Arbeitsrecht

Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrecht

Aktenzeichen  M 10 K 18.1011

Datum:
19.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 23939
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 2, § 6
AufenthG § 60a Abs. 2c S. 2, 3

 

Leitsatz

1 Die Haft bedeutet nicht, dass der Unionsbürger während dieser Zeit nicht weiterhin in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats eingegliedert wäre, sofern davon auszugehen ist, dass er innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Haftentlassung wieder eine Beschäftigung finden wird. Unionsbürger, die nach der Haftentlassung eine Beschäftigung ausüben wollen, können sich daher auch auf die für Arbeitnehmer geltenden Freizügigkeitsrechte berufen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
3 Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bildet bei Straftaten, die auf einer Suchtmittelabhängigkeit des Ausländers beruhen, die erfolgreiche Absolvierung einer Therapie die zwingende Voraussetzung für ein Entfallen der Wiederholungsgefahr (BayVGH BeckRS 2016, 40758). (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
4 Ein Wohlverhalten unter dem Druck staatlicher Kontrolle lässt nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 7. Februar 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlusts des Rechts der Klägerin auf Einreise und Aufenthalt ist § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU.
2. Formelle Bedenken gegen den streitgegenständlichen Bescheid sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
3. Der angegriffene Bescheid ist auch materiell rechtmäßig; die Beklagte hat die Verlustfeststellung in zutreffender Weise auf der Grundlage des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ausgesprochen.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden.
a) Die Klägerin war jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung freizügigkeitsberechtigt im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 1, § 2 Abs. 1 FreizügG/EU.
Ob die Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU das tatsächliche Vorliegen eines Freizügigkeitstatbestands voraussetzt (bejahend: BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – BeckRS 2015, 44249; Kurzidem in BeckOK, AuslR, 21. Ed. 1.2.2018, FreizügG/EU, § 6 Rn. 2; verneinend: Cziersky-Reis in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 6 FreizügG/EU Rn. 8), kann im vorliegenden Fall offenbleiben, da die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung gegeben waren.
Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger das Recht auf Einreise und Aufenthalt. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen. Dies gilt gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU auch für Unionsbürger, die sich zur Arbeitssuche aufhalten, für bis zu 6 Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.
Als ungarische Staatsangehörige ist die Klägerin Unionsbürgerin. Im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung am 7. Februar 2018 war die Klägerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Vor der Begehung der Straftaten war sie als Reinigungskraft beschäftigt (Strafurteil vom 21.6.2017, Bl. 137 der Behördenakte) und hielt sich somit als Arbeitnehmerin im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU im Bundesgebiet auf. Diese Arbeitnehmerstellung ist auch durch die Inhaftierung der Klägerin nicht aufgehoben worden.
Die Haft bedeutet nicht, dass der Unionsbürger während dieser Zeit nicht weiterhin in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats eingegliedert wäre, sofern davon auszugehen ist, dass er innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Haftentlassung wieder eine Beschäftigung finden wird. Unionsbürger, die nach der Haftentlassung eine Beschäftigung ausüben wollen, können sich daher auch auf die für Arbeitnehmer geltenden Freizügigkeitsrechte berufen (Hailbronner, AuslR, Stand: März 2017, § 2 Rn. 46; Dienelt in Bergmann/ders., 12. Aufl. 2018, FreizügG/EU, § 2 Rn. 135, jeweils unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 10.2.2000 – C-340/97 – NVwZ 2000, 1029; vgl. auch Oberhäuser in NK-AuslR, 2. Aufl. 2016, Freizügigkeitsgesetz/EU, § 2 Rn. 36, Fn. 135).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze war im Zeitpunkt der Behördenentscheidung, zu dem die Klägerin noch inhaftiert war, davon auszugehen, dass die Klägerin nach ihrer Haftentlassung wieder arbeiten wollen würde und nach einem angemessenen Zeitraum für die Arbeitssuche (vgl. hierzu auch das Freizügigkeitsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU) auch wieder Arbeit finden würde. Da die Klägerin nach Aktenlage bis zu ihrer Inhaftierung jahrelang in Deutschland gearbeitet hat, war nicht ersichtlich, warum sie nach ihrer Haftentlassung nicht wieder eine Beschäftigung – jedenfalls als Reinigungskraft – finden sollte.
b) Die Beklagte hat den Verlust des Rechts der Klägerin auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in zutreffender Weise aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt.
Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um eine Verlustfeststellung zu begründen, § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU.
Nach einem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts im Sinne des § 4a FreizügG/EU darf die Entscheidung über die Verlustfeststellung jedoch nur aus schwerwiegenden Gründen (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU) getroffen werden.
Diese Einschränkung nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU greift im vorliegenden Fall jedoch nicht, da sich die Klägerin im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der Behördenentscheidung (s. hierzu: Kurzidem, a.a.O., Rn. 17) nicht 5 Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Die Kontinuität des Aufenthalts der Klägerin im Bundesgebiet (seit 18.9.2011) ist mit Antritt der Haftstrafe (am 13.4.2016) unterbrochen; im Zeitpunkt der Behördenentscheidung am 7. Februar 2018 war der Fünfjahreszeitraum daher noch nicht abgelaufen. Zeiträume der Verbüßung einer Freiheitsstrafe dürfen nicht für den Zweck des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts berücksichtigt werden (EuGH, U.v.16.1.2014 – C-378/12 – NVwZ-RR 2014, 247). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Bevollmächtigten der Klägerin angeführten Rechtsprechung des EuGH, da diese gerade Fälle des Daueraufenthaltsrechts in den Blick nimmt.
Nach Auffassung des Gerichts lassen die Umstände, die den von der Klägerin begangenen Straftaten zugrunde gelegen sind, ein persönliches Verhalten erkennen, welches eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere, die Grundinteressen der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU darstellt.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Wiederholungsgefahr ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, U.v. 29.4.2004 – C-482/01 und C-493/01 Orfanopoulos Olivieri – EuZW 2004, 402).
Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, Entscheidung v. 27.10.1977 – 30/77 „Bouchereau“ – BeckRS 2004, 73063). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – NVwZ 2010, 389); bei gewichtigeren Straftaten reicht danach eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Straftatbegehung aus, um eine solche Gefährdung zu begründen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – BeckRS 2013, 47815). Aus den verwertbaren Straftaten sowie den sonstigen hinzutretenden Umständen ist also prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung erneuter Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ist.
Einer Strafaussetzungsentscheidung kommt zwar eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr daran aber nicht gebunden; dabei bedarf es jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – NVwZ 2017, 229). Hier ist zu berücksichtigen, dass vorzeitige Haftentlassung und Verlustfeststellung unterschiedliche Zwecke verfolgen und deshalb unterschiedlichen Regeln unterliegen: Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es bei der Verlustfeststellung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Verlustfeststellung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Maßgeblich ist daher, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potenzial, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (stRspr zur Ausweisung, vgl. z.B.: BVerwG, U.v. 15.1.2013, a.a.O., juris Rn. 18f.; jüngst: BayVGH, B.v. 14.1.2019 – 10 ZB 18.1413 – BeckRS 2019, 990 m.w.N.; BayVGH, B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – BeckRS 2019, 7299: Übertragung dieser Rechtsprechung ohne Weiteres auf die Verlustfeststellung).
Gemessen an diesen Vorgaben ist bei der Klägerin nach Auffassung der Kammer prognostisch eine Wiederholungsgefahr gegeben.
Zwar hat die Klägerin die Straftaten nach ihrer Ergreifung gestanden und an der Aufklärung maßgeblich mitgewirkt; sie hat auch im Strafverfahren Reue gezeigt. Es handelt sich bei ihr auch um die erste Strafhaft, so dass von einer gewissen Abschreckungswirkung auszugehen ist. Die Klägerin war auch noch nicht einschlägig vorbestraft. Das Gericht verkennt zudem nicht, dass die Klägerin sich bemüht, ihr Leben in den Griff zu bekommen und hierzu erste Schritte unternommen hat. Sie ist dabei, ihre Schulden zu bereinigen, und bemüht sich um ein abstinentes Leben. Zur Wiedereingliederung in die Arbeitswelt arbeitet sie derzeit im Rahmen einer Beschäftigungsmaßnahme in einem Recyclingbetrieb.
