Arbeitsrecht

Beitragsrecht: Sozialversicherungsrechtlicher Status von Flugbegleiterinnen

Aktenzeichen  L 16 R 5084/16

Datum:
27.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 35091
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IV § 7 Abs. 1, § 7a Abs. 1 S. 1
LuftSiG § 7 Abs. 6

 

Leitsatz

1. Flugbegleiterinnen bei einem Flugdienst im Anforderungsverkehr ohne feste Abflugzeiten sind abhängig beschäftigt im Sinne des § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV). (Rn. 39 – 42)
2. Flugbegleiterinnen sind nicht mit Piloten vergleichbar, weshalb sie nicht als sogenannte „Freelancer“ selbständig tätig sind. (Rn. 43)

Verfahrensgang

S 14 R 1328/13 2016-05-13 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin und die Anschlussberufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 13. Mai 2016 werden zurückgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, die der Beklagten ist als sog. unselbständige Anschlussberufung zulässig. Die Berufungen wurden form- und fristgerecht eingelegt (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Berufung der Beklagten ist wie von der dieser hilfsweise beantragt als sogenannte unselbständige Anschlussberufung zu führen. Als eigenständige Berufung ist sie unzulässig, weil der Wert der Beschwer von 750 € nicht erreicht wird (§§ 143, 144 SGG). Es ist nicht auf den Auffangstreitwert in Höhe von 5000 € zur Bestimmung des Werts der Beschwer abzustellen, sondern auf den wertmäßig ermittelten Betrag von rund 636 €. Für die Anschlussberufung ist nicht erforderlich, dass diese selbst zulässig ist. Eine Verwerfung der eigenständigen Berufung der Beklagten als unzulässig hat nicht zu erfolgen (Reichhold in Thomas/Putzo, ZPO, 37. Aufl. 2016, § 524 Rn. 1; Leitherer in Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 143 Rn. 5b).
Die Berufung und die Anschlussberufung sind nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass die Beigeladenen zu 1) bis 7) bei der Klägerin als CdC abhängig beschäftigt waren, deshalb der Sozialversicherungspflicht unterlagen und die Klägerin hierfür Sozialversicherungsbeiträge entrichten muss. Weiter hat das Sozialgericht zu Recht die Beitragsforderung um den Teil der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge reduziert, die auf die Beigeladene zu 4) aufgrund einer Mehrfachbeschäftigung entfallen. Der Senat sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, weil er die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 153 Abs. 2 SGG).
Soweit im Berufungsverfahren neue Argumente vorgetragen bzw. Argumente besonders hervorgehoben worden sind, weist der Senat zur Berufung der Klägerin auf Folgendes hin:
Die CdC waren nach Überzeugung des Senats abhängig beschäftigt. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung zwischen Merkmalen die für eine abhängige Beschäftigung sprechen und solchen, die für eine selbständige Tätigkeit sprechen, überwiegen sehr deutlich die Merkmale einer abhängigen Beschäftigung. Dies hat die Anhörung der Beigeladenen zu 2) und 4) bis 7), des Geschäftsführers und der Personalleiterin der Klägerin und die Einvernahme der beiden Zeugen in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Insbesondere haben die Angaben aller Beteiligten – im Einklang mit den Verträgen – ergeben, dass die Auftragsabwicklung zwischen der Klägerin und den Beigeladenen zu 1) bis 7) identisch verlief.
