Arbeitsrecht

Teilweise stattgebenden Kammerbeschluss: Parallelentscheidung

Aktenzeichen  1 BvR 2785/09

Datum:
15.5.2012
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2012:rk20120515.1bvr278509
Spruchkörper:
1. Senat 3. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend BAG, 19. März 2009, Az: 8 AZR 693/07, Urteilvorgehend Hessisches Landesarbeitsgericht, 25. Juli 2007, Az: 2 Sa 640/07, Urteil

Tenor

1. Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 19. März 2009 – 8 AZR 693/07 – und des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 25. Juli 2007 – 2 Sa 640/07 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Hessische Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
3. …
4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 12.000 € (in Worten: zwölftausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die durch hessisches Landesgesetz angeordnete Überleitung des Arbeitsverhältnisses des
Beschwerdeführers auf einen neuen Arbeitgeber in Vorbereitung und Umsetzung der Privatisierung der Universitätskliniken Gießen
und Marburg.

2
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen Urteile des Landesarbeitsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts, durch die eine Klage
auf Feststellung des Fortbestands seines Arbeitsverhältnisses mit dem Land Hessen, dem Beklagten des Ausgangsverfahrens, abgewiesen
wurde. Mittelbar wendet sich die Verfassungsbeschwerde gegen das hessische Gesetz über die Errichtung des Universitätsklinikums
Gießen und Marburg (UK-Gesetz) vom 16. Juni 2005 (GVBl I S. 432; im Folgenden: UKG).

3
1. Das Gesetz über die Errichtung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg regelt in § 1 Abs. 3 Satz 1, dass Rechte, Pflichten
und Zuständigkeiten der bislang selbständigen Universitätskliniken Gießen und Marburg im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf
das Universitätsklinikum Gießen und Marburg als neu errichtete Anstalt des öffentlichen Rechts übergehen. § 3 Abs. 1 UKG bestimmt
die neue rechtliche Zuordnung der nichtwissenschaftlichen Beschäftigten der beiden Kliniken. Damit wurden die bisher in der
Krankenversorgung und Verwaltung der beiden Kliniken tätigen nichtwissenschaftlichen Beschäftigten, die Arbeitnehmerinnen,
Arbeitnehmer oder Auszubildende des Landes waren, von der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Philipps-Universität Marburg
“zum Universitätsklinikum Gießen und Marburg versetzt und in den Anstaltsdienst übergeleitet”. Dazu gehörte der Beschwerdeführer.
Diejenigen, die Beschäftigte im Anstaltsdienst der beiden Kliniken waren, wurden ebenfalls Beschäftigte des Universitätsklinikums
Gießen und Marburg. Für beide Gruppen regelt § 3 Abs. 1 Satz 3 UKG, dass das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (unmittelbar
kraft Gesetzes) in die Rechte und Pflichten der Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse eintritt.

4
Anfang Juli 2005 informierte das Universitätsklinikum Gießen und Marburg die nichtwissenschaftlichen Beschäftigten darüber,
dass es mit Wirkung vom 1. Juli 2005 als neuer Arbeitgeber aufgrund des Gesetzes über die Errichtung des Universitätsklinikums
Gießen und Marburg in die Rechte und Pflichten der mit den Beschäftigten bestehenden Arbeitsverhältnisse eintrete.

5
Am 1. Dezember 2005 verordnete die Hessische Landesregierung aufgrund § 5 UKG die Umwandlung des Universitätsklinikums Gießen
und Marburg in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (UGM-GmbH). Der Formwechsel wurde mit der Eintragung in das Handelsregister
am 2. Januar 2006 wirksam. Mit Wirkung zum 1. Februar 2006 verkaufte das Land 95 % der Geschäftsanteile der UGM-GmbH an die
R… AG.

6
2. Der Beschwerdeführer war seit 1992 beim Land beschäftigt, zuletzt als nichtwissenschaftlich tätiger Arbeiter des Klinikums
der Philipps-Universität Marburg. Mit seiner im Ausgangsverfahren erhobenen Klage beantragte er zuletzt festzustellen, dass
sein Arbeitsverhältnis mit dem Land Hessen über den 1. Juli 2005 hinaus fortbesteht.

