Arbeitsrecht

Erfüllungsübernahme bei einem Versäumnisurteil

Aktenzeichen  3 B 20.1556

Datum:
16.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 43400
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBG Art. 97
ZPO Art. 331 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Ansprüche aus einem Versäumnisurteil fallen grundsätzlich unter den Geltungsbereich des Art. 97 BayBG, selbst falls das ausgeurteilte Schmerzensgeld der Höhe nach nicht angemessen sein sollte. (Rn. 26 – 29) (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
2. Art. 97 BayBG beschränkt die Erfüllungsübernahme nicht auf dienstunfallrechtlich anerkannte Verletzungsfolgen. (Rn. 31 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
3. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 97 Abs. 2 Satz 1 BayBG vor, ist dem Dienstherrn bei einem Versäumnisurteil mithin (lediglich) bei der Frage bis zu welcher Höhe er den festgestellten Schmerzensgeldanspruch übernimmt, Ermessen eingeräumt, das verwaltungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüft werden kann. (Rn. 41 und 45) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 1 K 19.792 2020-01-28 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
II. Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Berufungs- und Anschlussberufungsverfahrens trägt der Beklagte 4/5 und der Kläger 1/5.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung des Beklagten (1.) und die Anschlussberufung des Klägers (2.) sind unbegründet.
1. Die Berufung des Beklagten ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass der Beklagte erneut unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts über den Erfüllungsübernahmeantrag des Klägers vom 28. Dezember 2018 zu entscheiden hat.
Nach Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG kann der Dienstherr, wenn der Beamte oder die Beamtin wegen eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs, den er oder sie in Ausübung des Dienstes oder außerhalb des Dienstes wegen der Eigenschaft als Beamter oder Beamtin erleidet (1.1), einen rechtskräftig festgestellten Anspruch auf Schmerzensgeld gegen einen Dritten hat (1.2), auf Antrag (1.3) die Erfüllung dieses Anspruchs bis zur Höhe des festgestellten Schmerzensgeldbetrags übernehmen, soweit dies zur Vermeidung einer unbilligen Härte notwendig ist (1.4). Der Tatbestand dieser Norm ist vorliegend erfüllt.
1.1 Der Kläger hat unstreitig am 25. März 2016 – und damit innerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des Art. 97 BayBG (ab 1.1.2015; BayVGH, B.v. 17.4.2018 – 3 ZB 17.18 – juris Rn. 2) – in Ausübung seines Dienstes einen tätlichen rechtswidrigen Angriff erlitten.
1.2 Aufgrund des rechtskräftigen Versäumnisurteils des zuständigen Amtsgerichts vom 4. Juni 2018 verfügt der Kläger über einen rechtskräftig festgestellten Anspruch auf Schmerzensgeld gegen einen Dritten, den Schädiger. Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG enthält keine ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale; weder eine Angemessenheitsprüfung noch eine Plausibilitätskontrolle hinsichtlich des rechtskräftig festgestellten Schmerzensgeldanspruchs (1.2.1). Im Rahmen des Art. 97 BayBG besteht zudem keine Bindungswirkung der im Dienstunfallverfahren nach Art. 46, 47 BayBeamtVG getroffenen Feststellungen (1.2.2), etwa dahingehend, dass die Erfüllung des Schmerzensgeldanspruchs nur soweit übernommen werden dürfte wie er sich auf der Grundlage der im Dienstunfallverfahren festgestellten Dienstunfallfolgen ergäbe.
1.2.1 Bei dem durch das Versäumnisurteil des zuständigen Landgerichts zugesprochenen Schmerzensgeldanspruch des Klägers handelt es sich um einen rechtskräftig festgestellten Anspruch im Sinne des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG (BayVGH, U.v. 16.12.2020 – 3 B 20.1553 – beck-online Rn. 16; Buchard in BeckOK Beamtenrecht Bayern, Stand: Dez. 2019, Art. 97 BayBG Rn. 21/21.5 hält es hingegen für vertretbar in diesem Fall entweder die Angemessenheit als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu prüfen oder aber die Plausibilitätskontrolle auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen des Ermessens durchzuführen).
