Arbeitsrecht

Nichtannahmebeschluss: Keine rückwirkende Einbeziehung nichtehelicher Lebensgemeinschaften in den Anwendungsbereich des § 46 SGB 6 (Gewährung von Hinterbliebenenrente) in der bis 31.12.2004 geltenden Fassung – Unerreichbarkeit des verfolgten Begehrens selbst bei Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Norm

Aktenzeichen  1 BvR 170/06

Datum:
11.6.2010
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2010:rk20100611.1bvr017006
Normen:
Art 3 Abs 1 GG
§ 31 Abs 2 S 2 BVerfGG
§ 93a Abs 2 Buchst a BVerfGG
§ 93a Abs 2 Buchst b BVerfGG
§ 46 SGB 6 vom 19.02.2002
§ 46 SGB 6 vom 21.03.2001
§ 46 Abs 4 SGB 6 vom 15.12.2004
Spruchkörper:
1. Senat 3. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend BSG, 13. Dezember 2005, Az: B 4 RA 14/05 R, Urteilvorgehend SG Fulda, 26. November 2004, Az: S 2 RA 199/03, Urteilnachgehend BVerfG, 1. Oktober 2012, Az: 1 BvR 170/06 – Vz 1/12, Beschwerdekammerbeschlussnachgehend Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, 4. September 2014, Az: 68919/10, Urteil

Gründe

1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Nichtgewährung von Hinterbliebenenrente an einen überlebenden eingetragenen Lebenspartner
aus der gesetzlichen Rentenversicherung für die Zeit vor dem 1. Januar 2005.

I.
2
Der Beschwerdeführer schloss am 5. Oktober 2001 eine eingetragene Lebenspartnerschaft. Das andere Mitglied der Lebenspartnerschaft
gilt als am 22. Juni 2002 verstorben. Der Beschwerdeführer beantragte darauf hin die Gewährung einer Hinterbliebenenrente
bei dem für den verstorbenen Versicherten zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, der den Antrag ablehnte.
Voraussetzung für die Zahlung einer Hinterbliebenenrente sei unter anderem das Bestehen einer gültigen Ehe zur Zeit des Todes
des Versicherten. Eine eingetragene Lebenspartnerschaft erfülle diese Voraussetzung nicht.

3
Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Die Klage hiergegen wurde vom Sozialgericht abgewiesen. Der Beschwerdeführer legte
die dagegen zugelassene Sprungrevision ein.

4
Während des Revisionsverfahrens stellte der Gesetzgeber mit Wirkung zum 1. Januar 2005 durch das Gesetz zur Überarbeitung
des Lebenspartnerschaftsrechts vom 15. Dezember 2004 (BGBl I S. 3396) die hinterbliebenen Lebenspartner bezüglich der Hinterbliebenenversorgung
in der gesetzlichen Rentenversicherung dem verwitweten Ehegatten durch die Einfügung des § 46 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Sechstes
Buch (SGB VI) gleich. Der Rentenversicherungsträger erkannte darauf hin den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Anspruch
für die Zeit ab dem 1. Januar 2005 an. Der Beschwerdeführer nahm dieses Teilanerkenntnis an, führte den Rechtsstreit aber
für die Zeit vom 22. Juni 2002 bis zum 31. Dezember 2004 weiter.

