Arbeitsrecht

Elterngeldrechtlich relevantes Bemessungseinkommen einer bei einem ausländischen Konsulat in Deutschland beschäftigen Person

Aktenzeichen  L 9 EG 36/15

Datum:
19.6.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 133459
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 9
BEEG § 1 Abs. 7 Nr. 1, § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 u. S. 2 u. Abs. 8 S. 6
EStG § 1 Abs. 1 S. 1, § 3 Nr. 29 b
SGG § 193, § 197 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Die gesetzliche Formulierung “im Inland zu versteuernd” in § 2 Abs. 1 Satz 2 BEEG in der ab 01.01.2011 geltenden Fassung stellt allein auf die materielle Rechtslage im Einkommensteuerrecht ab, nicht aber auf die – womöglich falsche – tatsächliche Handhabung durch das Finanzamt. (Rn. 40)
2. Ist die beim ausländischen Konsulat angestellte Person (Konsularangestellte) im Inland “ansässig” ist das daraus erzielte Arbeitsentgelt im Inland zu versteuern und damit für das Elterngeld bemessungsrelevant. (Rn. 38)

Verfahrensgang

S 17 EG 23/14 2015-04-14 GeB SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 14. April 2015 aufgehoben.
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 30. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Juni 2011 verurteilt, bei der Bemessung des Elterngelds für die Tochter L. die im Bemessungszeitraum bezogenen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beim mexikanischen Generalkonsulat F-Stadt einzubeziehen und entsprechend höheres Elterngeld zu gewähren.
II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Vielmehr steht der Klägerin Anspruch auf Elterngeld zu unter Berücksichtigung ihrer Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beim mexikanischen Generalkonsulat im Rahmen der Leistungsbemessung.
Streitgegenstand der hier vorliegenden kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage ist die Bewilligung höherer Leistungen für den gesamten Bezugszeitraum. Dabei richtet sich der Antrag der Klägerin auf die Verurteilung des Beklagten dem Grunde nach, dieser möge höhere Leistungen unter Berücksichtigung des im Bemessungszeitraum erzielten Entgelts aus nichtselbständiger Arbeit zusprechen. Eine betragsmäßige Fixierung durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hat die Klägerin nie verlangt; vielmehr hat sie ihr Begehren in zulässiger Weise von vornherein auf eine Verurteilung dem Grunde nach beschränkt. Angesichts dessen hat der Senat mit der Verurteilung des Beklagten den Streitgegenstand voll ausgeschöpft.
Die Voraussetzungen für die Entstehung eines Anspruchs dem Grunde nach liegen unzweifelhaft vor. Dies folgt aus § 1 Abs. 1 BEEG in der vom 01.01.2007 bis 31.12.2014 unverändert geltenden Fassung. Danach hat Anspruch auf Elterngeld, wer
1.einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat,
2.mit seinem Kind in einem Haushalt lebt,
3.dieses Kind selbst betreut und erzieht und
4.keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt.
Alle diese Voraussetzungen erfüllte die Klägerin. Sie hatte während des gesamten Bezugszeitraums ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, lebte mit L. in einem Haushalt, betreute und erzog sie selbst und übte entsprechend ihrer Ankündigung im Elterngeldantrag keine Erwerbstätigkeit aus.
Dass die Klägerin nicht deutsche Staatsangehörige ist, steht dem Elterngeldanspruch nicht entgegen. Sie ist zwar nicht freizügigkeitsberechtigt, verfügt jedoch über eine Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG. Das vermittelt ihr gemäß § 1 Abs. 7 Nr. 1 BEEG den Zugang zum Elterngeld.
