Aktenzeichen L 16 AS 205/16
SGB II §§ 11 ff
SGG § 54
SGG § 56
Leitsatz
1. Statthafte Klageart ist eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§§ 54, 56 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
2. Tatsächlich geleistete und unvermeidbare, weil fällige, Tilgungszahlungen betrieblicher Darlehen sind als notwendige betriebliche Ausgaben absetzbar (§ 3 Abs. 2 und 3 S. 1 und 3 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung – AlgII-V – i.V.m. §§ 271, 488 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB).
3. Die Absetzung betrieblicher Ausgaben wird bei einer Fremdfinanzierung von betrieblich notwendigen Wirtschaftsgütern (hier: überwiegend betrieblich genutztes Kfz) von dem Anschaffungszeitpunkt auf den Zeitpunkt der Tilgung verschoben (§ 3 Abs. 3 S. 4 und 5 AlgII-V).
Verfahrensgang
S 15 AS 1151/15 2016-02-24 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg
Tenor
I. Auf die Berufung werden das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 24. Februar 2016 und der Bescheid vom 15. Juni 2015 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 2. September 2015 aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, Leistungen in Höhe von 391 Euro monatlich für August bis Dezember 2014 und 399 Euro für Januar 2015 endgültig festzusetzen.
II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Instanzen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die zulässige insbesondere gemäß form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143,144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war im streitigen Zeitraum hilfebedürftig, weil er über kein anrechenbares Einkommen verfügte.
Der Kläger verfolgt sein Begehren zu Recht im Wege kombinierter Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen gemäß §§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 und 2, 56 SGG. Der Kläger begehrt neben der Aufhebung der Erstattungsforderung den Beklagten zu verpflichten auszusprechen, dass abschließende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wie die vorläufig bewilligten zuerkannt werden (vgl. BSG, Urteil vom 01.12.2016, Az. B 14 AS 34/15 R).
Rechtsgrundlage für die endgültige Festsetzung der Leistungen nach dem SGB II ist § 40 Abs. 2 Nr. 1a SGB II (in der Fassung vom 20. Juli 2006) i.V.m. § 328 Abs. 3 Satz 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III). Nach § 40 Abs. 2 Nr. 1a SGB II a.F. sind die Vorschriften des SGB III über die vorläufige Entscheidung – § 328 SGB III – entsprechend für das Verfahren nach dem SGB II anwendbar. Mit der endgültigen Festsetzung wird der vorläufige Bewilligungsbescheid gegenstandslos.
Der Kläger gehört dem Grunde nach zum anspruchsberechtigten Personenkreis (§ 7 Abs. 1 S. 1 SGB II). Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, er war erwerbsfähig und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
Der Kläger war auch hilfebedürftig gem. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II.
Der Kläger konnte seinen Bedarf gem. § 20 Abs. 1 und 2 S. 1 SGB II in Höhe von 391 Euro bzw. 399 Euro monatlich nicht durch anrechenbares Einkommen gem. §§ 11 ff SGB II in Verbindung mit § 3 Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II / Sozialgeld (AlgII-V) in der Fassung vom 21.06.2011 decken. Im streitigen Zeitraum standen BE von 7.135,87 Euro BA von 6.640,02 Euro gegenüber. Der Gewinn betrug 495,85 Euro, das monatliche durchschnittliche Einkommen damit 82,64 Euro. Bereits nach Abzug des Erwerbstätigengrundfreibetrags gem. § 11b Abs. 2 S. 1 SGB II in Höhe von 100 Euro monatlich verblieb kein anrechenbares Einkommen.