Nach Wortlaut, Sinn und Systematik des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG stellt ein Versäumnisurteil nach § 331 Abs. 1 ZPO einen Anspruch auf Schmerzensgeld rechtskräftig fest. Der bayerische Gesetzgeber hat mit der Formulierung „rechtskräftig festgestellter Anspruch auf Schmerzensgeld“ zum Ausdruck gebracht, dass es maßgeblich auf die materielle Rechtskraftfähigkeit der Entscheidung ankommt. Mit der Formulierung nimmt das Bayerische Beamtengesetz auf zivilrechtliche und prozessuale Begrifflichkeiten Bezug (z.B. § 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB „rechtskräftig festgestellte Ansprüche“). Damit steht außer Frage, dass Ansprüche aus einem Versäumnisurteil unter den Geltungsbereich dieses Tatbestandsmerkmals fallen. Auf die prozessuale Natur der formell rechtskräftigen Feststellung kommt es hingegen nicht an (BayVGH, U.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 20)
Eine „Auslegung“ der Vorschrift des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG über die Grenze ihres Wortlauts kommt nicht in Betracht. Aus der Gesetzesbegründung lässt sich zudem ein anderer Wille des Gesetzgebers nicht entnehmen. Hier wird keinerlei Differenzierung hinsichtlich der Art der rechtskräftigen Feststellung vorgenommen oder angedeutet. Auch dass eine eingehende gerichtliche Überprüfung des Anspruchs auf Schmerzensgeld erfolgt sein muss, ergibt sich nicht aus den Gesetzesmaterialien (vgl. Erläuterungen zum Haushaltsgesetz 2015/2016 und den Durchführungsbestimmungen hierzu; LT-Drs. 17/2871, S. 48). Zentrale Intention des Gesetzgebers ist es vielmehr, den Beamten nach tätlichen Angriffen durch Dritte aus Fürsorgegründen wegen des Vorliegens einer unbilligen Härte die Möglichkeit einzuräumen, bei uneinbringlichen, rechtskräftig festgestellten Schmerzensgeldansprüchen eine entsprechende Übernahme der Erfüllung bei ihrem Dienstherrn zu beantragen. Insoweit spricht die Gesetzesbegründung von “dem titulierten Schmerzensgeldanspruch“, „Schmerzensgeldtitel“ oder „Titel“ (zu Art. 97 Abs. 2 BayBG). Darunter fällt ein entsprechendes rechtskräftiges Versäumnisurteil; eine vollständige richterliche Überprüfung des Schmerzensgeldanspruchs durch streitiges Endurteil wird nicht vorausgesetzt. Denn auch Art. 97 Abs. 3 Satz 1 BayBG knüpft den Beginn der zweijährigen Ausschlussfrist (lediglich) an die Rechtskraft des „Urteils“ (BayVGH, U.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 21).
Dieser Auslegung des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG steht der Normzweck nicht entgegen. Die Vorschrift soll in erster Linie unbillige Härten verhindern, die dadurch entstehen können, dass die Vollstreckung der rechtskräftig festgestellten Schmerzensgeldansprüche der Beamten, die Opfer eines tätlichen Angriffs durch Dritte werden und dadurch ein erhebliches Sonderopfer für die Allgemeinheit erbringen, erfolglos geblieben ist. Im Rahmen der Fürsorgepflicht sollte daher die infolge der Uneinbringlichkeit der Schmerzensgeldforderung verursachte unbillige Härte ausgeglichen werden (BayVGH, U.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 22).
Der Beamte hat seinen Schmerzensgeldanspruch vorrangig gegenüber dem Schädiger geltend zu machen (vgl. LT-Drs. 17/2871 S. 48 f.). Aber auch der dadurch zum Ausdruck kommende „subsidiäre“ Charakter der Erfüllungsübernahme (vgl. VG Augsburg, U.v. 5.12.2019 – Au 2 K 18.1445 – juris Rn. 36) rechtfertigt keine über den Wortlaut des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG hinausgehende Auslegung. Denn der Sonderstellung als Ausnahmevorschrift wird im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „unbillige Härte“, insbesondere unter dem Kriterium einer erfolglosen Vollstreckung, ausreichend Rechnung getragen. Zudem gilt es zu bedenken, dass der Beamte angesichts eines Versäumnisurteils schlechter gestellt wäre als bei dem Erlass eines streitigen Endurteils, obwohl ein Versäumnisurteil prozessökonomisch sinnvoll und von der Rechtsordnung ausdrücklich vorgesehen ist. Denn das prozessuale Verhalten des Schädigers liegt nicht im Einflussbereich des Beamten. Die Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 97 BayBG vom Prozessverhalten des Beklagten des Schmerzensgeldprozesses abhängig zu machen, wäre willkürlich und unbillig (BayVGH, U.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 23).