Die Höhe des Elterngelds hat der Beklagte falsch festgesetzt. In der Tat hätte er, wie von der Klägerin beantragt, die im Bemessungszeitraum erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beim mexikanischen Generalkonsulat als Bemessungsentgelt heranziehen müssen. Dabei finden zwei unterschiedliche Fassungen des § 2 Abs. 1 BEEG Anwendung. Bis zum 31.12.2010 lautete § 2 Abs. 1 BEEG wie folgt:
„1Elterngeld wird in Höhe von 67 Prozent des in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1.800 Euro monatlich für volle Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. 2Als Einkommen aus Erwerbstätigkeit ist die Summe der positiven Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbstständiger Arbeit und nichtselbstständiger Arbeit im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 des Einkommensteuergesetzes nach Maßgabe der Absätze 7 bis 9 zu berücksichtigen.“
Ab 01.01.2011 galt folgende Fassung von § 2 Abs. 1 BEEG:
1Elterngeld wird in Höhe von 67 Prozent des in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens aus Erwerbstätigkeit bis zu einem Höchstbetrag von 1.800 Euro monatlich für volle Monate gezahlt, in denen die berechtigte Person kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt. 2Als Einkommen aus Erwerbstätigkeit ist die Summe der positiven im Inland zu versteuernden Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbstständiger Arbeit und nichtselbstständiger Arbeit nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 des Einkommensteuergesetzes nach Maßgabe der Absätze 7 bis 9 zu berücksichtigen.
Beide Fassungen müssen angewandt werden, weil der Bezugszeitraum am 30.12.2010 begann – also noch unter Geltung des alten Rechts – und bis 29.12.2011 fortdauerte. Die ab dem 01.01.2011 zustehenden Leistungen werden, anders als die beiden Tage im Dezember 2010, vom neuen Recht erfasst. Ein einheitliches Reglement lässt sich nicht feststellen. Denn das neue Recht ist erst am 01.01.2011 in Kraft getreten, weswegen der 30. und 31.12.2010 noch im zeitlichen Geltungsbereich des alten Rechts liegen. Andererseits sieht § 27 BEEG in der ab 01.01.2011 geltenden Fassung keine Übergangsvorschrift vor, wonach der hier vorliegende Fall noch vollständig nach altem Recht zu beurteilen wäre. Ohne Übergangsvorschrift aber löst das neue Recht das alte mit dem Tag seines Inkrafttretens ab, auch wenn der zugrunde liegende Sachverhalt wie hier schon vorher begonnen haben sollte.
Materielle Änderungen haben sich aus der Gesetzesänderung zum 01.01.2011 indes nicht ergeben. Zwar wurde in Satz 2 „im Inland zu versteuernden“ eingefügt. Jedoch ist es gesicherte BSG-Rechtsprechung, dass auch schon vor dem 01.01.2011 nur im Inland zu versteuerndes Einkommen Bemessungsentgelt sein konnte. Die Neuregelung hat demnach im Sinn einer bloßen Klarstellung nur explizit formuliert, was vorher schon Regelungsgehalt war. Daher wird im Folgenden nicht mehr nach den beiden Zeiträumen differenziert.
Das für die Arbeit beim mexikanischen Generalkonsulat im Bemessungszeitraum bezogene Entgelt zählt zum Einkommen aus Erwerbstätigkeit im Sinn von § 2 Abs. 1 Satz 1 BEEG; denn es verkörpert Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 BEEG). Die Einkünfte waren auch damals schon im Inland zu versteuern. Das hat der Beklagte verkannt und als Konsequenz daraus lediglich das Mindestelterngeld in Höhe von 300 EUR (vor Anrechnung der Mutterschaftsleistungen in den ersten drei Bezugsmonaten) zugesprochen.
Der Bemessungszeitraum erstreckte sich, wie der Beklagte richtig ermittelt hat, von November 2009 bis Oktober 2010. Da die Klägerin für den Monat November 2010 Mutterschaftsgeld bezogen hat, gehört dieser nicht zum Bemessungszeitraum (vgl. § 2 Abs. 8 Satz 6 BEEG in der seinerzeit geltenden Fassung).
Dass das während des Bemessungszeitraums beim mexikanischen Konsulat von der Klägerin erzielte Arbeitsentgelt zu versteuern war, ergibt sich aus dem damals einschlägigen Einkommensteuerrecht. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 EStG in der seinerzeit geltenden und auch heute noch aktuellen Fassung unterliegen der Einkommensteuer unter anderem Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (Nummer 4), die der Steuerpflichtige während seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht oder als inländische Einkünfte während seiner beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielt. Da die Klägerin ihren Wohnsitz in Deutschland hatte, war sie während des Bemessungszeitraums unbeschränkt einkommensteuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 Satz 1 EStG).