Ausgangspunkt der Betrachtung sind zunächst die zwischen der Klägerin und den Beigeladenen zu 1) bis 7) geschlossenen Verträge. Die getroffenen Vereinbarung – die nach den Feststellung des Senats im Wesentlichen auch so gelebt wurden – sprechen eindeutig für eine abhängige Beschäftigung, da die CdC der Verantwortlichkeit des Kapitäns bzw. First Officers untersteht, bei einem eigenen Proceeden (ohne die restliche Crew) der Mietwagen/das Bahnticket/das Flugticket nur nach vorheriger Genehmigung durch einen Mitarbeiter der Klägerin übernommen wurde, die interne Reisekostenrichtlinie Anwendung findet und die Arbeitsleistung höchstpersönlich geschuldet ist. Die Angaben der Klägerin im Verfahren sind insoweit falsch und wurden insbesondere durch die Angaben der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung und des Zeugen M. widerlegt. Bei einer Verhinderung teilte die CdC dies lediglich mit; um einen Ersatz kümmerte sich OPS. Dies leuchtet auch mit Blick auf die luftsicherheitsrechtlichen Notwendigkeiten ein. Die Aufgabe ist in der Vereinbarung nur grob umrissen (Betreuung von Fluggästen im nationalen und internationalen Flugverkehr) und die Details sind in einer „Arbeitsplatzbeschreibung“ aufgelistet. Die Arbeitsplatz- bzw. Stellenbeschreibung entspricht dem, was in Arbeitsverträgen üblich ist. Dort wird die Aufgabe detailliert geregelt, der direkte Vorgesetzte benannt sowie die weiteren Personen, die fachliche Anweisungen erteilen können. Weiter ist vorgegeben, welche Tätigkeiten in Absprache mit Mitarbeitern der Klägerin zu erfolgen haben (z.B. Cateringbestellung). Das von der CdC an den Tag zu legende Verhalten wird genau vorgegeben. Die CdC schuldete gerade nicht nur, dem Kundenwunsch zu entsprechen. Wie dies zu geschehen hatte, war genau vorgeschrieben.
Weiter waren die CdC weisungsgebunden, in die organisatorischen Abläufe der Klägerin eingegliedert und sie trugen kein Unternehmerrisiko.
Die CdC unterlagen fachlichen Weisungen. Richtig ist zunächst, dass die CdC in der Annahme eines einzelnen Auftrags frei waren. Allerdings hatten die CdC mit der „Vereinbarung über den Einsatz als CdC“ einen Rahmenvertrag geschlossen und sich damit verpflichtet nach vorheriger Terminabsprache Fluggäste der Klägerin zu betreuen. Bei Annahme eines Auftrags war die CdC an die Vorgaben der Klägerin gebunden und musste Weisungen von Mitarbeitern der Klägerin folgen. Die Aufgabenbeschreibung war im Bereich Service so detailliert vorgegeben, dass kaum ein Freiraum verblieb bei der Ausübung der Tätigkeit. Dass die CdC die Kabine nach eigener Vorstellung dekorieren konnte und bei der Reihenfolge der Bewirtung an Board oder der Gestaltung des Service frei war, ist von nur untergeordneter Bedeutung. Insoweit ist noch zu beachten, dass sie verpflichtet war, die Kundenwünsche – die ihr zu Beginn der Tätigkeit von der Klägerin bzw. vor jedem Flug in einer finalen E-Mail mitgeteilt wurden – zu beachten hatte. Mithin war die CdC selbst bei der behaupteten freien Gestaltung nicht „frei“. Die Vorgabe den Kundenwünschen zu entsprechen und dabei nicht aufdringlich zu sein sowie elegant gekleidet, ist eine inhaltliche Weisung.