Nach § 3 Abs. 2 und 3 AlgII-V sind zur Berechnung des Einkommens von den BE die im Bewilligungszeitraum tatsächlich geleisteten notwendigen Ausgaben ohne Rücksicht auf steuerrechtliche Vorschriften abzusetzen. Tatsächliche Ausgaben sollen nicht abgesetzt werden, soweit diese ganz oder teilweise vermeidbar sind oder offensichtlich nicht den Lebensumständen während des Bezuges der Leistungen nach dem SGB II entsprechen. Ausgaben können bei der Berechnung nicht abgesetzt werden, soweit das Verhältnis der Ausgaben zu den jeweiligen Erträgen in einem auffälligen Missverhältnis steht. Ausgaben sind ferner nicht abzusetzen, soweit für sie Darlehen oder Zuschüsse nach dem SGB II erbracht oder betriebliche Darlehen aufgenommen worden sind. Dies gilt auch für Ausgaben, soweit zu deren Finanzierung andere Darlehen verwandt werden. Nach § 3 Abs. 7 S. 1 bis 3 AlgII-V sind bei einem überwiegend betrieblich genutzten Kfz die tatsächlich geleisteten notwendigen Ausgaben für dieses Kfz als betriebliche Ausgabe abzusetzen. Für private Fahrten sind die Ausgaben um 0,10 Euro für jeden gefahrenen Kilometer zu vermindern. Ein Kfz gilt als überwiegend betrieblich genutzt, wenn es zu mindestens 50 Prozent betrieblich genutzt wird.
Die BE betrugen 7.135,87 Euro im streitigen Zeitraum. Der Beklagte hat zu Recht zu den vom Kläger erklärten Einnahmen (7.092,48 Euro) die vom Finanzamt erstattete Umsatzsteuer (43,39 Euro) hinzugerechnet (vgl. BSG, Urteil vom 22.08.2013, Az. B 14 AS 1/13 R).
Beim Kläger sind 6.640,02 Euro als BA anzuerkennen gem. § 3 Abs. 2, 3, 7 AlgII-V.
Für das Kfz sind BA in tatsächlicher Höhe vermindert um die privat gefahrenen Kilometer anzuerkennen (1.117,40 Euro). Das Kfz wurde überwiegend betrieblich genutzt, da der Kläger 20.095 km betrieblich und 797 km privat gefahren ist, mithin deutlich mehr als 50 Prozent der Fahrten betrieblich waren (vgl. Lange in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 13 Rdn. 60). Die vom Beklagten angenommene Einordnung als „Nebenerwerb“ kennt die AlgII-V nicht. Die tatsächlichen laufenden Betriebskosten des Kfz (korrigiert um einen Rechenfehler) in Höhe von 1.006,20 Euro sowie die Kosten für die Zulassung in Höhe von 89,97 Euro sind anzuerkennen. Die gefahrenen privaten Kilometer sind abzusetzen (79,90 Euro). Ein Nachweis für die geltend gemachte Steuer (214 Euro) und die Reparaturen (77,66 Euro) wurde nicht vorgelegt, weshalb es sich nicht um tatsächliche BA handelt.
Die vom Kläger angegebenen Investitionen sind in Höhe von 1.054,59 Euro zu berücksichtigen. Anders als der Beklagte geht der Senat davon aus, dass die vom Kläger getätigten Investitionen für Computerausstattung notwendig für die ausgeübte selbständige Tätigkeit sind. Der Kläger ist im Bereich „neue Medien“ tätig, so dass er insbesondere nicht auf veraltete Geräte verwiesen werden kann. Der Beklagte verkennt die Leistung des Klägers, wenn er diese als nicht ernst zu nehmenden Nebenerwerb deklariert. Der Kläger konnte kurze Zeit nach dem streitigen Zeitraum seinen Bedarf decken und war auf Leistungen nach dem SGB II nicht mehr angewiesen. Die Ausgaben für eine Tastatur (84,90 Euro), einen Kartenleser (7,30 Euro), eine PC-Mouse (29,99 Euro) und einen Eingabestift für das Tablet (4,99 Euro) sind notwendige BA. Im vorangegangenen Zeitraum war der Beklagte vom Sozialgericht rechtskräftig verurteilt worden, die Kosten eines Tablets als BA anzuerkennen, mithin sind auch die Folgekosten des Tablets anzuerkennen. Die Ersatzbeschaffung von zwei weiteren PC-Mäusen ist ebenfalls anzuerkennen (74,98 Euro), wie auch das weitere Notebook (600 Euro), die externe Festplatte (129 Euro) und der Pilotenkoffer (84,95 Euro) BA darstellen. Wegen fehlender Notwendigkeit sind nicht anzuerkennen die Kosten für einen Fernsehempfänger (29,99 Euro) sowie einer Pendelleuchte (29,99 Euro), die regelmäßig keine Schreibtischausstattung darstellt, sondern dem Wohnbereich zuzuordnen ist. Weitere 21,50 Euro konnte der Kläger selbst nicht erklären und nachweisen, weitere 5,99 Euro sind nicht belegt.