Eine sog. Angemessenheitsprüfung nach Art. 97 Abs. 1 Satz 2 BayBG ist nach dem eindeutigen Wortlaut nur bei einem Vergleich nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO durchzuführen. Eine analoge Anwendung des Art. 97 Abs. 1 Satz 2 BayBG auf Versäumnisurteile scheidet aus. Eine Analogie setzt eine planwidrige Regelungslücke voraus. Der Anwendungsbereich der Norm muss wegen eines versehentlichen, mit dem Normzweck unvereinbaren Regelungsversäumnisses des Normgebers unvollständig sein. Eine derartige Lücke darf von den Gerichten im Wege der Analogie geschlossen werden, wenn sich aufgrund der gesamten Umstände feststellen lässt, dass der Normgeber die von ihm angeordnete Rechtsfolge auch auf den nicht erfassten Sachverhalt erstreckt hätte, wenn er diesen bedacht hätte (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 26.1.2016 – 2 B 17.15 – juris Rn. 8; U.v. 28.6.2012 – 2 C 13.11 – juris Rn. 24; U.v. 27.3.2014 – 2 C 2.13 – juris Rn. 17). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es der Gesetzgeber versehentlich unterlassen hat, die Regelung des Art. 97 Abs. 1 Satz 2 BayBG über die Angemessenheitsprüfung eines in einem Vergleich nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO festgestellten Schmerzensgeldanspruchs auch auf andere rechtskräftig festgestellte Schmerzensgeldansprüche nach Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG – wie hier einem durch Versäumnisurteil festgestellten Anspruch – zu erstrecken. Die Annahme eines derartigen Versäumnisses liegt bereits aufgrund der Gesetzesbegründung fern, die den Grund des Satzes 2 in der fehlenden Rechtskraftfähigkeit eines Vergleiches sieht und im Hinblick auf Satz 1 allgemein auf „Schmerzensgeldtitel“ Bezug nimmt. Die Regelungssystematik zeigt, dass dem Gesetzgeber durchaus bewusst war, dass titulierte Ansprüche auch ohne vollumfassende richterliche Überprüfung (z.B. durch Vergleich) entstehen können; anzunehmen, er habe dabei Versäumnisurteile, Anerkenntnisurteile oder Vollstreckungsbescheide schlichtweg übersehen, entbehrt jeglicher Grundlage und wird auch der bewusst weitgefassten Formulierung „rechtskräftig festgestellten Anspruch“ nicht gerecht. Zudem fehlt es an einer vergleichbaren Interessenslage: Bei Versäumnisurteilen hat das Zivilgericht gemäß § 331 Abs. 2 Halbsatz 1 ZPO eine Schlüssigkeitsprüfung durchzuführen. Zwar werden dabei die Tatsachenbehauptungen des Klägers als wahr unterstellt, jedoch hat auf der Rechtsfolgenseite das Gericht eine eigene Prüfung vorzunehmen, welcher Schmerzensgeldbetrag für die Schädigung angemessen ist. Dies steht im Ermessen des Gerichts (§ 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO „unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung“). Somit ist eine gewisse Inhaltskontrolle vorhanden, sodass der Dienstherr vor einer Inanspruchnahme in ungerechtfertigter Höhe geschützt wird. Bei Vergleichen findet hingegen nicht immer eine richterliche Kontrolle dahingehend statt, ob die festgesetzte Schmerzensgeldhöhe aufgrund der Schädigung gerechtfertigt ist (z.B. gerichtlich nur dokumentierte Parteivergleiche oder Vergleiche zum reinen Interessenausgleich in frühem Verfahrensstadium ohne Beweiserhebung). Nur insoweit muss es dem Beklagten möglich sein, die Angemessenheit des Schmerzensgeldes, das im Wege eines Vergleiches vereinbart worden ist, zu überprüfen (BayVGH, U.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 24).
