Arbeitsrecht

Selbstständigkeit eines Physiotherapeuten in fremder Praxis

Aktenzeichen  S 4 BA 76/19

Datum:
16.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40024
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IV § 7 Abs. 1, § 7a
SGB V § 124 Abs. 1, § 155

 

Leitsatz

1. Für einen in fremder Praxis als freier Mitarbeiter tätigen Physiotherapeuten folgt aus dem Leistungserbringerrecht des SGB V keine entscheidende Weisungsbefugnis mit entsprechender Eingliederung. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ausschlaggebend für die Selbstständigkeit ist die Behandlung nur eigener Patienten, die Führung eines eigenen Terminkalenders sowie eigener Patientenkarten. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 28.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.09.2019 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 23.07.2020 wird aufgehoben.
II. Es wird festgestellt, dass der Kläger die Tätigkeit für die Beigeladene zu 1) in der Zeit ab dem 01.02.2018 nicht im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses, sondern als Selbstständiger ausübt und insoweit nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung unterliegt.
III. Die Beklagte hat dem Kläger vollumfänglich dessen notwendige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Gründe

Die zulässige Klage ist vollumfänglich begründet. Die Bescheide der Beklagten vom 28.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.09.2019 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 23.07.2020 sind rechtswidrig. Denn mit diesen stellt die Beklagte zu Unrecht das Vorliegen von Versicherungspflicht – zuletzt in der gesetzlichen Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung – aufgrund des Bestehens eines Beschäftigungsverhältnisses fest. Der Bescheid vom 23.07.2020 wurde dabei Gegenstand des Verfahrens, § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG), so dass auch über diesen mit zu befinden ist.
I.)
Gemäß § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV können die Beteiligten schriftlich eine Entscheidung beantragen, ob eine Beschäftigung vorliegt, es sei denn, die Einzugsstelle oder ein anderer Versicherungsträger hatte im Zeitpunkt der Antragsstellung bereits ein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet. Über den Antrag entscheidet abweichend von § 28h Abs. 2 SGB IV die … (§ 7a Abs. 1 Satz 3 SGB IV). Der Kläger hat sich für das (fakultative) Anfrageverfahren bei der Beklagten (Clearing-Stelle) nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV entschieden. Ein vorrangiges Verfahren bei der Einzugs- oder der Prüfstelle war nicht eingeleitet worden und ist aus den Akten auch nicht ersichtlich.
Nach § 7a Abs. 2 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) entscheidet die Beklagte im Rahmen eines Anfrageverfahrens auf Grund einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles, ob eine abhängige Beschäftigung vorliegt. Nach Auffassung des Bundessozialgerichtes – BSG – (Urteil vom 11.03.2009, Az.: B 12 R 11/07 R) findet dabei keine isolierte Feststellung des Vorliegens einer abhängigen Beschäftigung, sondern zugleich eine Entscheidung über die Versicherungspflicht in den Zweigen der Sozialversicherung statt.
Gemäß § 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) und § 25 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) sind Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, in der gesetzlichen Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung versicherungspflichtig.
Ausgangspunkt für die Beurteilung des Vorliegens einer Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV. Danach ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Diese Weisungsgebundenheit kann eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich ausgehend von den genannten Umständen nach dem Gesamtbild der Tätigkeit und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.2013, Az. B 12 KR 17/11 R, Rn. 23, juris, m.w.N.). Ob eine wertende Zuordnung zum Typus der Beschäftigung gerechtfertigt ist, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist (vgl. BSG SozR 4-2400, § 7 Nr. 21 Rn. 14; SozR 4-2400, § 7 Nr.17, Rn. 16 m.w.N.).