Die Reisekosten in Höhe von 521,81 Euro sowie Ausgaben für Büromaterial (24,29 Euro) sind als notwendige BA anzusehen, was auch der Beklagte nicht in Zweifel gezogen hat. Visitenkarten (8,49 Euro) und Fachzeitschriften (81,39 Euro) sind in voller Höhe als BA anzuerkennen. Telefonkosten und Nebenkosten Geldverkehr sind mit 50 Prozent der tatsächlichen Kosten anzusetzen, da das Telefon und das Konto sowohl betrieblich als auch privat genutzt wurden (155,10 Euro und 14,20 Euro).
Bei den Kosten der Internetdomains ist die Domain „…“ (39,98 Euro) eine notwendige BA, ebenso der Virenschutz Norton (4,99 Euro) und Mobilfunkkosten (7,76 Euro) jeweils zzgl. MWSt. Nicht anzuerkennen sind die Kosten für eine Homepage mit dem Namen „wxx“ bzw. „w“; ein Bezug zur selbständigen Tätigkeit des Klägers besteht nicht.
Für den Homepage-Baukasten sowie Tablet- und Handy-Flatrate gibt es keine Belege, so dass es sich nicht um tatsächliche Ausgaben handelt. Die gezahlte Vorsteuer ist nicht als BA gesondert abzugsfähig, weil diese bereits bei den als Bruttobeträge angesetzten Waren/ Leistungen berücksichtigt wurde (vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 19.10.2016, Az. L 4 AS 155/14).
Die Rückzahlung von betrieblichen Darlehen in Höhe von insgesamt 3.600 Euro ist eine gemäß § 3 Abs. 2 und 3 AlgII-V absetzbare BA. Der Kläger hat Tilgungsleistungen in dieser Höhe im streitigen Zeitraum nachgewiesen. Anders als der Beklagte bejaht der Senat eine überwiegend betriebliche Nutzung des Kfz. Grundsätzlich sind deshalb Anschaffungs- und Reparaturkosten des überwiegend betrieblich genutzten Kfz, als für die selbständige Tätigkeit notwendiges Wirtschaftsgut, betrieblich notwendige Ausgaben. Nimmt der Kläger für die Anschaffung und Reparatur des Kfz ein Darlehen auf, so ist dies betrieblich veranlasst. Tatsächlich geleistete und unvermeidbare Tilgungszahlungen sind deshalb eine anzuerkennende BA (vgl. Lange a.a.O. § 13 Rdn. 58 am Ende). Anders als das Sozialgericht ausführt, sind die Tilgungsleistungen auch fällig und damit unvermeidbar für den Kläger (§ 3 Abs. 3 S. 1 AlgII-V). Die Fälligkeit in verzinslichen Darlehensverträgen regelt § 271 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in Verbindung mit § 488 Abs. 1 S. 2 BGB; wobei die Rückzahlung des Darlehens bei verzinslichen Darlehensverträgen nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis steht (vgl. Palandt, 77. Aufl. 2018, Vorb v § 488 Rdn. 2, § 488 Rdn. 6). Nach § 271 Abs. 1 BGB kann der Gläubiger die Leistung sofort verlangen, der Schuldner sie sofort bewirken, wenn eine Zeit für die Leistung weder bestimmt noch aus den Umständen zu entnehmen ist. Die Fälligkeit ist in den Darlehensverträgen aus dem Jahr 2014 mit „baldmöglichst in frei wählbaren Raten“ geregelt. Der Darlehensvertrag aus dem Jahr 2011 enthielt ebenfalls eine „unbestimmte“ Fälligkeitsvereinbarung, was der Niederschrift zur öffentlichen Sitzung vor dem Sozialgericht Augsburg am 18.03.2013 (Az. S 11 AS 1186/12) zu entnehmen ist. Eine vertragliche Bestimmung ist der Auslegung zugänglich (§§ 187 – 193 BGB). Wird die Leistungszeit durch unbestimmte Formulierungen wie „in Kürze“ oder „möglichst bald“ festgelegt, ist der Beurteilungsspielraum nach billigem