7
Das Arbeitsgericht gab der Klage statt. Auf die Berufung des beklagten Landes änderte das Landesarbeitsgericht die erstinstanzliche
Entscheidung und wies die Klage ab. Die hiergegen eingelegte Revision des Beschwerdeführers blieb beim Bundesarbeitsgericht
erfolglos.

8
Sowohl Landesarbeitsgericht als auch Bundesarbeitsgericht gingen davon aus, dass dem Beschwerdeführer weder aus dem Gesetz
über die Errichtung des Universitätsklinikums Gießen und Marburg selbst noch aus anderen gesetzlichen Bestimmungen ein Widerspruchsrecht
gegen die Überleitung seines Arbeitsverhältnisses zugestanden habe. Der gesetzlich angeordnete Übergang des Arbeitsverhältnisses
sei auch ohne Einräumung eines solchen Rechts wirksam gewesen. Die Nichteinräumung eines Widerspruchsrechts verstoße weder
gegen § 613a Abs. 6 BGB, noch seien Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt. Auch europäischem Recht widerspreche die zwingend
angeordnete Überleitung der Arbeitsverhältnisse nicht.

9
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts “auf freie Wahl bzw. Beibehaltung
des Arbeitsplatzes aus Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Würde des Menschen) sowie Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeines
Persönlichkeitsrecht)” und seines grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

10
Der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, das Bundesministerium der Justiz sowie die Hessische Landesregierung
und der Hessische Landtag haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

II.
11
Soweit sich der Beschwerdeführer mittelbar gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG wendet, liegen Gründe für die Annahme der Verfassungsbeschwerde
nicht mehr vor (1). Hinsichtlich der Urteile des Landesarbeitsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts ist die Verfassungsbeschwerde
hingegen zur Entscheidung anzunehmen (2).

12
1. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde mittelbar gegen die gesetzliche Überleitungsregelung in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG
richtet, sind Gründe für ihre Annahme im Sinne von § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht mehr gegeben.

13
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 – 1 BvR 1741/09 – (BVerfGE 128, 157)
die Unvereinbarkeit von § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG mit Art. 12 Abs. 1 GG bereits mit Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG)
festgestellt. Für eine wiederholte entsprechende Entscheidung besteht kein Raum und kein Bedürfnis (vgl. BVerfG, Beschluss
der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2010 – 1 BvR 395/09 -, juris, Rn. 6).

14
2. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG
liegen vor, soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Urteile des Landesarbeitsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts
richtet. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen, weil ihre Annahme zur Durchsetzung der Grundrechte
des Beschwerdeführers auf freie Wahl des Arbeitsplatzes aus Art. 12 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Demgegenüber wird der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Entscheidungen nicht in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter
aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

15
a) Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung vom 25. Januar 2011 – 1 BvR 1741/09 – (BVerfGE 128, 157) die für
die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zur Reichweite des Grundrechts auf freie
Wahl des Arbeitsplatzes aus Art. 12 Abs. 1 GG bei einer gesetzlich angeordneten Überleitung von Arbeitsverhältnissen entschieden
(§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

16
Bezüglich der angegriffenen Urteile ist die Verfassungsbeschwerde zulässig, obgleich der Landesgesetzgeber dem Senatsbeschluss
vom 25. Januar 2011 zwischenzeitlich Rechnung getragen und den betroffenen Beschäftigten mit dem am 29. Dezember 2011 in Kraft
getretenen Gesetz zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (GVBl I S. 816) ein Rückkehrrecht
in den Landesdienst eingeräumt hat. Die Annahme eines fortwirkenden Rechtsschutzbedürfnisses für eine Entscheidung über die
Verfassungsbeschwerde rechtfertigt sich hier ausnahmsweise aus einer fortbestehenden Beschwer mit den Kosten des Ausgangsverfahrens.
Eine solche Kostenbeschwer vermag zwar grundsätzlich ein Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde nicht
zu begründen (vgl. etwa BVerfGE 50, 244 ), weil sonst – trotz nicht mehr bestehender Beschwer in der Hauptsache –
lediglich wegen des Kosteninteresses eine verfassungsgerichtliche Prüfung vorzunehmen wäre. Im vorliegenden Fall ist die Feststellung
eines Verfassungsverstoßes jedoch bereits in einem Parallelverfahren durch den Senat erfolgt.