1.2.2 Entgegen der Auffassung des Beklagten beschränkt Art. 97 BayBG die Erfüllungsübernahme nicht auf dienstunfallrechtlich anerkannte Verletzungsfolgen. Dies lässt sich weder der Gesetzesbegründung entnehmen noch spricht die systematische Stellung der Vorschrift hierfür. Denn andernfalls hätte es nahegelegen, die Vorschriften über die Erfüllungsübernahme in das Bayerische Beamtenversorgungsgesetz zu integrieren, um einen entsprechenden Gleichlauf sicherzustellen. Da dies nicht geschehen ist, sprechen bereits gesetzessystematische Gründe hiergegen (BayVGH, U.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 25).
Ferner würde ein derartiges Verständnis der Norm erhebliche praktische Probleme aufwerfen. Der Kläger müsste bei der Geltendmachung von zivilrechtlichen Schmerzensgeldansprüchen die Klage nach dienstunfallbedingten Schäden sowie etwaigen nicht dienstunfallbedingten Schäden trennen. Dem stünde jedoch der im Zivilrecht geltende Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes entgegen. Dieser gebietet es, die Höhe des dem Geschädigten zustehenden Anspruchs aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen (BGH, U.v. 20.1.2015 – VI ZR 27/14 – juris Rn. 8). Folglich ist eine Trennung nicht möglich (BayVGH, B.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 26).
Zu berücksichtigen ist auch, dass in der zivilrechtlichen Rechtsprechung anerkannt ist, dass auch Vorschäden bzw. eine Schadensgeneigtheit einem zivilrechtlichen Schmerzensgeldanspruch grundsätzlich nicht entgegenstehen. Ein Schädiger kann sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht darauf berufen, dass der Schaden nur deshalb eingetreten sei oder ein besonderes Ausmaß erlangt habe, weil der Verletzte infolge bereits vorhandener Beeinträchtigungen und Vorschäden besonders anfällig für die erneute Beeinträchtigung gewesen sei. Wer einen gesundheitlich schon geschwächten Menschen verletzt, kann nicht verlangen so gestellt zu werden, als wenn der Betroffene gesund gewesen wäre. Dementsprechend ist die volle Haftung auch dann zu bejahen, wenn der Schaden auf einem Zusammenwirken körperlicher Vorschäden und den Unfallverletzungen beruht, ohne dass die Vorschäden „richtunggebend“ verstärkt werden (BGH, U.v. 19.4.2005 – VI ZR 175/04 – juris Rn. 11). Demgegenüber kann eine Vorschädigung im Dienstunfallrecht bereits zu einer Unterbrechung des Kausalzusammenhanges führen (vgl. Nr. 46.1.3 Satz 3 BayVV-Versorgung; vgl. zur Problematik auch Buchard a.a.O. Rn. 30.5 f.). Zu divergierenden Ergebnissen könnte auch die in der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge geltende Lehre von der wesentlich mitwirkenden Teilursache führen, die weitergehende Anforderungen an den ursächlichen Zusammenhang als die Äquivalenztheorie stellt. Die Folge wäre, dass der Schmerzensgeldanspruch – unter Ausblendung seiner besonderen Stellung – den Leistungen der Dienstunfallfürsorge nahezu angepasst würde, was dem gesetzgeberischen Willen nicht entspricht (BayVGH. U.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 27).