Die Zuordnung einer Tätigkeit nach deren Gesamtbild zum rechtlichen Typus der Beschäftigung bzw. selbstständigen Tätigkeit setzt dabei voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Indizien in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in ihrer Tragweite zutreffend erkannt und gewichtet, in die Gesamtschau mit diesem Gewicht eingestellt und nachvollziehbar, das heißt den Gesetzen der Logik entsprechend und widerspruchsfrei, gegeneinander abgewogen werden (BSG SozR 4-2400 § 7 Nr. 15 Rn 25 ff.). Das Gesamtbild bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinne sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ob eine Beschäftigung vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder es sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zur ursprünglich getroffenen Vereinbarung stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung geht der formellen Vereinbarung vor, soweit eine – formlose – Abbedingung rechtlich möglich ist. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. Zu den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht (BSG SozR 3-2400 § 7 Nr. 4; SozR 3-4100 § 168 Nr. 18). In diesem Sinne gilt, dass die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben, wenn sie von Vereinbarungen abweichen (BSGE 45, 199, 200 ff; BSG SozR 3-2400 § 7 Nr. 13; BSGE 87, 53, 56). Maßgeblich ist die Rechtsbeziehung so, wie sie praktiziert wird und die praktizierte Beziehung so, wie sie rechtlich zulässig ist (vergleiche hierzu insgesamt BSG, SozR 4-2400 § 7 Nr. 7 Rdnr. 17, 25.01.2006, B 12 KR 30/04 R; 28.05.2008, B 12 KR 13/07 R).
Ausgehend von diesen Grundsätzen und unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls sprechen nach Überzeugung der erkennenden Kammer die weit überwiegenden Umstände dafür, dass der Kläger seit dem 01.02.2018 seine Tätigkeit in den Praxisräumen der Beigeladenen zu 1.) nicht im Rahmen eines abhängigen, dem Grunde nach sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ausübt, sondern dass die am Vertragsverhältnis Beteiligten zu Recht von einer selbständigen Tätigkeit ausgehen. Insoweit ist genau zu differenzieren zwischen seiner „normalen“ selbstständigen Tätigkeit in seiner Privatpraxis in A-Stadt und zwischen der hier streitbefangenen Tätigkeit in den Räumlichkeiten der Beigeladenen zu 1.). Nur letztere ist Beurteilungsmaßstab für das Gericht.
Rechtliche Grundlage für die Tätigkeit des Klägers war der mit der Beigeladenen zu 1.) am 01.02.2018 geschlossene Dienstleistungsvertrag. Danach vergibt der Kläger die Behandlungstermine für die von ihm übernommenen Patienten selbst. Diese Regelung stand auch in Übereinstimmung mit der tatsächlich durchgeführten Patienteneinbestellung.
Der Vertrag sagt zunächst nichts darüber aus, wie der Erstkontakt und die Patientenakquise zustande kommt. Nach den übereinstimmenden und für die Kammer durchweg überzeugenden und vom Beklagtenvertreter im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht bestrittenen Angaben der Beteiligten hat der Kläger die Erstterminierung (neben der Terminierung von Folgebehandlungen) selbst vorgenommen. Eine Patientenakquise über die Beigeladene zu 1.) erfolgte ebenso wenig wie eine Vergabe eines Ersttermins. Der Erstkontakt zu den Patienten fand damit ausschließlich über den Kläger statt. Seinen Patientenstamm hat der Kläger – wie er im Rahmen der mündlichen Verhandlung erläutert hat – selbst über seine Tätigkeit im Tanzverein und über private Kontakte aufgebaut. Da diese Patienten in N. wohnen und weitgehend gesetzlich versichert sind, nutzt er die Räumlichkeiten der Beigeladenen zu 1.), wobei er auch im Rahmen von Hausbesuchen behandelt. Auch ist aus der Homepage des Beigeladenen zu 1.) nicht ersichtlich, dass in deren Namen Behandlungen des Klägers stattfinden. Dieser wieder an keiner Stelle erwähnt.
Die Kläger führt darüber hinaus einen eigenen Terminkalender und entsprechend der vertraglichen Regelung eine eigene Patientenkartei. Der Kläger tritt zudem selbst am Markt auf und betreibt eigene Werbung mit eigenen Visitenkarten. Er akquiriert seine Patienten selbst. Er hat keine festen Arbeitszeiten und ihm steht es entsprechend der vertraglichen Regelung frei, wann er die Patienten behandelt. Der Umstand, dass er nur mittwochs aufgrund der Tätigkeit in seiner eigenen Privatpraxis Patienten in den Räumlichkeiten der Beigeladenen zu 1) behandelt ist gerade Ausfluss seiner freien Zeiteinteilung. Genau so gut könnte er Patienten montags oder mehrmals pro Woche bei der Beigeladenen zu 1.) behandeln. Ein Raumbuchungssystem besteht nicht. Er sucht sich vielmehr einen freien Raum aus. Sofern es vereinzelt zu Absprachen kommt, z.B. wenn der Behandlungsraum mit der Sprossenwand benötigt wird, so stellt dies gerade keine Vorgabe von Seiten der Beigeladenen zu 1.) dar. Dies ist vielmehr Ausfluss üblicher Rücksichtnahmepflichten im Rahmen eines Vertragsverhältnisses. Nur weil der Kläger vereinzelt ankündigt, an einem bestimmten Tag einen bestimmten Raum zu benötigen, so kann daraus nicht ein Kriterium für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis hergeleitet werden. Hinzu kommt, dass eine vorherige Absprache bezüglich eines bestimmten Raumes nur vereinzelt und damit in untergeordnetem Umfang erfolgt. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass die Vergütung in Höhe von 70% frei verhandelt wurde. Der Kläger hat insoweit ergänzend im Rahmen der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass es ihm sehr wichtig gewesen sei, auch die seitens der Krankenkasse gezahlte Pauschale zu erhalten. Eine Vorgabe der Vergütung von Seiten der Beigeladenen zu 1.) erfolgt nicht.