Für das Arbeitsentgelt bestand auch keine sachliche Steuerfreiheit. Einschlägig ist insoweit § 3 Nr. 29 Buchstabe b EStG:
Steuerfrei sind … das Gehalt und die Bezüge,
a) …
b) der Berufskonsuln, der Konsulatsangehörigen und ihres Personals, soweit sie Angehörige des Entsendestaates sind.2Dies gilt nicht für Personen, die im Inland ständig ansässig sind oder außerhalb ihres Amtes oder Dienstes einen Beruf, ein Gewerbe oder eine andere gewinnbringende Tätigkeit ausüben;
Dieser Tatbestand trifft auf die Klägerin nicht zu. Denn diese war während des Bemessungszeitraums „ständig in Deutschland ansässig“. Daran können keinerlei Zweifel bestehen. Die Klägerin war von 2000 an mit einem Deutschen verheiratet. Bereits im Juli 2001 kam sie zum Zweck der Familienzusammenführung nach Deutschland und hatte seither hier ihren Wohnsitz. Sie lebte mit dem Ehemann, ab 2007 auch mit dem gemeinsamen Kind, in einem Haushalt. Auch beruflich war die Klägerin in Deutschland etabliert; die Berufstätigkeit als Angestellte des mexikanischen Generalkonsulats nahm sie im September 2002 auf.
Festzuhalten bleibt, dass das deutsche Einkommensteuerrecht keine Ausnahme von dem Grundsatz der Versteuerung im Inland vorsah. Dieses Ergebnis wird durch die einschlägigen Regelungen des Völkerrechts, nämlich das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen sowie das Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Mexiko bestätigt. Bei beiden Regelwerken handelt es sich um völkerrechtliche Verträge, die in Deutschland aufgrund ihrer Transformation mit dem Rang eines einfachen Gesetzes gelten.
Das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen verkörpert im Verhältnis zum Doppelbesteuerungsabkommen die speziellere Rechtsgrundlage. Auf den ersten Blick scheint Art. 49 Nr. 1 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen die Klägerin, die als Konsularangestellte im Sinn dieser Bestimmung einzustufen ist, von der deutschen Einkommensteuer zu befreien. Allerdings gilt für die Klägerin die Sondervorschrift des Art. 71 Nr. 2 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen, die unter anderem Personen erfasst, die ständig im Empfangsstaat ansässig sind. Sie lautet:
Anderen Mitgliedern des konsularischen Postens, die Angehörige des Empfangsstaats oder dort ständig ansässig sind, und ihren Familienangehörigen sowie den Familienangehörigen der in Ziffer 1 bezeichneten Konsularbeamten stehen Erleichterungen, Vorrechte und Immunitäten nur in dem vom Empfangsstaat zugestandenen Umfang zu. Denjenigen Familienangehörigen von Mitgliedern des konsularischen Postens und denjenigen Mitgliedern des Privatpersonals, die Angehörige des Empfangsstaats oder dort ständig ansässig sind, stehen ebenfalls Erleichterungen, Vorrechte und Immunitäten nur in dem vom Empfangsstaat zugestandenen Umfang zu. Der Empfangsstaat darf jedoch seine Hoheitsgewalt über diese Personen nur so ausüben, dass er die Wahrnehmung der Aufgaben des konsularischen Postens nicht ungebührlich behindert.
Die Klägerin zählt als Konsularangestellte zu den „anderen Mitgliedern des konsularischen Postens“ und war bzw. ist im Sinn der Vorschrift ständig im Empfangsstaat, also Deutschland, ansässig. Dieser engere Bezug zum Empfangsstaat führt nach Art. 71 Nr. 2 Satz 1 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen dazu, dass Erleichterungen, Vorrechte und Immunitäten nur in dem vom Empfangsstaat zugestandenen Umfang zustehen. Dieser Personenkreis unterliegt somit voll der Souveränität des Empfangsstaats. Der Empfangsstaat seinerseits ist nach Art. 71 Nr. 2 Satz 3 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen lediglich gehalten, seine Hoheitsgewalt nur so ausüben, dass er die Wahrnehmung der Aufgaben des konsularischen Postens nicht ungebührlich behindert.
Das bedeutet für die Klägerin, dass sie nur in dem Umfang in den Genuss von Erleichterungen kam bzw. kommt, den die Bundesrepublik Deutschland einräumt; so erklärt sich auch, dass sie sozialversicherungspflichtig ist. Einkommensteuerfreiheit gewährt die Bundesrepublik Deutschland gerade nicht, wie oben gezeigt worden ist.