Nach der Rechtsansicht des Beklagten scheiterte eine Erfüllungsübernahme von Schmerzensgeldansprüchen häufig an etwaigen Vorschäden, fehlender Kausalität oder auch gegebenenfalls noch nicht beantragten oder (z.B. wegen komplexer medizinischer Fragestellungen, die in einem gelegentlich langandauernden Verfahren geklärt werden müssen) noch nicht anerkannten Dienstunfallfolgen. Dies wiederum wäre nicht mit der gesetzgeberischen Intention vereinbar, wonach das erhebliche Sonderopfer, das Beamte als Geschädigte schwerwiegender Angriffe für die Allgemeinheit erbringen, anerkannt und auch tatsächlich ausgeglichen werden soll (vgl. LT-Drs. 17/2871 S. 48). Dass der Schmerzensgeldanspruch unabhängig von den Unfallfürsorgeleistungen übernommen werden sollte, wird ferner daraus deutlich, dass der bayerische Gesetzgeber davon ausgeht, dass die in Art. 45 ff. BayBeamtVG normierte Unfallfürsorge den bayerischen Beamten einen umfassenden Ausgleich der durch einen Dienstunfall eingetretenen materiellen und immateriellen Schäden bietet, und er „trotz alledem“ (LT-Drs. 17/2871 S. 48) erkannt hat, dass es nach tätlichen Angriffen durch Dritte zu besonderen Härten kommen kann, die mit den vorhandenen Leistungstatbeständen nicht angemessen abgedeckt werden (vgl. BayVGH, U.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 28).
Der Beklagte vermag auch mit seinem Hinweis auf die sog. Tatbestandswirkung der Feststellung einer Dienstunfallfolge mit (hier) Bescheid vom 11. Mai 2016 nicht zu überzeugen. Zwar bindet die bestandskräftige Feststellung eines Dienstunfalls Behörden und Gerichte (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2004 – 2 C 66.03 – juris Rn. 20; BGH, U.v. 14.1.1993 – III ZR 33/88 – juris Rn. 14 f.; U.v. 27.11.2003 – III ZR 54/03 – juris Rn. 4 im Hinblick auf § 46 Abs. 2 BeamtVG). Ein Bescheid über die Anerkennung eines Dienstunfalls einschließlich bestimmter Unfallfolgen hat jedoch weder Bindungswirkung hinsichtlich eines geltend gemachten zivilrechtlichen Schmerzensgeldanspruchs gegenüber dem Schädiger noch hinsichtlich des Anspruchs des Beamten gegenüber seinem Dienstherrn auf Erfüllungsübernahme nach Art. 97 BayBG. Denn die Bindungswirkung hat regelmäßig nur zum Inhalt, dass der Verwaltungsakt und die durch ihn für einen bestimmten Rechtsbereich getroffene Regelung als gegeben hingenommen werden muss. Eine darüberhinausgehende Feststellungs- oder Bindungswirkung bedarf einer gesetzlichen Grundlage (BVerwG, B.v. 28.1.2008 – 8 B 86.07 – juris Rn. 3; U.v. 10.10.2006 – 8 C 23.05 – juris Rn. 22; U.v. 22.4.1994 – 8 C 29.92 – juris Rn. 34; U.v. 28.11.1986 – 8 C 122.84 u.a. – juris Rn. 30). D.h. die Anerkennung einer Dienstunfallfolge ist im weiteren Vollzug der Unfallfürsorge nach Art. 45 ff. BayBeamtVG bindend. Für den Anwendungsbereich des Art. 97 BayBG hätte hingegen die Bindungswirkung der Feststellung der Dienstunfallfolge einer gesetzlichen Grundlage bedurft, die der bayerische Gesetzgeber indes nicht geschaffen hat (BayVGH, U.v. 16.11.2020 a.a.O. Rn. 29).
1.3 Der Kläger beantragte die Übernahme der Erfüllung am 28. Dezember 2018 schriftlich innerhalb der Ausschlussfrist von zwei Jahren nach Rechtskraft (15.5.2017) des Versäumnisurteils (Art. 97 Abs. 3 Satz 1 BayBG). Dabei legte er ausreichende Nachweise vor, dass die Vollstreckungsbemühungen sachgerecht durchgeführt wurden, aber erfolglos geblieben sind, indem er ein Vermögensverzeichnis des Schädigers (§ 802c ZPO, § 140 Abs. 3 GVGA) vorlegt hat (Behördenakte S. 10), wonach dieser weder über Einkommen noch Vermögen verfügt. Der Nachweis mindestens zweier Vollstreckungsversuche, worauf der Plural hindeuten könnte, ist nicht notwendig. Die im Vermögensverzeichnis dokumentierte Vermögenslosigkeit des Schädigers, der auch über kein Einkommen verfügt, machte einen weiteren Vollstreckungsversuch entbehrlich (BayVGH, U.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 31).