17
Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

18
Die in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG geregelte Überleitung seines Arbeitsverhältnisses in den Anstaltsdienst des Universitätsklinikums
Gießen und Marburg stellt eine unverhältnismäßige Beschränkung des durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Interesses des Beschwerdeführers
an der Beibehaltung des gewählten Vertragspartners dar, soweit die gesetzliche Übergangsregelung keine Möglichkeit bot, den
Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zum Land geltend machen zu können (vgl. BVerfGE 128, 157 ). Die Entscheidungen
des Landesarbeitsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts beruhen auf der insofern unvollständigen und deshalb für mit dem Grundgesetz
unvereinbar erklärten Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG.

19
b) Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt nicht vor, soweit das Bundesarbeitsgericht von einem Vorabentscheidungsersuchen
an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV abgesehen hat.

20
Das Bundesarbeitsgericht ist verfassungsrechtlich unbedenklich davon ausgegangen, dass ein wie in § 613a Abs. 6 BGB normiertes
Widerspruchsrecht nicht auf europarechtliche Grundlagen zurückgeführt werden kann. In Auswertung der Rechtsprechung des Gerichtshofs
hat das Bundesarbeitsgericht dieses Ergebnis in vertretbarer Weise für so eindeutig gehalten, dass eine Vorlage nach Art.
267 Abs. 3 AEUV unterbleiben konnte. Aufgrund der verfassungskonformen Verneinung eines europarechtlich fundierten Widerspruchsrechts
im Sinne des § 613a Abs. 6 BGB war die weiter vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage nach der Anwendbarkeit der Richtlinie
2001/23/EG auf einen gesetzlichen Übergang von Arbeitsverhältnissen nicht entscheidungserheblich, so dass das Bundesarbeitsgericht
auch insoweit von einer Vorlage an den Gerichtshof absehen konnte (vgl. BVerfGE 128, 157 ).

III.
21
1. Die Urteile des Landesarbeitsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts sind aufzuheben. Das Ausgangsverfahren wird in die
Berufungsinstanz zurückverwiesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Der Anordnung einer Aussetzung des Ausgangsverfahrens bedarf es –
anders als im Verfahren 1 BvR 1741/09 – nicht mehr, da der Landesgesetzgeber mit dem am 29. Dezember 2011 in Kraft getretenen
Gesetz zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (GVBl I S. 816) zwischenzeitlich auf
den verfassungsgerichtlichen Regelungsauftrag reagiert hat.

22
2. Die auf § 34a Abs. 3 BVerfGG beruhende Anordnung der Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers entspricht
der Billigkeit. Soweit sich der Beschwerdeführer mittelbar gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 UKG wendet, sind die Annahmevoraussetzungen
einzig wegen der zwischenzeitlichen Entscheidung des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 – 1 BvR 1741/09 – (BVerfGE 128, 157)
entfallen. Ohne diese Entscheidung wäre die Verfassungsbeschwerde auch insoweit erfolgreich gewesen.

23
3. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren folgt aus § 37 Abs.
2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.

24
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.


Ähnliche Artikel

Mobbing: Rechte und Ansprüche von Opfern

Ob in der Arbeitswelt, auf Schulhöfen oder im Internet – Mobbing tritt an vielen Stellen auf. Die körperlichen und psychischen Folgen müssen Mobbing-Opfer jedoch nicht einfach so hinnehmen. Wir klären Rechte und Ansprüche.
Mehr lesen

Das Arbeitszeugnis

Arbeitszeugnisse dienen dem beruflichen Fortkommen des Arbeitnehmers und helfen oft den Bewerbern in die engere Auswahl des Bewerberkreises zu gelangen.
Mehr lesen


Nach oben