Auch das Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland-Mexiko führt zu keinem anderen Ergebnis, wobei der Senat offen lässt, ob dieses als generelles Normenwerk neben dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen überhaupt Anwendung finden kann. Der einschlägige Art. 19 Abs. 1 des Doppelbesteuerungsabkommens lautet:
a) Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, ausgenommen Ruhegehälter, die von einem Vertragsstaat, einer seiner Gebietskörperschaften oder einer anderen juristischen Person des öffentlichen Rechts dieses Staates an eine natürliche Person für die diesem Staat, einer seiner Gebietskörperschaften oder einer an deren juristischen Person des öffentlichen Rechts geleisteten Dienste gezahlt werden, können nur in diesem Staat besteuert werden.
b) Diese Gehälter, Löhne und ähnlichen Vergütungen können jedoch nur im anderen Vertragsstaat besteuert werden, wenn die Dienste in diesem Staat geleistet werden und die natürliche Person in diesem Staat ansässig ist und aa) ein Staatsangehöriger dieses Staates ist oder bb) nicht ausschließlich deshalb in diesem Staat ansässig geworden ist, um die Dienste zu leisten.
Art. 19 des Doppelbesteuerungsabkommens trifft besondere Regelungen für Bezüge aus einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst. Die Klägerin als Konsularangestellte fiel bzw. fällt unter die Kategorie „öffentlicher Dienst“. Nach Art. 19 Abs. 1 Buchstabe b des Doppelbesteuerungsabkommens kann das Arbeitsentgelt der Klägerin nur in Deutschland als „anderem Vertragsstaat“ besteuert werden. Denn sie ist in Deutschland ansässig und im Sinn von Doppelbuchstabe bb nicht ausschließlich deshalb in Deutschland ansässig geworden, um die Dienste zu leisten. Primärer Beweggrund für ihre Migration nach Deutschland war vielmehr die Familienzusammenführung.
Die Gegenargumente des Beklagten – ebenso seine Prozesstaktik in diesem Fall überhaupt – vermag der Senat nur schwer nachzuvollziehen. Abwegig erscheint bereits die Auffassung, Beklagter und Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit müssten nicht selbst die einkommensteuerrechtliche Rechtslage ergründen, sondern dürften ohne zu hinterfragen und ohne Rücksicht auf die materielle Richtigkeit – quasi als Präjudiz – die rechtliche Beurteilung der Steuerverwaltung übernehmen. Das Für und Wider braucht an dieser Stelle nicht diskutiert zu werden. Denn das BSG hat im Urteil vom 20.05.2014 – B 10 EG 9/13 R in einem absolut vergleichbaren Fall (Mitarbeiterin des Europäischen Patentamts in München) gerade die vom Beklagten für unangebracht erachtete materiell-rechtliche Prüfung durchgeführt; nicht im Ansatz hat es auf die Rechtsansicht des zuständigen Finanzamts abgestellt. So gesehen stellt sich der Beklagte gegen eine klare höchstrichterliche Rechtsprechung.
Der Senat sieht keinen Anlass, an der Richtigkeit der BSG-Rechtsprechung zu zweifeln. Denn die Formulierung im ab 01.01.2011 geltenden § 2 Abs. 1 Satz 2 BEEG ist eindeutig. Es kommt darauf an, ob Einkünfte im Inland zu versteuern sind, also versteuert werden müssen. Maßgeblich soll mithin die nach materiellem Einkommensteuerrecht zutreffende Beurteilung sein. Für § 2 Abs. 1 Satz 2 BEEG in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung gilt nichts anderes. Die Vertreter des Beklagten haben dagegen in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, in der Bundesdrucksache 17/3030, Seite 48, stehe, dass es auf das im Inland versteuerte Einkommen ankomme. Hierzu ist zu sagen, dass der vom Beklagten instrumentalisierte und aus dem Kontext gerissene Satz, der der Begründung zum Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes 2011 entstammt, weder funktional noch semantisch irgendeinen normativen Gehalt in dem Sinn aufweist, allein entscheidend sei der faktische Vollzug durch die Steuerbehörden. Vielmehr spricht die Begründung selbst im Folgenden von „zu versteuernd“. Unabhängig davon erschließt sich dem Senat nicht, auf welchem Weg der Beklagte zu der Auffassung gelangen will, die eindeutige Fassung des Gesetzes könne durch ein einmaliges Verwenden des Partizips Perfekt Passiv in der Begründung einen völlig anderen Sinngehalt erfahren; dies erscheint juristisch-methodisch unhaltbar.