Ermessen auszufüllen (vgl. Palandt a.a.O. § 271 Rdn. 4). Vor diesem Hintergrund ist der Vertrag auszulegen bzw. „auszufüllen“. Die Mutter des Klägers hat diesem Geld geliehen und wollte das Geld zurückerhalten. Der Rückzahlungszeitpunkt war mithin seitens des Klägers nicht „frei wählbar“, sondern sollte sich an dessen Einnahmen orientieren. In die Auslegung nach billigem Ermessen fließt mit ein, dass die Darlehensgeberin Rentnerin war und der Kläger die Rückzahlungen jeweils dann tätigte, wenn höhere Einnahmen aus seiner selbständigen Tätigkeit erzielt wurden, was durch die Kontoauszüge belegt wird. Der Absetzbarkeit dieser Tilgungszahlungen steht § 3 Abs. 3 S. 3 AlgII-V nicht entgegen, denn der Zeitpunkt der Rückzahlung führt nicht zu einem auffälligen Missverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben. Die Einmischung des Leistungsträgers in die Geschäftspolitik des Klägers entspricht zwar der Intention des Verordnungsgebers (vgl. Mecke a.a.O. Rdn. 59 a.E.). Deshalb sollen Leistungsträger z.B. im Rahmen der Betreuung des Hilfebedürftigen und mit Blick auf das Selbsthilfegebot auf Ausgabensenkungen und – verschiebungen z.B. durch Reduzierung von Tilgungsraten hinwirken und soweit dies nicht geschieht, den Abzug für die entsprechenden Ausgaben um den nicht notwendigen Teil mindern (Entwurfsbegründung BMAS zu AlgII-VO 2008, S. 16, abgedruckt in der 2. Aufl.). Ein frühzeitiges, lenkendes Hinwirken des Beklagten auf andere Tilgungsleistungen ist nicht erfolgt. Vielmehr hat der Beklagte frühere Darlehensrückzahlungen als BA anerkannt. Auch § 3 Abs. 3 S. 4 und 5 AlgII-V steht einer Anerkennung als BA bereits nach dem Wortlaut nicht entgegen. Denn für die Ausgabe – hier Tilgungsleistung – wurde kein betriebliches Darlehen aufgenommen. Nach § 3 Abs. 3 S. 4 AlgII-V war der Kaufpreis für das KfZ im Zeitpunkt der Anschaffung keine absetzbare BA, weil der Kläger dies durch ein Darlehen finanziert hatte. Die Fremdfinanzierung einer nach § 3 Abs. 2 und 3 AlgII-V anzuerkennenden BA verschiebt den Zeitpunkt der Absetzung der BA von der Anschaffung auf den Zeitpunkt der Tilgung des Darlehens. Dies wird durch § 3 Abs. 3 S. 5 AlgII-V verdeutlicht. Ausgaben, die durch betriebliche oder andere Darlehen finanziert werden, sind keine absetzbaren BA, weil diese die Einkommenssituation nicht beeinflussen, sie werden „durchgereicht“. Sie wirken sich erst mit der Tilgung des Darlehens aus. Dies korrespondiert damit, dass Einnahmen, die mit einer Rückzahlungsverpflichtung verbunden sind, im Bereich des SGB II nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind (BSG, Urteil vom 17.06.2010, Az. B 14 AS 46/09 R, Rn. 14 ff). Somit bleibt der Zufluss des Darlehens unberücksichtigt, während die Tilgung von betrieblich veranlassten Darlehen BA sind. Dem steht die Rechtsprechung des BSG zur Unbeachtlichkeit der Tilgung von Schulden nicht entgegen (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 30.09.2008, Az. B 4 AS 29/07 R, Rn. 19). Die Rechtsprechung bezieht sich auf Darlehen im privaten Bereich (vgl. zum Ganzen ausführlich LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.06.2015, Az. L 25 AS 3370/13, Rn. 43 ff).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.