Der Kläger ist ferner bei der Ausübung seiner Tätigkeit – wie in Nr. 1 und Nr. 3 des Vertrags vereinbart und auch tatsächlich so ausgeführt – nicht weisungsgebunden und unterliegt nicht den allgemeinen Praxisregelungen. Es besteht kein Weisungsrecht sowohl hinsichtlich fachlicher Weisungen als auch bezüglich Zeitpunkt, Lage und Dauer der Tätigkeit. Denn er kann seine Behandlungstermine selbst bestimmen. Der Kläger muss sich im Krankheitsfall auch nicht abmelden. Er informierte die Beigeladene zu 1.) lediglich, da der mittwochs belegte Behandlungsraum dann frei wird. In diesem Fall erfolgt eine Terminabsage durch den Kläger von zu Hause aus, wo er neben der gesondert der Praxis aufbewahrten Patientenkartei eine gesonderte Liste mit den Patientendaten führt. Eine wechselseitige Vertretung und bei Urlaub und Krankheit findet faktisch und wann nur im äußersten Notfall statt. Zudem verfügt er über kleinere eigene Arbeitsmittel und bringt seine Handtücher, die sich farblich von denen der Beigeladenen zu 1.) unterscheiden, selbst mit.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Kläger wegen der Regelungen des Leistungserbringungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mit den Kostenträgern direkt abrechnen kann. Nach § 124 Abs. 1 SGB V dürfen Heilmittel, die als Dienstleistungen abgegeben werden, insbesondere unter anderem Leistungen der Physiotherapie, an Versicherte der GKV nur von zugelassenen Leistungserbringern abgegeben werden. Der für das Recht der Leistungserbringung in den GKV zuständige Fachsenat des BSG hat dazu für die ab 1989 geltende Rechtslage entschieden, dass diese Bestimmungen sowie die weiteren Regelungen des Leistungserbringerrechts des SGB V (§§ 155 ff. SGB V) einer Heilmittelabgabe durch freie Mitarbeiter des zugelassenen Leistungserbringers nicht entgegenstehen (BSG, SozR 3-2400 § 124 Nr. 1 S. 4 ff.). Durch die Änderungen des SGB V hat sich an dieser Rechtslage nichts geändert. Auch gilt es zu beachten, dass die Regelungen ausschließlich das Verhältnis zwischen Krankenkasse und zugelassenem Leistungserbringer betreffen. Der Regelung des Leistungserbringerrechts in § 124 Abs. 1 SGB V fehlt demgegenüber eine über das Leistungs- und Leistungserbringerrecht der GKV hinausgehende „übergeordnete“ Wirkung auch bezogen auf die sozialversicherungs- und beitragsrechtliche Rechtslage betreffend die im jeweiligen Einzelfall konkret zu beurteilende Tätigkeit, vgl. BSG, Urteil vom 24.03.2016, Az. B 12 KR 20/14 R, juris, Rn. 28. Es kann daher entgegen der im Widerspruchsbescheid zum Ausdruck kommenden Rechtsauffassung der Beklagten nicht der Schluss gezogen werden, dass aufgrund der Vorgaben des gesetzlichen Leistungserbringungsrechtes per se dem jeweiligen Auftraggeber – hier also der Beigeladenen zu 1.) – eine entscheidende Weisungsbefugnis zukäme mit der Folge entsprechender Eingliederung. Insoweit wird außer Acht gelassen, dass die Vorgaben des Leistungserbringungsrechtes zunächst nur das Verhältnis zwischen Krankenkasse und der Praxis betreffen. Daneben bedarf es einer gesonderte Beurteilung des Vertragsverhältnisses zwischen dem betroffenen Physiotherapeuten – hier dem Kläger – und der Praxis. Auch ist nach Auffassung der Kammer die Abrechnung der Beigeladenen zu 1) gegenüber der Abrechnungsstelle nur ein zu gewichtendes Merkmal (dazu siehe später), welches für die abhängige Beschäftigung spricht. Würde man hieraus eine Weisungsbefugnis der Beigeladenen zu 1.) abzuleiten, so würde man die weiteren vertraglichen Vereinbarungen und die tatsächlichen Verhältnisse weitgehend außen vor lassen, was einer Gesamtabwägung nicht gerecht werden würde. Warum die Beklagte aus dem Urteil des BSG vom 24.03.2016, aaO, etwas anderes ableiten will, erschließt sich der Kammer nicht. Insoweit hat dieses ausgeführt, vgl. BSG, aaO, Rn. 26: (…); es kann nicht angenommen werden, dass der Klägerin hierdurch auch eine entscheidende Weisungs- und Entscheidungsbefugnis zugekommen und die Beigeladene zu 1. deshalb in die von der Klägerin vorgegebene Arbeitsorganisation notwendig eingegliedert gewesen sei.
