Arbeitsrecht

Stufenzuordnung TV-L – Freizügigkeit – Gleichbehandlung

Aktenzeichen  6 AZR 232/17

Datum:
29.4.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BAG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BAG:2021:290421.U.6AZR232.17.0
Normen:
§ 16 Abs 2 S 3 TV-L
§ 16 Abs 2 S 2 TV-L
Art 45 Abs 1 AEUV
Art 3 GG
Spruchkörper:
6. Senat

Leitsatz

1. Die bei der Stufenzuordnung anlässlich einer Einstellung in § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L vorgesehene, anders als in Satz 2 dieser Tarifnorm, auf die Stufe 3 begrenzte Anrechnung einschlägiger Berufserfahrungszeiten verstößt gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 Abs. 1 AEUV und ist unanwendbar, soweit der Arbeitnehmer diese Erfahrung in einem vorherigen Arbeitsverhältnis mit einem anderen Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat und damit im Anwendungsbereich des Unionsrechts erworben hat. Solche Berufserfahrungszeiten sind uneingeschränkt zu berücksichtigen.
2. Hat der Arbeitnehmer die einschlägige Berufserfahrung ausschließlich in einem vorherigen Arbeitsverhältnis zu einem anderen inländischen Arbeitgeber erworben, verbleibt es hingegen bei der Nichtberücksichtigung dieser Zeiten gemäß § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L, soweit sie über drei Jahre hinausgehen. Der differenzierten Behandlung dieser unterschiedlichen Sachverhalte sowohl innerhalb des § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L als auch im Verhältnis zu Satz 2 dieser Tarifnorm stehen weder Unionsrecht noch nationales Verfassungsrecht entgegen.

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Lüneburg, 3. Dezember 2015, Az: 4 Ca 150/15 E, Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Niedersachsen, 9. März 2017, Az: 4 Sa 86/16 E, Urteil

Tenor

1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 9. März 2017 – 4 Sa 86/16 E – aufgehoben.
Die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Lüneburg vom 3. Dezember 2015 – 4 Ca 150/15 E – wird zurückgewiesen.
2. Das beklagte Land hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über die Berücksichtigung von Berufserfahrungszeiten aus einem vorherigen Arbeitsverhältnis in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union bei der Stufenzuordnung im Entgeltsystem des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L).
2
Die Klägerin, die deutsche Staatsangehörige ist, war von 1997 bis 2014 ununterbrochen in Frankreich an verschiedenen Collèges-Lycée in den Klassen sechs bis zwölf als Lehrerin tätig. Weniger als sechs Monate nach dem Ende dieser Tätigkeit trat die Klägerin zum 8. September 2014 als Lehrerin in den Schuldienst des beklagten Landes ein. Im Arbeitsvertrag ist vereinbart, dass auf das Arbeitsverhältnis der Parteien der TV-L in seiner jeweils aktuellen Fassung anzuwenden ist. Die bei der Einstellung der Klägerin vorzunehmende Stufenzuordnung richtete sich nach dem TV-L in der zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung des Änderungstarifvertrags Nr. 7 vom 9. März 2013.
3
Das beklagte Land erkannte die in Frankreich erworbene Berufserfahrung der Klägerin als einschlägig an. Die Klägerin erhielt darum ab dem Tag ihrer Einstellung Entgelt nach der Stufe 3 der Entgeltgruppe 11 TV-L und stieg im September 2017 regulär in die Stufe 4 dieser Entgeltgruppe auf. Bereits mit Schreiben vom 20. Oktober 2014 bat sie um Überprüfung ihrer Stufenzuordnung und beanspruchte Entgelt nach der Stufe 5 der Entgelttabelle ab dem Tag ihrer Einstellung. Dies lehnte das beklagte Land ab.
4
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die Privilegierung der beim selben Arbeitgeber erworbenen einschlägigen Berufserfahrung bei der Stufenzuordnung in § 16 Abs. 2 TV-L verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG und die unmittelbar wirkenden unionsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeitsbestimmungen in Art. 45 AEUV sowie Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011.
5
Die Klägerin hat beantragt
        
festzustellen, dass das beklagte Land dazu verpflichtet ist, ihr rückwirkend ab 8. September 2014 Entgelt nach Stufe 5 der Entgeltgruppe 11 TV-L zu gewähren nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten auf die Bruttodifferenzbeträge ab jeweiliger monatlicher Fälligkeit, frühestens ab Klagezustellung.
6
Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat die Ansicht vertreten, die in § 16 Abs. 2 TV-L enthaltene, auf der Staatsangehörigkeit beruhende mittelbare Benachteiligung sei gerechtfertigt. Die Regelung bezwecke in zulässiger Weise, den Besitzstand insbesondere zuvor beim selben Arbeitgeber befristet Beschäftigter zu wahren.
7
Das Arbeitsgericht hat dem Feststellungsantrag stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat ihn auf die Berufung des beklagten Landes abgewiesen. In dem von der Klägerin angestrengten Revisionsverfahren, mit dem sie die Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils erreichen möchte, hat der Senat mit Beschluss vom 18. Oktober 2018 (- 6 AZR 232/17 (A) -) den Gerichtshof der Europäischen Union – EuGH – nach Art. 267 AEUV um die Beantwortung einer Frage zur Auslegung von Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ersucht. Hierüber hat der EuGH mit Urteil vom 23. April 2020 (- C-710/18 -) entschieden.


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