Aber diese ersten Schritte zu einem abstinenten und schuldenfreien Leben genügen nicht, um prognostisch eine Wiederholungsgefahr auszuschließen.
Der fünffach begangene Bandendiebstahl wiegt schwer. Das planmäßige Vorgehen bei der Begehung der Straftaten lässt eine erhebliche kriminelle Energie der Klägerin erkennen. Aus dem Strafurteil ist auch nicht erkennbar, dass die Klägerin in die Straftaten getrieben oder gar dazu gezwungen worden ist.
Darüber hinaus hat die Klägerin die Straftaten jeweils unter Einfluss von Medikamenten und teilweise nach Alkoholkonsum begangen; diese von der Klägerin selbst eingeräumte und auch ärztlich diagnostizierte Suchtmittelabhängigkeit ist nicht abschließend bearbeitet. Die von der Klägerin begonnene Therapie über die Dauer von 16 Wochen ist nach 6 Wochen mangels Kostenübernahme durch die Krankenkasse abgebrochen worden. Auch wenn der Abbruch der Therapie nicht von der Klägerin verschuldet worden ist, ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Suchtproblematik nicht vollständig bearbeitet ist. Die während der Haft durchgeführten Beratungsgespräche mit einer Suchtberatung sowie der (bisher) einmalige Termin bei der Suchtberatungsstelle Condrobs am 16. September 2019 führen zu keinem anderen Ergebnis.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – BeckRS 2016, 4..0758 Rn. 8 m.w.N.) bildet bei Straftaten, die auf einer Suchtmittelabhängigkeit des Ausländers beruhen, die erfolgreiche Absolvierung einer Therapie die zwingende Voraussetzung für ein Entfallen der Wiederholungsgefahr.
Zwar handelt es sich im konkreten Fall weder um Beschaffungskriminalität noch hat die Klägerin die Straftaten unter akuter Intoxikation begangen (vgl. hierzu die Ausführungen im Strafurteil vom 21.6.2017, Bl. 183 der Behördenakte). Sie hat (lediglich) Alprazolam-Tabletten, überwiegend kombiniert mit Alkohol bzw. mit der Einnahme eines Antidepressivums, in einem Umfang, der ihrer damaligen Gewöhnung entsprach, eingenommen. Aber auch unter Berücksichtigung dieses Umstands hält das Gericht für den konkreten Fall an der dargestellten Rechtsprechung fest, dass von einem Wegfall einer Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden kann, solange eine Therapie nicht erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht worden ist.
Zum einen hält das Gericht diese Rechtsprechung, die sich – soweit ersichtlich – auf Alkohol- und Drogenmissbrauch bezieht, auch für den Fall des hier in erster Linie vorliegenden Medikamentenmissbrauchs, für übertragbar (so auch ohne Weiteres vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung über die Beschwerde gegen den Prozesskostenhilfebeschluss in diesem Verfahren angenommen, s. B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.1081 – BeckRS 2019, 13738). Denn Benzodiazepine können besonders bei längerer Einnahme auch zu einer seelischen und körperlichen Abhängigkeit führen (vgl. https://www.onmeda.de/Wirkstoffgruppe/Benzodiazepine.html – abgerufen am 23.9.2019). Ein grundlegender Unterschied zu einem Alkohol- oder Drogenmissbrauch, der eine unterschiedliche Behandlung dieser Suchterkrankungen rechtfertigen könnte, ist für das Gericht nicht erkennbar, zumal die Klägerin vor ihrer Inhaftierung ohnehin zusätzlich zum Medikamentenmissbrauch regelmäßig Alkohol konsumiert hat.