Die CdC waren in die betrieblichen Abläufe der Klägerin eingegliedert. Sie arbeiteten mit anderen Mitarbeitern (insbesondere OPS und Flugbetriebsleiter) und Partnern der Klägerin (Kapitän, First Officer, Handling) zusammen und waren Teil der Flugorganisation und Flugdurchführung der Klägerin. Sie nutzten die Infrastruktur der Klägerin (Caterer/Metzger mit direkter Rechnungsstellung an die Klägerin, Hotel-/Mietwagenbuchung über die Klägerin, Nutzung der Küche und sonstigen Infrastruktur an Board, teilweise Abrechnungsformulare). Die Uniform, welche in einer internen Flugbetriebsordnung der Klägerin festgelegt war, wurde kostenlos gestellt; es wurden Dienstausweise zur Verfügung gestellt. Auch erfolgte die Abrechnung der CdC nicht mit den Kunden direkt, sondern der Kunde rechnete das inklusive Servicekraft gebuchte Flugzeug mit der Klägerin ab. Ein weiterer Aspekt der Eingliederung ist das gemeinsame Proceeden. Ohne die von der Klägerin vorgehaltenen Betriebsmittel, Organisation und den Kundenstamm wäre die Tätigkeit der CdC nicht möglich gewesen.
Die CdC trugen kein Unternehmerrisiko. Sie setzten ihre Arbeitskraft nicht mit der Gefahr des Verlustes ein. Eine echte Gewinnchance durch einen eigenen Gestaltungsspielraum hatten die CdC nicht. Die Preise waren vorgegeben worden. Die CdC erhielten bis auf eine kleine Abweichung bei der Beigeladenen zu 6) identische Vergütungen. Soweit die Klägerin darauf abstellt, dass in der Pauschalvergütung das unternehmerische Risiko läge, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Zwar war die Einsatzdauer unterschiedlich, so dass der umgerechnete Stundensatz variieren konnte. Jedoch wussten die CdC vor Zusage einer Flugbegleitung, welcher zeitliche Umfang sie erwarten würde und damit auch, für welchen „Preis“ sie arbeiten würde. Das Risiko der unterschiedlichen Stundenvergütung trugen die CdC, ohne durch eigenes unternehmerisches Geschick, eine echte unternehmerische Chance auf einen höheren Verdienst zu haben. Schließlich handelt es sich nicht um eine echte Pauschale, die die CdC anhand einer eigenen Kostenanalyse vorgeschlagen haben. Die Erstattung von weiteren Spesen oder Aufwänden neben der Pauschale spricht ebenfalls gegen ein unternehmerisches Risiko. Eigenes Kapital in Form eigener Betriebsmittel mit Verlustgefahr kam nicht zum Einsatz. Das Vorhalten und die Nutzung eines heimischen Büro-/PC-Arbeitsplatz mit einer dem alltäglichen Gebrauch entsprechenden Ausstattung fällt nicht ins Gewicht bzw. ist nicht als Einsatz von Betriebsmitteln zu werten, weil eine eigene Telefonanlage bzw. ein eigenes Mobiltelefon und ein eigener PC mit Internet-/E-Mail-Anschluss der allgemeinen Lebensführung dienen und auch von Arbeitnehmern auf eigene Kosten vorgehalten werden (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013, B 12 KR 17/11 R, Rn. 38 zitiert nach juris). Auch fehlende Regelungen zu Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder Urlaubsanspruch oder – entgelt sprechen nur vordergründig für eine selbständige Tätigkeit. Denn die Überbürdung von sozialen Risiken, abweichend von der das Arbeitsrecht prägenden Risikoverteilung, ist nur dann ein gewichtiges Indiz für unternehmerisches Handeln, wenn damit auch tatsächlich Chancen einer Einkommenserzielung verbunden sind. Notwendig ist eine Erweiterung der unternehmerischen Möglichkeiten, welche hier fehlt (vgl. BSG, Urteil vom 11.03.2009, Az. B 12 KR 21/07 R; Landessozialgericht NRW, Urteil vom 02.07.2014, Az. L 8 R 368/12).
Aus der sog. Freelancer-Entscheidung des BSG (Urteil vom 28.05.2008, B 12 KR 13/07 R) ergibt sich keine andere Bewertung. Die CdC sind nicht mit Piloten vergleichbar, insbesondere liegt bei ihnen kein unternehmerisches Risiko in Form der Gefahr des Verlusts einer Lizenz vor. Bei der Ausbildung zur Flugbegleiterin handelt es sich nicht um einen anerkannten Ausbildungsberuf. Die Ausübung der Tätigkeit ist nicht an die Anzahl der Flugstunden oder ähnliches geknüpft. Zudem hatten die CdC – anders als vom BSG für Piloten entschiedenen – ein überwiegendes wirtschaftliches Interesse an der Tätigkeit.