1.4 Die Übernahme der Erfüllung des Schmerzensgeldanspruchs ist ferner zur Vermeidung einer unbilligen Härte notwendig (Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG). Eine unbillige Härte liegt nach Art. 97 Abs. 2 Satz 1 BayBG insbesondere vor, wenn die Vollstreckung über einen Betrag von mindestens 500 Euro erfolglos geblieben ist.
Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen einer unbilligen Härte sind als Ausnahmeregelung grundsätzlich hohe Anforderungen zu stellen. Die Uneinbringbarkeit des Schmerzensgeldanspruchs ist unter Berücksichtigung der zugrundeliegenden Gesetzesmaterialien für das Vorliegen einer unbilligen Härte zwingend erforderlich. Der bayerische Gesetzgeber machte in seiner Gesetzesbegründung deutlich, dass die Geltendmachung des Schmerzensgeldanspruchs auf Grund seiner höchstpersönlichen Natur und Genugtuungsfunktion, grundsätzlich dem Beamten vorbehalten bleiben muss. „Nur soweit die Uneinbringbarkeit des Anspruchs wegen Vermögenslosigkeit des Schädigers zu einer unbilligen Härte führt, eröffnet Art. 97 BayBG aus Fürsorgegründen die Möglichkeit, bei uneinbringlichen, rechtskräftig festgestellten Schmerzensgeldansprüchen eine entsprechende Übernahme der Erfüllung bei ihrem Dienstherrn zu beantragen“ (LT-Drs. 17/2871 S. 48).
In dem vorliegenden Fall liegt eine unbillige Härte im Sinne des Art. 97 Abs. 2 Satz 1 BayBG vor, da der Schmerzensgeldbetrag über der Mindestschadensgrenze von 500 Euro liegt und die Vollstreckung erfolglos blieb.
1.5 Auf der Rechtsfolgenseite räumt Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG dem Dienstherrn nach seinem Wortlaut einen Ermessenspielraum ein, ob (sog. Entschließungsermessen) und „bis zu welcher Höhe“ (Auswahlermessen) er einen rechtskräftig festgestellten Anspruch auf Schmerzensgeld gegen einen Dritten übernimmt. Durch den Halbsatz „soweit dies zur Vermeidung einer unbilligen Härte notwendig ist“ wird die Ausübung des Entschließungsermessens dahingehend vorgegeben, dass der Dienstherr bei Vorliegen einer unbilligen Härte zur Erfüllungsübernahme verpflichtet ist.
In Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG wird der unbestimmte, einer unmittelbaren Subsumtion nicht zugängliche Rechtsbegriff „unbillige Härte“ auf der Tatbestandseite mit einem „kann“ der Behörde auf der Rechtsfolgenseite verbunden. Es handelt sich um eine sogenannte Kopplungsvorschrift (dazu allgemein: BVerwG, U.v. 26.11.2015 – 5 C 14.14 – juris Rn. 16; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 40 Rn. 36 m.w.N.). An die (hier gerichtlich voll überprüfbare) Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs kann sich einerseits eine eigenständige Ermessensausübung (Folgeermessen) anschließen. Andererseits kann zwischen beiden eine unlösbare Verbindung bestehen, sodass der unbestimmte Rechtsbegriff in den Ermessensbereich hineinragt und zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung bestimmt. Welche Konstellation zutrifft, lässt sich nur nach Sinn und Zweck der jeweiligen Vorschrift entscheiden. Maßstab ist dabei insbesondere, ob bei der Annahme eines unbestimmten Rechtsbegriffs auf der Tatbestandseite noch Raum für ein Verwaltungsermessen verbleibt (BSG, U.v. 20.3.2018 – B 1 A 1/17 R – juris Rn. 20 m.w.N.). Bei der Frage, ob der Schmerzensgeldbetrag vom Dienstherrn übernommen wird (Entschließungsermessen), hat das Wort „kann“ in Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG eine untergeordnete Bedeutung. Denn bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs („unbillige Härte“) ist bereits ein großer Teil der Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die auch Bedeutung für die Ermessensausübung haben. Damit ergeben sich bei der Normanwendung überwiegend Überschneidungen zwischen der Tatbestands- und der Rechtsfolgenseite. Die Feststellung, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm gegeben oder nicht gegeben sind, bedeutet in diesen Fällen zugleich, dass der Behörde für die Ausübung ihres Entschließungsermessens („ob“) kein Spielraum verbleibt. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 97 Abs. 2 Satz 1 BayBG vor, ist dem Dienstherrn mithin (lediglich) bei der Frage bis zu welcher Höhe er den festgestellten Schmerzensgeldanspruch übernimmt, Ermessen eingeräumt, das verwaltungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüft werden kann (vgl. § 114 VwGO; BayVGH, U.v. 16.12.2020 a.a.O. Rn. 36). Lediglich wenn auf Grund desselben Sachverhalts eine einmalige Unfallentschädigung (Art. 62 BayBeamtVG) oder Unfallausgleich (Art. 52 BayBeamtVG) gezahlt wurde, kann der Dienstherr die Erfüllungsübernahme im Rahmen seines Erschließungsermessens verweigern. Eine derartige Sachverhaltskonstellation liegt hier nicht vor.