5
Das Bundessozialgericht wies die Revision zurück. Für den noch streitigen Zeitraum habe der Beschwerdeführer keinen Anspruch
auf Hinterbliebenenrente. Die bis zum 31. Dezember 2004 geltende Fassung des § 46 SGB VI erfasse nur Ehegatten, nicht aber
die Mitglieder einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Der Ausschluss von eingetragenen Lebenspartnern aus dem Anwendungsbereich
der gesetzlichen Rentenversicherung sei nicht verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil vom 17.
Juli 2002 (BVerfGE 105, 313 ff.) festgestellt, dass das Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften
: Lebenspartnerschaften vom 16. Februar 2001 in der Fassung des Gesetzes vom 11. Dezember 2001 mit dem Grundgesetz vereinbar
sei. In einem derartigen Verfahren der abstrakten Normenkontrolle prüfe das Bundesverfassungsgericht die Gültigkeit des ganzen
Gesetzes und jeder einzelnen seiner Bestimmungen unter allen rechtlichen Gesichtspunkten. Somit bedeute das Urteil vom 17.
Juli 2002, dass das Gesetz mit dem Grundgesetz, und zwar auch mit Art. 3 Abs. 1 und 3 GG, vereinbar sei. Somit stehe fest,
dass die Nichteinbeziehung eingetragener Lebenspartnerschaften in die gesetzliche Hinterbliebenenversorgung während des Zeitraums
bis zum 31. Dezember 2004 nicht verfassungswidrig sei. Denn das Bundesverfassungsgericht habe nicht entschieden, dass der
Bund verfassungsrechtlich verpflichtet gewesen wäre, eine Hinterbliebenenrente auch für eingetragene Lebenspartnerschaft einzuführen.
Vielmehr habe es ausdrücklich bestätigt, dass der Bund die Ehe gegenüber anderen Lebensformen begünstigen dürfe. Daran sei
das Bundessozialgericht gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG gebunden.

6
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG durch die angegriffenen Entscheidungen
und durch § 46 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung. Über die Verfassungsmäßigkeit dieser Norm sei durch
das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 17. Juli 2002 nicht entschieden worden. Die Frage, ob der Gesetzgeber verfassungsrechtlich
verpflichtet gewesen sei, eingetragene Lebenspartnerschaften in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen, sei keine
Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften : Lebenspartnerschaften,
sondern der Verfassungsmäßigkeit des Rechts der Hinterbliebenenversorgung. Im Übrigen unterliege der Gesetzgeber bei der Regelung
der Hinterbliebenenversorgung nicht bloß einem Willkürverbot, sondern einer strengen Bindung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Zwar sei der Gesetzgeber aufgrund von Art. 6 Abs. 1 GG berechtigt, Ehepaare gegenüber eingetragenen Lebenspartnerschaften
zu begünstigen. Jedoch wäre neben dem völligen Ausschluss eingetragener Lebenspartnerschaften von der Hinterbliebenenrente
auch eine abgestufte Regelung, etwa mit einem unterschiedlichen Rentenartfaktor, möglich gewesen.

II.
7
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG
nicht vorliegen.

8
1. Die Annahmevoraussetzung des § 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG liegt nicht vor, weil der aufgeworfenen Frage keine grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt. Für nicht mehr geltendes Recht besteht in der Regel kein über den Einzelfall hinausgreifendes
Interesse, seine Verfassungsmäßigkeit auch noch nach seinem Außerkrafttreten zu klären (vgl. BVerfGE 91, 186 ; BVerfGK
7, 283 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1996 – 1 BvR 1474/88 -, juris, Rn. 6; BVerfG,
Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 8. Januar 1998 – 1 BvR 1872/94 -, NJW 1998, S. 2043 ; BVerfG, Beschluss
der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. April 1998 – 2 BvR 1478/97 -, NJW 1998, S. 2043; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des
Zweiten Senats vom 11. Juli 1999 – 2 BvR 1313/93 -, juris, Rn. 3; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19.
November 1999 – 2 BvR 1167/96 -, NJW 2000, S. 797 ).

9
Dies ist auch hier der Fall, weil § 46 SGB VI in der vom Beschwerdeführer angegriffenen Fassung seit dem 1. Januar 2005 nicht
mehr in Kraft, sondern inzwischen durch § 46 Abs. 4 SGB VI ergänzt worden ist.

10
2. Auch die Annahmevoraussetzung des § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG ist nicht erfüllt. Die Annahme einer Verfassungsbeschwerde
ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte nicht angezeigt, wenn der Beschwerdeführer sein vor den Fachgerichten
verfolgtes Begehren nicht erreichen kann (vgl. BVerfGE 90, 22 ; 119, 292 ; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer
des Ersten Senats vom 11. März 2010 – 1 BvR 290/10 u. a. -, juris, Rn. 24).