Dem Beklagten ist zu konzedieren, dass er sich im täglichen Verwaltungsvollzug in aller Regel der Handhabung der Steuerbehörden anschließen kann. Es wäre unökonomisch, würde der Beklagte quasi routinemäßig en detail einkommensteuerrechtliche Fragen beleuchten. Zu Recht hat er sich daher mit einer Einkommensteuererklärung der Klägerin begnügt, in der die Einkünfte als nicht zu versteuernd ausgewiesen wurden; außerdem lag ein entsprechender, in diese Richtung weisender Einkommensteuerbescheid 2009 vor. Mehr musste der Beklagte damals nicht nachforschen.
Dieser faktische, verwaltungsökonomische Aspekt darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass letztlich auch das Einkommensteuerrecht zum Prüfprogramm des Beklagten gehört. Dieser hat die Prüfung insoweit eigenverantwortlich und grundsätzlich selbständig vorzunehmen. Selbstredend ist es zulässig und opportun, sich bei der Rechtsfindung von den kompetenten Steuerbehörden „helfen zu lassen“. Eine wie auch immer geartete rechtliche Bindung an deren Beurteilung gibt es hingegen nicht. Tritt daher wie hier die Notwendigkeit zu Tage, eingehend zu prüfen, ob Einkünfte im Inland zu versteuern sind, muss dies auch getan werden.
Hätte der Beklagte seine Linie, aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität sich ohne Einschränkung an die Beurteilung durch die Steuerbehörden halten zu wollen, wirklich konsequent verfolgt, hätte er gleichwohl ein Anerkenntnis abgeben müssen. Denn auch das Finanzamt O-Stadt ist zu der geläuterten Auffassung gelangt, das Arbeitsentgelt der Klägerin sei in Deutschland zu versteuern. Doch Gründe der Verwaltungspraktikabilität waren für den Beklagten augenscheinlich nicht leitendes Motiv. Er nämlich hat mit dem Argument reagiert, die Klägerin habe während des Bemessungszeitraums ja tatsächlich keine deutsche Einkommensteuer bezahlt und sei vermutlich von einer Nacherhebung durch steuerrechtliche Vorschriften geschützt. Daran fällt auf, dass der Beklagte auf der einen Seite die Prüfung, ob Einkünfte in Deutschland zu versteuern sind, für unzumutbar hält, auf der anderen Seite aber sogar noch schwierigere Rechtsfragen der steuerrechtlichen Bestandskraft und Verjährung offensichtlich nicht scheut. In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte – sogar in der Sitzungsniederschrift festgehalten – genau darauf abgestellt.
Unabhängig von dieser prozesstaktischen Inkonsequenz hält es der Senat rechtlich für nicht vertretbar, wie der Beklagte zu argumentieren. Dem gesamten Sozialleistungsrecht ist das Prinzip „Nur der, der seine Steuern zahlt, bekommt etwas“ komplett fremd. Es ist grob falsch, Entsprechendes aus dem Gesetz herauslesen zu wollen. Auch die Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung haben in keiner Weise plausibel machen können, aus welchem sachlichen Grund der Beklagte auf dieses Kriterium zugreifen will. Nicht einmal bei Sozialversicherungsleistungen – also beitragsfinanzierten Leistungen – existiert das Prinzip „do ut des“. Umso mehr ist unverständlich, dass es der Beklagte bei steuerfinanzierten Sozialleistungen fruchtbar machen will.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Der Senat verhehlt nicht, dass er nur deswegen davon abgesehen hat, gegen den Beklagten Verschuldenskosten nach § 197 Abs. 1 Satz 1 SGG zu erheben, weil in der mündlichen Verhandlung Sitzungsvertreter zugegen waren, die kurzfristig einspringen mussten und in der zweiten Instanz sonst nicht auftreten. Deswegen wäre die Ausübung von Druck, der mit der Androhung von Verschuldenskosten naturgemäß verbunden ist, unangemessen gewesen.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der gesonderte Antrag des Beklagten, die Revision zuzulassen, entbehrt jeder Grundlage.


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