Entgegen der Auffassung der Beklagten hatte der Kläger auch ein Unternehmerrisiko zu tragen. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass Kapital und Arbeitskraft eingesetzt werden, einerseits um größere Verdienstchancen zu haben, andererseits jedoch mit dem Risiko eines Verlusts des eingesetzten Kapitals oder ohne Vergütung aufgewandter Mittel. Zutreffend ist zwar, dass der Kläger kein ins Gewicht fallendes Kapital einzusetzen hatte. Dies wird jedoch wiederum relativiert durch die Art der Tätigkeit. Gerade im Bereich von Dienstleistungen, die vorwiegend durch die eigene Arbeitskraft geprägt sind, ist es aufgrund der Art der Tätigkeit üblich, dass kein nennenswerter Kapitaleinsatz erforderlich ist, z.B. bei Physiotherapeuten, Dolmetschern. Vorliegend hatte der Kläger jedenfalls das Risiko zu tragen, trotz Erbringung seiner Leistung keine Vergütung zu erhalten, wenn z. B. Leistungen erbracht wurden, die von der Krankenkasse nicht vergütet wurden, vgl. Ziff. 3.6 des Vertrages. Die Beigeladene zu 1.) hat auch in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass sie definitiv von dieser vertraglichen Klausel im Falle von Leistungsstörungen mit der Abrechnungsstelle gebraucht gemacht hätte. Unbeachtlich ist, in welchem Umfang sich dieses Risiko realisiert hat; maßgeblich ist vielmehr, dass es tatsächlich bestanden hat. Der Kläger hat zudem das Risiko zu tragen, dass Patienten nicht zur Behandlung erscheinen und er deshalb den Behandlungstermin nutzlos verstreichen lassen muss und nicht abrechnen kann. Insoweit hebt sich der Kläger auch von angestellte Physiotherapeuten ab. Denn diese werden auch für die Stunden bezahlt, in denen sie ihre Arbeitskraft vorhalten, die Patienten jedoch nicht erscheinen. Es besteht ein Entlohnungsanspruch von Arbeitnehmern bereits dann, wenn sie ihre Arbeitskraft anbieten, und nicht erst dann, wenn der Arbeitgeber dies auch annimmt. Der Arbeitgeber käme anderenfalls in Annahmeverzug mit der Folge, dass der Entlohnungsanspruch fortbesteht.
Auch muss der Kläger ausweislich Ziff. 3.8 des Vertrages einen festen Mindestbetrag für die Nutzung der Ausstattung und der Räumlichkeiten an die Beigeladene zu 1) unabhängig von der tatsächlichen Nutzung zahlen. Aufgrund der getroffenen Vergütungsabrede entstehen dem Kläger Kosten, wenn er keine Einnahmen erzielt. Der Kläger hat daher mit der vereinbarten Vergütung laufende Kosten, die er unabhängig von seinem eigenen Tätigwerden mit dem Risiko des Verlustes einsetzen muss. Dies spricht ebenfalls für ein Unternehmerrisiko, wenn auch in finanziell geringem Umfang.
Die vorstehend aufgeführten Merkmale sprechen nach Auffassung der Kammer für eine selbstständige Tätigkeit.