Zur Anschlussberufung der Beklagten weist der Senat daraufhin, dass das Prüfrecht der Rentenversicherung bei einer Betriebsprüfung umfassend ist und Prüfgegenstand alle Fragen der Versicherungs- und Beitragspflicht, der Beitragshöhe und Beitragsberechnung sind (vgl. Roos in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 98 Rn. 12). Auch die nunmehr im Berufungsverfahren gemachten detaillierten Angaben zur Historie der Anwendung des § 22 Abs. 4 SGB IV rechtfertigen keine andere Beurteilung. Das Sozialgericht hat zu Recht den Bescheid insoweit aufgehoben, als die Mehrfachbeschäftigung der Beigeladenen zu 4) bei der L. sowie bei der Klägerin bei der Beitragsberechnung nicht berücksichtigt wurde und dies zu einer Reduzierung der Beitragsforderung von 636,36 € führt.
Der im streitigen Zeitraum gültigen Vorschrift des § 22 Abs. 2 S. 1 SGB IV in den Fassungen vom 23.01.2006, 21.12.2008 und 12.01.2009 ist weder ihrem Wortlaut noch ihrer Stellung im Gesetz zu entnehmen, dass sie auf eine Anwendung durch die Einzugsstelle beschränkt ist.
Die Beiträge werden als Gesamtsozialversicherungsbeitrag von den Arbeitgebern geschuldet (§ 28d SGB IV). Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag ist an die Einzugsstelle zu zahlen (§ 28h, 28i SGB IV). Nach § 28h Abs. 2 SGB IV entscheidet die Einzugsstelle über die Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitslosenversicherung; sie erlässt auch den Widerspruchsbescheid. Demgegenüber regelt § 28p SGB IV, dass die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern prüfen, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten nach diesem Gesetzbuch, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllen; sie prüfen insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlung und der Meldungen alle vier Jahre. Die Träger der Rentenversicherung erlassen im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitslosenversicherung einschließlich der Widerspruchsbescheide gegenüber den Arbeitgebern; § 28h Abs. 2 SGB IV sowie § 93 iVm § 89 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) gelten insoweit nicht (vgl. § 28p Abs. 1 S. 5, 2. Halbsatz SGB IV). § 28h Abs. 2 SGB IV und § 28p Abs. 1 S. 5 SGB IV regeln inhaltsgleich den Prüfungsumfang (Versicherungspflicht und Beitragshöhe) und den Erlass von Widerspruchsbescheiden gegenüber dem Arbeitgeber. Für den Fall der Betriebsprüfung ist nach § 28p Abs. 1 S. 5, 2. Halbsatz SGB IV die Zuständigkeit der Einzugsstelle ausgeschlossen. Das Einzugsstellenverfahren nach § 28h Abs. 2 S. 1 SGB IV und das Betriebsprüfungsverfahren nach § 28p Abs. 1 S. 5 SGB IV haben den gleichen Inhalt und sind rechtlich gleichwertig (vgl. BSG, Urteil vom 04.09.2018, B 12 KR 11/17 R, Rn. 12 zitiert nach juris). Daraus folgt, dass der Prüfungsumfang und die anzuwendenden Vorschriften gleichwertig sind. Dem Wortlaut des Gesetzes ist gerade nicht zu entnehmen, dass die Einzugsstellen § 22 Abs. 2 S. 1 SGB IV anzuwenden haben, die Rentenversicherung demgegenüber nicht.
