennbar gewesen wäre, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft nach einer Abmahnung nicht zu erwarten stand. Dies hat das Arbeitsgericht verneint. Die Beklagte ist dem nicht entgegengetreten; sie hat sich für die Entbehrlichkeit der Abmahnung hinsichtlich des versuchten Arbeitszeitbetrugs vielmehr auf die Alternative „schwere Pflichtverletzung, deren Hinnahme durch den Arbeitgeber nicht erwartetet werden könne“ berufen, die vorstehend verneint wurde. Darüber hinaus ist unstreitig, dass der Kläger beim Verlassen des Betriebs gegenüber den Kollegen angekündigt hatte, „dafür am Ende der Schicht auch länger (zu) bleiben“. Denn die Beklagte hat insoweit lediglich vorgetragen, dass der Kläger die Kollegin Frau X nicht angehalten habe, die Beklagte über seine Absicht, den Betrieb wieder zu verlassen, zu informieren; die Behauptungen des Klägers gegenüber den Arbeitskollegen hat sie nicht in Frage gestellt. Damit wäre es dem Kläger nicht darum gegangen, Vergütung zu Unrecht zu erhalten, sondern unbemerkt während der Arbeitszeit das Betriebsgelände zu verlassen. Ist es aber nach dem Vortrag der Beklagten im Betrieb üblich, dass jeder Mitarbeiter, der unerlaubt während der Arbeitszeit das Betriebsgelände verlässt, wegen Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Obliegenheiten abgemahnt wird, hätte sie Gründe, warum sie hiervon im Fall des Klägers absehen durfte, vorgetragen müssen. Die Beklagte geht selbst davon aus, dass in diesen Fällen eine Verhaltensänderung in der Zukunft grundsätzlich erwartet werden kann.
führungen zu verneinen.
Dementsprechend war auch eine Abmahnung wegen des Pflichtstoßes des unerlaubten Entfernens vom Arbeitsplatz, den das Arbeitsgericht bejaht hat, auszusprechen und die außerordentliche Kündigung nicht das mildere Mittel.
(2) Hilfsweise stützt die Kammer ihre Entscheidung darauf, dass die außerordentliche Kündigung auch dann unverhältnismäßig ist, wenn eine Abmahnung entbehrlich gewesen wäre.
Der Kläger ist Jahrgang 0000 und mit einem Grad von 70 schwerbehindert. Seine Chance, sofort mit Ausspruch der außerordentlichen, fristlosen Kündigung einen neuen Arbeitsplatz zu finden, war daher gegenüber jüngeren und gesunden Arbeitnehmern deutlich gemindert. Zu einem wirtschaftlichen Schaden ist es wegen der erfolgten Nacharbeit nicht gekommen. Es war das erste Mal, dass der Kläger seine Arbeitszeit während des elfjährigen Bestehens des Arbeitsverhältnisses nachweislich nicht korrekt erfasst hat. Zur Vorbeugung einer Wiederholungsgefahr hätte die Beklagten den Kläger zeitweise – jedenfalls für die Dauer der Kündigungsfrist – anweisen können, sich jeweils zu Schichtbeginn und – ende persönlich bei der Schichtleitung an- und abzumelden. Soweit die Beklagte in der Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht vorgetragen hat, es habe mit dem Verhalten des Klägers in den vergangenen Jahren Probleme gegeben, „er tue, was er wolle“, ist dies zunächst durch Abmahnung zu rügen.
2. Die hilfsweise ordentliche Kündigung ist nach § 1 Abs. 1 und 2 KSchG unwirksam.
Die Kündigung ist sozial ungerechtfertigt. Sie ist nicht durch Gründe im Verhalten des Klägers i. S. v. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt. Sie ist auf denselben Lebenssachverhalt gestützt wie außerordentliche Kündigung. Der Beklagten war es aus den dargelegten Gründen zuzumuten, auf das mildere Mittel der Abmahnung zurückzugreifen.
Ergänzend stützt sich die Kammer auf die Interessenabwägung im weiteren Sinn.
3. Dem zugesprochenen Weiterbeschäftigungsanspruch ist die Beklagte in ihrer Berufung nicht entgegengetreten.
III.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
IV.
Es bestand kein Grund, die Revision zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen, § 72 Abs. 2 ArbGG.


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