Für eine abhängige Beschäftigung spricht demgegenüber, dass der Kläger die Räumlichkeiten und größere Arbeitsmaterialien, z.B. Sprossenwand der Beigeladenen zu 1.) zur Durchführung der Behandlungen nutzt. Dieser für eine abhängige Beschäftigung sprechende Gesichtspunkt wird jedoch wiederum dadurch relativiert, dass der Kläger für diese Nutzung der Räumlichkeiten nicht 100% der Krankenkassenvergütung, sondern nur 70% erhält. Insoweit könnte man in einem ersten Schritt genauso gut mit der Praxis eine 100%-Vergütung vereinbaren und sodann einen weiteren Mietvertrag über die Nutzung der Räumlichkeiten aufsetzen. Der Pauschalabzug von 30% dient daher der Vereinfachung und soll vorwiegend die Nutzungsmöglichkeit nebst Betriebskosten und die Leistungsabrechnung der Praxis gegenüber der Abrechnungsstelle abgelten.
Ferner spricht der Umstand, dass ausschließlich die Beigeladene zu 1.) aufgrund der entsprechenden Zulassung gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen durfte, dafür dass der Kläger insoweit in den Betrieb der Beigeladenen zu 1.) eingegliedert ist. Der Kläger selbst hat keine Zulassung als Leistungserbringer, sondern allein die Beigeladene zu 1.). Diese ist Leistungserbringerin auf der Grundlage der zwischen dem Spitzenverband der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) und den maßgeblichen Spitzenorganisationen der Heilmittelerbringer abgeschlossenen Rahmenempfehlungen gem. § 125 Abs. 1 SGB V und den dazugehörigen Leistungsbeschreibungen. Nur die Beigeladene zu 1) ist befugt, die erbrachten Leistungen gegenüber den Leistungsträgern abzurechnen und damit zu erbringen. Es sind nach den Rahmenempfehlungen Vorgaben zum Datenschutz, organisatorische und personelle Voraussetzungen festgelegt. Bei Nichteinhaltung droht eine Verlust der Zulassung. Innerhalb dieses Leistungssystems erbringt der Kläger seine Leistungen für die Beigeladene zu 1) erbracht. Er war daher für die Ausübung seiner Tätigkeit auf die Eingliederung die Betriebsorganisation der Beigeladenen zu 1.) angewiesen. Insoweit ist eine Eingliederung gegeben.
Diese Eingliederung bezieht sich aber nur auf die Abrechnung nach außen gegenüber Abrechnungsstelle, nicht jedoch auf die eigens akquirierten Patienten. Auch schlägt die fehlende Abrechnungsbefugnis des Klägers gegenüber der Abrechnungsstelle vorliegend nicht auf das Vertragsverhältnis dergestalt durch, als dass er dadurch Weisungen zeitlicher oder tatsächlicher Art in der Ausführung seiner Tätigkeit unterworfen ist. Die Beigeladene zu 1) erhält als Gegenleistung für die Durchführung der Abrechnung (und die Überlassung der Räumlichkeiten) 30% der Vergütung gegenüber der Abrechnungsstelle. Ansonsten schlägt sich deren Abrechnungsbefugnis nicht weiter auf das Vertragsverhältnis zum Kläger durch.
Wenn und soweit die zudem Beklagte im Bescheid vom 28.02.2019 die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 24.03.2016, aaO, als Merkmal für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis wertet, so wird verkannt, dass die jeweils maßgeblichen Einzelfallumstände zu bewerten sind. Das Bundessozialgericht hat gerade nicht entschieden, dass Fallgruppen dergestalt zu bilden sind, als dass Physiotherapeuten generell abhängig beschäftigt sind. Denn zum einen muss es für jede berufliche Tätigkeit grundsätzlich möglich sein, sowohl abhängig beschäftigt, als auch freiberuflich tätig zu sein. Zum anderen führt das BSG, aaO, Rn. 30 aus (Unterstreichungen eingefügt):
Auch frühere Rechtsprechung des 12. Senats des BSG zwingt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar hatte der Senat in seinem Urteil vom 14.9.1989 die Selbstständigkeit einer als „freien Mitarbeiterin“ eingesetzten Krankengymnastin bejaht (…). Maßgebend für die Beurteilung, ob Beschäftigung iS von § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV oder Selbstständigkeit vorliegt, sind jedoch – wie bereits oben unter A. 1. b) cc) (4) am Ende beschrieben – stets die konkreten Umstände des Einzelfalls. Die Umstände des seinerzeitigen Falles unterscheiden sich vom vorliegend zu entscheidenden Fall bereits wesentlich dadurch, dass die dortige Krankengymnastin „selbst Patienten angenommen“ hatte (…). Demgegenüber sprechen im vorliegenden Fall – wie dargelegt – gewichtige Umstände dafür, dass die Beigeladene zu 1. in die betriebliche Organisation der Klägerin derart eingebunden war, dass dies nur die Annahme von Beschäftigung rechtfertigt.