Zum anderen ist diese Rechtsprechung entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten der Klägerin auch auf den hier vorliegenden Fall anwendbar, dass die Straftaten nicht „wegen“ der Medikamente bzw. Drogen oder unter akuter Intoxikation, sondern lediglich „unter“ Einfluss der ohnehin regelmäßig eingenommenen Medikamente bzw. Drogen begangen worden sind (so im Ergebnis auch BayVGH, B.v. 6.6.2019, a.a.O.). Die Benzodiazepine, die die Klägerin eingenommen hatte, sind sogenannte Psychopharmaka; sie wirken im Gehirn auf das Befinden und die Stimmungslage. Sie wirken insgesamt beruhigend, erregungs- und aggressionsdämpfend, entspannend, angstlösend und schlafanstoßend (vgl. https://www.onmeda.de/Wirkstoffgruppe/Benzodiazepine.html – abgerufen am 23.9.2019). Insbesondere die beruhigende, erregungsdämpfende und angstlösende Wirkung des eingenommenen Medikaments hat nach Einschätzung des Gerichts die Begehung der Straftaten begünstigt. Sie haben die Klägerin empfänglicher für eine Beeinflussung durch andere Personen im Hinblick auf die Begehung der Straftaten gemacht und etwaige straftatbezogene Ängste der Klägerin gedämpft, so dass davon auszugehen ist, dass die Straftaten – neben dem teilweisen Alkoholkonsum – auch auf der Medikamenteneinnahme beruhen.
Auch wenn diese ständige Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in ihrer Pauschalität auf den konkreten Fall nicht anwendbar sein sollte, ist die unbearbeitete Medikamentenabhängigkeit – neben der Tatsache, dass die Klägerin in ihrem Leben einige verschiedene Drogen und Alkohol konsumiert hat – jedenfalls ein Faktor (von mehreren), der im Rahmen der Gefahrenprognose gegen die Klägerin spricht:
Die Tatsache, dass die Klägerin zwischen dem Abbruch der Therapie im April 2018 und dem Termin bei Condrobs kurz vor der mündlichen Verhandlung in diesem Verfahren keine Schritte in Richtung auf eine Therapie unternommen hat, lässt bereits Zweifel an einem ernsthaften Bemühen der Klägerin um ein abstinentes Leben aufkommen. Gegen eine positive Sozialprognose spricht weiterhin, dass die Klägerin entgegen ihres Sachvortrags auch derzeit noch nicht vollständig abstinent ist; sie nimmt nach wie vor – wenn auch auf ärztliche Anweisung – Alprazolam ein. Hinzu kommt, dass die im Rahmen der Schuldenbereinigung zwar reduzierten, aber immer noch erheblichen Schulden einen weiteren Risikofaktor für die Begehung weiterer Straftaten darstellen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die derzeit als positiv zu wertenden Entwicklungen im Leben der Klägerin alle auf staatliche oder sonstige Unterstützungsleistungen zurück zu führen sind. Die Klägerin lebt in einer therapeutischen Wohngemeinschaft, in der sie Hilfestellung erhält, die Schulden werden im Rahmen eines Privatinsolvenzverfahrens bereinigt und ihren Job hat sie nicht auf dem freien Arbeitsmarkt erhalten, sondern es handelt sich um eine soziale Beschäftigungsmaßnahme. Die Klägerin hat sich angesichts dessen (noch) nicht außerhalb eines geschützten Settings bewährt. Das Gericht ist nach dem Eindruck der Klägerin aus der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugt, dass es der Klägerin ohne ein geschütztes Umfeld gelingen wird, sich straffrei zu verhalten, zumal sie nicht über einen sozialen Empfangsraum verfügt, der ihr unterstützend und stabilisierend unter die Arme greifen könnte.
Auch der positive Bericht des Bewährungshelfers vom 10. April 2019 ändert hieran nichts. Ein Wohlverhalten unter dem Druck staatlicher Kontrolle lässt nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen (BayVGH, B.v. 17.12.2015, a.a.O.).
c) Die Entscheidung der Beklagten über die Verlustfeststellung stellt sich auch unter Berücksichtigung der Umstände nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU als ermessensfehlerfrei dar.
Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Entscheidung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
Insbesondere hat die Beklagte im konkreten Fall die Belange der Klägerin zutreffend gewürdigt. Die Klägerin hat keine schützenswerten familiären oder sozialen Bindungen im Bundesgebiet. Die 40 Jahre alte Klägerin hält sich erst seit dem Jahr 2011 im Bundesgebiet auf und hat hier keine Familie. Mutter und Tochter leben vielmehr in Ungarn. Zudem ist von einer nachhaltigen Integration in Deutschland nicht auszugehen. Die Klägerin lebt derzeit von Arbeitslosengeld II und arbeitet lediglich im Rahmen einer Beschäftigungsmaßnahme seit 31. Juli 2019. Sie spricht nicht gut Deutsch und wurde wiederholt straffällig.
Die vorgetragene psychische Erkrankung der Klägerin führt zu keinem anderen Ergebnis. Die vorgelegten ärztlichen Atteste genügen schon nicht den Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.V.m. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU. Zudem ist in diesen Attesten eine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Erkrankung, die sich durch die Abschiebung nach Ungarn alsbald im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU verschlechtern würde, nicht substantiiert dargetan. Die Drohung der Klägerin, sie werde sich im Fall der Abschiebung umbringen, wird vielmehr in dem psychiatrischen Gutachten vom 20. Mai 2019, das als einziges der vorgelegten Atteste ausführlicher gehalten ist, als manipulativ und damit nicht überzeugend gewertet. Jedenfalls ist die Erkrankung der Klägerin in Ungarn behandelbar. Nach der Erkenntnislage (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 6.6.2019, a.a.O. m.w.N.) ist die Versorgung in Ungarn auch im Krankheitsfall gesichert. Ungarische Staatsbürger haben im Bedarfsfall Anspruch auf eine diesbezügliche Kostenübernahme. Auch lebensrettende Versorgung sowie Notfallversorgung sind in Ungarn gewährleistet. Im konkreten Fall bestätigt das psychiatrische Gutachten vom 20. Mai 2019 sogar, dass die von der Klägerin einzunehmenden Psychopharmaka in Ungarn erhältlich sind.
Die Beklagte hat auch in zutreffender Weise den Vortrag der Klägerin, der Haupttäter bedrohe sie in Ungarn, gewürdigt. Der Haupttäter befindet sich in Deutschland in Strafhaft.
4. Auch die von der Beklagten in Ziffer 2 des angegriffenen Bescheids auf der Grundlage von § 7 Abs. 2 Satz 5 und 6 FreizügG/EU getroffene Befristung der Sperre zur Wiedereinreise und zum Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet, die in der mündlichen Verhandlung von der Vertreterin der Beklagten auf 6 Jahre reduziert worden ist, ist insbesondere vor dem Hintergrund der fehlenden Bindungen der Klägerin im Bundesgebiet und der fehlenden Integration rechtlich nicht zu beanstanden.
5. Schließlich stellt sich auch Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids als rechtmäßig dar. Die verfügte Ausreisepflicht beruht auf § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU; die Ausreisefrist entspricht den Anforderungen des § 7 Abs. 1 Satz 3, Satz 4 FreizügG/EU. Die Abschiebung wurde zutreffend auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU angedroht. Der Abschiebung steht auch kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU entgegen. Eine Gefahr für Leib oder Leben in Ungarn hat die Klägerin nicht glaubhaft gemacht; nach den Ermittlungen der Beklagten befindet sich der Haupttäter der Straftat in Deutschland in Strafhaft. Auch die vorgetragene Erkrankung rechtfertigt nicht die Annahme eines Abschiebungsverbots im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU. Es wird gesetzlich vermutet (§ 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU), dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Die Klägerin hat im vorliegenden Fall diese Vermutung mangels Vorlage einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung, aus der sich eine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU ergibt, auch nicht widerlegt (siehe hierzu bereits oben).
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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