Auch Sinn und Zweck des Gesetzes in den maßgeblichen Fassungen sprechen für eine Anwendung von § 22 Abs. 2 S. 1 SGB IV durch die Beklagte im Falle einer Betriebsprüfung. Für den geprüften Betrieb sollen eine korrekte sozialversicherungsrechtliche Einordnung der Beschäftigten sowie eine rechtmäßige Beitragserhebung erfolgen. Insoweit widerspricht es dem Gesetzeszweck „sehenden Auges“ einen falschen Bescheid zu erlassen, diesen ggf. im Instanzenzug rechtskräftig werden zu lassen und den Arbeitgeber danach auf ein Verfahren bei der Einzugsstelle zu verweisen, um die rechtskräftig festgestellte Beitragsnachforderung wieder zu korrigieren. Weiter steht der Geltendmachung des Anspruchs der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegen. Die Beklagte erhebt Beiträge für einen zu prüfenden Sachverhalt in Kenntnis der Tatsache nach, dass die Klägerin diese Beiträge von der Einzugsstelle für denselben Sachverhalt wiedererstattet bekommt (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16.11.206, L 2 R 579/16, Rn. 211 zitiert nach juris; BSG, Urteil vom 01.03.1963, 2 RU 152/60, Rn. 20 zitiert nach juris).
Eine zu schließende Regelungslücke – im Sinne einer Ausnahme – ist ebenfalls nicht erkennbar. Erst zum 01.01.2015 wurde § 26 Abs. 4 SGB IV, der ausdrücklich eine Erstattungsregelung für § 22 SGB IV vorsieht, eingeführt. Danach hat die Einzugsstelle in den Fällen, in denen eine Mehrfachbeschäftigung vorliegt und nicht auszuschließen ist, dass die Voraussetzungen des § 22 Abs. 2 SGB IV vorliegen, nach Eingang der Entgeltmeldungen von Amts wegen die Ermittlung einzuleiten, ob Beiträge zu Unrecht entrichtet wurden. Ein der Beitragserhebung bei Betriebsprüfung nachgelagerter Mechanismus dieser Art war vor dem 01.01.2015 nicht im Gesetz geregelt. Daher kann die Beklagte die Klägerin für vor dem 01.01.2015 liegende Abrechnungszeiträume nicht auf ein nachgelagertes Verfahren bei der Einzugsstelle verweisen.
Praktikabilitätsgründe sprechen ebenfalls nicht dafür, dass die Beklagte bei einer Betriebsprüfung davon befreit wäre § 22 Abs. 4 SGB IV anzuwenden. Die Regelung zu Auskunftspflichten der Beteiligten spricht zudem für die Anwendung des § 22 Abs. 2 SGB IV durch die Beklagte im Rahmen einer Betriebsprüfung angeführt werden, weil die Beklagte in die Lage versetzt wird, vergleichbare Ermittlungen anzustellen wie die Einzugsstelle. Richtig ist zwar, dass die Beklagte eine Prüfung bei dem Arbeitgeber durchführt, mithin dieser Arbeitgeber mitwirken muss (§ 28p Abs. 5 SGB IV sowie Verordnung nach § 28p Abs. 9 SGB IV). Allerdings räumt § 98 SGB X der Beklagten ein umfassendes Recht auf Auskunft bei Arbeitgebern ein, das durch die Regelungen nach § 28p SGB IV verschärft wird, mithin aber daneben anwendbar ist. Das Auskunftsrecht der Einzugsstelle wird in Fällen der Betriebsprüfung nach § 98 Abs. 1a SGB X demgegenüber eingeschränkt. Die Auskunftspflicht wegen der Entrichtung von Beiträgen ist nicht durch § 98 Abs. 2 SGB X begrenzt. Die Beklagte kann daher bei Arbeitgebern wegen der Beitragsentrichtung Auskunft verlangen. Damit korrespondiert die Pflicht von Beschäftigten nach § 28o SGB IV gegenüber Sozialversicherungsträgern auf Verlangen Auskunft zu erteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG, § 154 Abs. 2 VwGO. Das Sozialgericht hatte bereits eine Kostenteilung ausgeurteilt und dabei insbesondere das angenommene Teilanerkenntnis berücksichtigt. Summenmäßig fällt die Anschlussberufung der Beklagten nicht ins Gewicht. Die Kosten der zulässigen unselbständigen Anschlussberufung treffen grundsätzlich den Rechtsmittelkläger (vgl. Reichhold in Thomas/Putzo, ZPO, 37. Aufl. 2016, § 516 Rn. 10f).
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Ziff. 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.


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