Das Landesamt hat in seinem streitgegenständlichen Bescheid vom 5. Juni 2019 eine rechtskräftige Feststellung des Schmerzensgeldanspruchs i.S.d. Art. 97 BayBG verneint. Es ist fehlerhaft davon ausgegangen, dass Versäumnisurteile nur zu Grunde gelegt werden könnten, wenn das Schmerzensgeld der Höhe nach angemessen sei. Damit hat es die tatbestandlichen Voraussetzungen der Erfüllungsübernahme nach Art. 97 BayBG zu Unrecht verneint. Es hat das ihm zustehende Ermessen nicht ausgeübt. Aus diesem Grund ist der Bescheid vom 5. Juni 2019 wegen Ermessensausfalls (§ 114 Satz 1 VwGO) rechtswidrig. Vor diesem Hintergrund hat der Kläger Anspruch auf erneute Entscheidung über seinen Antrag auf Erfüllungsübernahme, wobei der Beklagte seiner erneuten Entscheidung die Rechtsauffassung des Senats zugrunde zu legen hat.
2. Die Anschlussberufung des Klägers bleibt ebenfalls ohne Erfolg.
Die Ansicht, für eine Ermessensausübung verbleibe lediglich insoweit Raum, als der Dienstherr die Erfüllungsübernahme verweigern kann, wenn auf Grund des gleichen Sachverhalts eine einmalige Unfallentschädigung (Art. 62 des Bayerischen Beamtenversorgungsgesetzes/BayBeamtVG) oder Unfallausgleich (Art. 52 BayBeamtVG) gezahlt wurde (Art. 97 Abs. 2 Satz 2 BayBG; vgl. LT-Drs. 17/2871, S. 47; in diesem Sinne: VG München, U.v. 7.10.2020 – M 5 K 20.2875, VG Ansbach, U.v. 29.1.2020 – An 1 K 18.2510 – juris Rn. 101 f., Buchart in BeckOK Beamtenrecht Bayern. Stand: 30.12.2019, Rn. 35.3 zu Art. 97 BayBG; Conrad in Weiß/Niedermaier/Summer/Zängl, Beamtenrecht in Bayern, Stand: Mai 2020, Art. 97 BayBG Rn. 11), ist unzutreffend (vgl. insoweit die Ausführungen unter 1.5).
Der Senat kann die mit dem ausdrücklich gestellten Antrag begehrte Verpflichtung des Beklagten, dem Antrag des Klägers auf Erfüllungsübernahme in Höhe von 4.000 € vom 28. Dezember 2018 stattzugeben und im Zuge dieser Erfüllungsübernahme 4.000 € an den Kläger zu bezahlen, nicht entsprechen, weil die Sache insoweit nicht spruchreif ist (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Entscheidung über die Erfüllungsübernahme liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn. Es ist nicht erkennbar, dass der Beklagte sein Ermessen rechtmäßig allein nur dahin ausüben könnte, die Erfüllung des Anspruchs auf Schmerzensgeld vollumfänglich in Höhe von 4.000 € zu übernehmen.
Daraus folgend hat der Kläger keinen Anspruch auf Prozesszinsen nach § 291 Satz 1, § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
4. Die Revision war mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2, § 191 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 127 BRRG nicht zuzulassen.


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