11
Dies ist hier der Fall, weil der Beschwerdeführer mit seinem zuletzt noch verfolgten Begehren – der Gewährung von Hinterbliebenenrente
für die Zeit vor dem 1. Januar 2005 – keinen Erfolg mehr haben kann. Dabei kann dahinstehen, ob § 46 SGB VI in der bis zum
31. Dezember 2004 geltenden Fassung mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 3 Abs. 1 GG, vereinbar war. Selbst wenn man
die Verfassungswidrigkeit der Norm unterstellt, könnte dies nicht dazu führen, dass der Beschwerdeführer für die Zeit vor
dem 1. Januar 2005 Hinterbliebenenrente erhält. Das Bundesverfassungsgericht könnte allenfalls die Verfassungswidrigkeit von
§ 46 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung feststellen, ohne den Gesetzgeber zu einer rückwirkenden Neuregelung
zu verpflichten.

12
a) Steht eine Norm mit dem Grundgesetz nicht in Einklang, so ist sie grundsätzlich für nichtig zu erklären (§ 95 Abs. 3 Satz
1 BVerfGG). Beruht die Verfassungswidrigkeit ausschließlich auf einem Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, so ist
jedoch die Unvereinbarkeit die Regelfolge, während die Nichtigkeit die Ausnahme darstellt (BVerfGE 110, 94 ). Die bloße
Unvereinbarkeitserklärung erfolgt namentlich dann, wenn eine Personen- oder Fallgruppe in eine begünstigende Regelung nicht
einbezogen worden ist (vgl. BVerfGE 92, 158 ; 101, 397 ).

13
So verhält es sich hier, weil in § 46 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung eingetragene Lebenspartnerschaften
nicht einbezogen waren. In diesem Fall würde die Nichtigkeitserklärung die Rechtsgrundlage für die gewährte Begünstigung insgesamt
entfallen lassen. Es würde nicht zuletzt an einer Ansprüche des Beschwerdeführers begründenden Norm fehlen (vgl. BVerfGE 18,
288 ) und damit eine Rechtslage eintreten, für dessen Erreichen der Beschwerdeführer kein Rechtsschutzbedürfnis hat (vgl.
BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 2. September 2009 – 1 BvR 1997/08 -, juris, Rn. 8).

14
Das Bundesverfassungsgericht wäre daher – einen Verfassungsverstoß im vorliegenden Fall unterstellt – darauf beschränkt, die
Unvereinbarkeit des § 46 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung mit dem Grundgesetz festzustellen und dem
Gesetzgeber die Neuregelung der Norm aufzuerlegen (vgl. BVerfGE 18, 288 ; 22, 349 ). Liegt die Verfassungswidrigkeit
in einem gesetzgeberischen Unterlassen, ist grundsätzlich nur eine Unvereinbarkeitserklärung möglich (vgl. BVerfGE 116, 96
).

15
b) Im vorliegenden Fall käme jedoch ein Neuregelungsauftrag an den Gesetzgeber allenfalls für die Zeit ab der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts in Betracht und damit für einen Zeitraum, der zwischen den Beteiligten des Ausgangsverfahrens
nicht mehr streitig ist.

16
Eine Pflicht des Gesetzgebers zur rückwirkenden Beseitigung eines mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarenden Rechtszustandes
hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem in Fällen verneint, in denen die Verfassungsrechtslage bisher nicht hinreichend
geklärt war (vgl. BVerfGE 84, 239 ; 120, 125 ; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09
u.a. -, NJW 2010, S. 505 , Rn. 217).

17
So verhält es sich hier. Denn bislang ist verfassungsrechtlich ungeklärt, ob der Gesetzgeber verpflichtet gewesen war, die
Hinterbliebenenversorgung der gesetzlichen Rentenversicherung in der Zeit vor dem 1. Januar 2005 auf eingetragene Lebenspartnerschaften
zu erstrecken. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstellung von Lebenspartnerschaft und Ehe in der
betrieblichen Altersversorgung bezieht sich nur auf den Zeitraum seit dem 1. Januar 2005 (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten
Senats vom 7. Juli 2009 – 1 BvR 1164/07 -, NJW 2010, S. 1439 ff.). Einer Klärung bedarf dies angesichts des zum 1. Januar
2005 in Kraft getretenen § 46 Abs. 4 SGB VI indes nicht mehr. Aus dem gleichen Grund ginge auch ein Neuregelungsauftrag an
den Gesetzgeber ins Leere.

18
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

19
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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