Hinzu kommt, dass sich die dort zur Entscheidung stehende Fallkonstellation von der hiesigen insoweit unterschied, als dass – anders als hier – der Erstkontakt zu den Patienten ausschließlich über die Klägerin stattfand. Die dort Betroffene verfügte – ebenfalls anders als im vorliegenden Fall – über keine eigene Patientenkartei. Ebenfalls wurde im dort zur Entscheidung stehenden Fall vollumfänglich das Arbeitsmaterial gestellt, wohingegen hier der Kläger nur die Räumlichkeiten und ab und an eine Sprossenwand nutzt.
Warum zudem – wie vom Beklagten angeführt – der gleiche Betriebszweck in Form der Durchführung von physiotherapeutischen Leistungen für eine abhängige Beschäftigung sprechen soll, erschließt sich der Kammer nicht. Insoweit ist es in nahezu jedem Statusfeststellungsverfahren üblich, dass eine Berufsgruppe mit der gleichen Berufsgruppe entsprechende Verträge schließt und daher der gleiche Betriebs-/Geschäftszweck gegeben ist.
Schließlich ist ergänzend auszuführen, dass sich auch aus dem seitens des BSG entschiedene „Honorararzt-Fall“, vgl. Urteil vom 04.06.2019, Az. B 12 R 11/18, keine andere Beurteilung ergibt. Der Entscheidung lag ein Vertrag zugrunde. Die Ärztin verpflichtete sich, die im Krankenhaus zur Anwendung kommenden organisatorischen Regelungen einzuhalten und sich hierbei an die Anweisungen und Vorgaben der Chefärzte zu halten. Zudem behandelte die dort Betroffene – anders hier – keine eigenen Patienten, sondern die des Krankenhauses. Sie war im Dienstplan der Kliniken eingetragen und arbeitete arbeitsteilig mit anderen Mitarbeitern zusammen. Dies ist hier ebenfalls nicht der Fall.
Zusammenfassend überwiegen daher zur Überzeugung der Kammer folgende Gesichtspunkte, die für eine selbstständige Tätigkeit sprechen, wobei ersten beiden besonderes Gewicht zukommt.
– Eigene Patientenakquise
– Selbstständige Terminvergabe
– Eigener Terminkalender
– Eigene Patientenkartei
– Keine Weisungen in Bezug auf Art und Zeit der Ausführung; unterliegt nicht den Praxisregeln und dortigen Arbeitsabläufen
– Eigene Werbung
– Unternehmerrisiko, insbesondere wegen 3.6 des Vertrages
– Eigenes Arbeitsmaterial in geringem Umfang Für eine abhängige Beschäftigung sprechen hingegen:
– Abrechnung der Kassenpatienten über die Beigeladene zu 1) und insoweit Eingliederung in die Organisationsstrukturen
– Nutzung der Räumlichkeiten und größerer Therapiegeräte.
Nach alledem überwiegen zur Überzeugung der Kammer die typusbildenden Merkmale, die für das Vorliegen einer selbstständigen Tätigkeit sprechen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten waren daher aufzuheben und der Klage stattzugeben.
Abschließend weißt die Kammer vor dem Hintergrund weiterer anhängiger „Physiotherapeutenfälle“ die Beteiligten darauf hin, dass die Frage des Bestehens der Versicherungspflicht unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles festzustellen ist. Im hiesigen Einzelfall konnte sich die Kammer aufgrund der vorstehend dargelegte Gründe nicht vom Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung und damit der Versicherungspflicht überzeugen. Anders wäre die Gewichtung ausgefallen, hätte der Kläger auch Patienten der Beigeladenen zu 1.) und nicht nur eigene behandelt. Ebenfalls war die Führung eines eigenen Terminkalenders und einer eigenen Patientenkartei ausschlaggebend.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens. Die Kosten der Beigeladenen sind mangels Antragstellung nicht zu erstatten.


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