Arbeitsrecht

Nichtannahmebeschluss: Anforderungen der Rechtsschutzgarantie (Art 19 Abs 4 S 1 GG) an Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes – hier: keine Grundrechtsverletzung durch fachgerichtliche Versagung von Eilrechtsschutz bei hinreichend intensiver Sach- und Rechtsprüfung

Aktenzeichen  1 BvR 2366/12

Datum:
6.2.2013
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2013:rk20130206.1bvr236612
Normen:
Art 19 Abs 4 S 1 GG
§ 17 SGB 9
§ 19 SGB 9
§ 86b Abs 2 SGG
Spruchkörper:
1. Senat 1. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, 4. Oktober 2012, Az: L 1 SO 75/12 B ER, Beschlussvorgehend SG Koblenz, 10. August 2012, Az: S 12 SO 104/12 ER, Beschlussvorgehend BVerfG, 28. November 2012, Az: 1 BvR 2366/12, Einstweilige Anordnung

Gründe

1
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen nach § 93a Abs. 2 BVerfGG hierfür
(vgl. dazu BVerfGE 90, 22 ) nicht vorliegen. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche
Bedeutung zu; ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten Grundrechte angezeigt.
Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Insbesondere verletzen die angegriffenen Entscheidungen
den Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

2
1. Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes verlangt grundsätzlich die Möglichkeit eines Eilverfahrens, wenn ansonsten
dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Rechte droht, die durch die Entscheidung
in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann. Dies gilt gleichfalls für Anfechtungs- wie für Vornahmesachen. Die Entscheidungen
dürfen sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt
werden, erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptverfahren geltend gemachten
Anspruchs. Hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung
zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern (vgl. BVerfGE 126, 1 m.w.N.).

3
Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat
die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen (vgl.
BVerfGE 79, 69 ). Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren
nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher
Aufklärungsmaßnahmen bedürfte -, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt.

4
2. Legt man diesen Maßstab zugrunde, so ist die Entscheidung des Landessozialgerichts über die Beschwerde gegen die Ablehnung
des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch das Sozialgericht verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

5
Da die Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes den Beschwerdeführer faktisch zwingt, in die vom Antragsgegner
vorgeschlagene Einrichtung umzuziehen, und damit die Entscheidung in der Hauptsache in erheblicher Weise vorwegnimmt, und
da die dem Beschwerdeführer – jedenfalls nach seinem nicht unsubstantiierten Vortrag – dabei drohenden Nachteile durchaus
gravierend, wenn auch nicht lebensbedrohend sind (vgl. dazu den Beschluss nach § 32 BVerfGG der 1. Kammer des Ersten Senats
des Bundesverfassungsgerichts vom 28. November 2012 in dieser Sache), lag zwar nicht ein Fall einer ausnahmsweise verfassungsrechtlich
gebotenen Vollprüfung vor; das Landessozialgericht musste die Sach- und Rechtslage aber eingehend prüfen. Dem ist es gerecht
geworden. Dass es den Ausgang des Hauptsacheverfahrens gleichwohl als offen einschätzt und die von ihm vorgenommene Prüfung
selbst als summarisch bezeichnet, ist nach den vorstehenden Grundsätzen unschädlich. Eine gemessen am Gewicht der geltend
gemachten Grundrechtsverletzungen genügend intensive Durchdringung der Sach- und Rechtslage ist erfolgt.

6
Zwar leitet das Landessozialgericht seine Ausführungen zu der Frage, ob eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung
zumutbar ist, mit der Bemerkung ein, es könne nach einer Gesamtabwägung aller entscheidungserheblichen Umstände nach gebotener
summarischer Prüfung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht beurteilt werden, ob die Klage in der Hauptsache
begründet sei oder nicht; vielmehr werde im Hauptsacheverfahren zunächst zu klären sein, ob dem Beschwerdeführer dem Grunde
nach ein Anspruch auf Hilfeleistung in Form eines persönlichen Budgets zustehe.

7
Bei der anschließenden Prüfung dieser Frage gibt das Landessozialgericht dann aber an keiner Stelle zu erkennen, dass es den
Ausgang des Hauptsacheverfahrens auf der Grundlage der vorliegenden Stellungnahmen nicht schon weitgehend zuverlässig prognostizieren
könnte. Vielmehr stellt es ausdrücklich fest, es sei nach der in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen
Prüfung nicht ersichtlich, dass dem Beschwerdeführer die von der Behörde vorgesehene stationäre Unterbringung nicht zumutbar
wäre.

8
Das Landessozialgericht setzt sich sodann ausführlich mit den – vom Beschwerdeführer vorgelegten – Stellungnahmen auseinander.
Ob dies in jeder Hinsicht überzeugend ist, ist keine an Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu messende Frage; denn dieses Grundrecht
gewährt kein Recht auf materiell richtige Entscheidungen. Den verfassungsrechtlich geforderten effektiven Rechtsschutz gewährt
das Landessozialgericht dem Beschwerdeführer jedenfalls. Seine Begründung ist nachvollziehbar und frei von Widersprüchen.
Es sieht insbesondere die Notwendigkeit einer aufwändigen “psychologisch-heilpädagogischen Fachbegleitung” eines Umzugs des
Beschwerdeführers, um die mit ihm verbundenen Belastungen für den Beschwerdeführer auf ein Minimum zu reduzieren. Mit einer
solchen unterstützenden Begleitung hält das Landessozialgericht die dem Beschwerdeführer bei einem Umzug in die angebotene
stationäre Einrichtung drohenden Belastungen für aller Voraussicht nach beherrschbar. Dabei übersieht es auch nicht, dass
ein solcher Umzug – anders als der in die Wohngemeinschaft – zusätzlich auch “mit einem Wechsel der Tagesförderstätte verbunden
wäre”.

9
Seine abschließende Einschätzung, dass dem Beschwerdeführer ein Wechsel zumutbar sei, trifft das Landessozialgericht danach
auf der Grundlage einer weitgehenden Durchdringung der Sach- und Rechtslage, bei der es alle vorliegenden tatsächlichen Erkenntnisse
auswertet, ohne erkennen zu geben, dass seine Erkenntnis wesentlich unter dem Vorbehalt weiterer im Hauptsacheverfahren einzuholender
Auskünfte und Gutachten stünde.

10
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

11
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


Ähnliche Artikel

Mobbing: Rechte und Ansprüche von Opfern

Ob in der Arbeitswelt, auf Schulhöfen oder im Internet – Mobbing tritt an vielen Stellen auf. Die körperlichen und psychischen Folgen müssen Mobbing-Opfer jedoch nicht einfach so hinnehmen. Wir klären Rechte und Ansprüche.
Mehr lesen

Das Arbeitszeugnis

Arbeitszeugnisse dienen dem beruflichen Fortkommen des Arbeitnehmers und helfen oft den Bewerbern in die engere Auswahl des Bewerberkreises zu gelangen.
Mehr lesen


Nach oben