Baurecht

Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, baurechtliche Nachbarklage, Baugenehmigung für Mehrfamilienwohnhaus mit 6 Wohneinheiten und 7 Stellplätzen, Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplans, nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß, Zahl der Vollgeschosse, Wandhöhe, Kniestockhöhe, Baugrenze, Gebot der Rücksichtnahme

Aktenzeichen  W 5 S 21.1524

Datum:
27.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 2931
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80a Abs. 3
BayBO Art. 68 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1
BauGB § 30 Abs. 1
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Aufwendungen des Beigeladenen als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Landratsamts … vom 29. September 2021, mit welchem dem Beigeladenen die Baugenehmigung zum Neubau eines Mehrfamilienhauses erteilt wurde.
1. Die Antragsteller sind Miteigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. …2 der Gemarkung E …, in … E … Nordöstlich dieses Grundstücks liegt, nur durch die Erschließungsstraße „… … …“ getrennt, das Grundstück Fl.Nr. …8 der Gemarkung E … (Baugrundstück), auf dem das streitgegenständliche Vorhaben errichtet werden soll.
Das Baugrundstück und das Grundstück Fl.Nr. …2 der Antragsteller befinden sich im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans „…“ der Gemeinde E …, in der Fassung der 1. Änderung vom 29. Oktober 1980, in Kraft getreten am 20. November 1980. Dieser setzt hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ein Allgemeines Wohngebiet fest. Für das Baugrundstück werden hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung unter Nr. 3.1 festgesetzt „II Vollgeschoße (Z)“ als Höchstgrenze. Die Oberkante der letzten Vollgeschoßdecke darf max. 6,00 m, über vorhandenem, natürlichen Gelände, gemessen in der Gebäudemitte der talseitigen Gebäudewand, liegen. Festgesetzt wurden des Weiteren für das Baugrundstück eine vordere und eine hintere Baugrenze. Unter „9. Unzulässige Anlagen“ sind Kniestöcke über 0,30 m genannt.
2. Mit Bauantrag vom 1. Dezember 2020, eingegangen bei der Verwaltungsgemeinschaft M … am 22. Dezember 2020 und beim Landratsamt … am 15. Februar 2021, beantragte der Beigeladene die Erteilung der Baugenehmigung (unter vier Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans bzgl. der Geschossfläche, der Wandhöhe, der Zahl der Vollgeschosse und der Kniestockhöhe) zum Neubau eines Mehrfamilienwohnhauses mit sechs Eigentumswohnungen und sieben Stellplätzen auf dem Baugrundstück.
Mit Schreiben vom 3. März 2021 wandte sich die Bevollmächtigte der Antragsteller an das Landratsamt …, sprach sich gegen das Bauvorhaben des Beigeladenen aus und bat um Akteneinsicht. Mit Schreiben des Landratsamts … vom 15. März 2021 wurde der Antragstellerbevollmächtigten gegenüber erklärt, dass durch die Baumaßnahme auf dem Baugrundstück keine rechtlichen Gesichtspunkte öffentlich-rechtlich geschützter Belange des Grundstückes Fl.Nr. …2 berührt würden, die Nachbarbeteiligung entsprechend als nicht erforderlich anzusehen sei und die Akteneinsicht somit nicht erteilt werde.
Nach einer Besprechung zwischen Beigeladenem und Bauaufsichtsbehörde teilte der Beigeladene mit Schreiben vom 16. Juli 2021, eingegangen beim Landratsamt … am 26. August 2021, mit, dass das Gebäude 10 cm tiefer eingestellt worden sei und legte geänderte Baupläne mit Datum 1. August 2021 vor. Am 23. August 2021 beantragte der Beigeladene die Erteilung von Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans bzgl. der festgesetzten Wandhöhe von 6,00 m (geplant neu: 7,86 m; ursprünglich geplant: 8,00 m), der zulässigen Kniestockhöhe von 0,3 m (geplant: 1,50 m), der Überschreitung der Baugrenze Richtung Straße um 3,00 m und der Überschreitung der Grundflächenzahl von 0,40 (geplant: 0,432). Die beantragte Befreiung für die Geschossflächenzahl von 0,7 (geplant: 0,59; ursprünglich beantragt, 0,91) werde nicht mehr benötigt, ebenso nicht die beantragte Befreiung für drei Vollgeschosse, da jetzt nur noch zwei Vollgeschosse geplant seien.
Mit Bescheid vom 29. November 2021 erteilte das Landratsamt … dem Beigeladenen die begehrte Baugenehmigung zum Neubau eines Mehrfamilienwohnhauses mit sechs Eigentumswohnungen und sieben Stellplätzen auf dem Baugrundstück. Des Weiteren wurden Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans erteilt wegen abweichendem Kniestock, wegen der Baugrenzenüberschreitung und wegen der abweichenden Höheneinstellung im Bereich des Wohnhauses.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die erforderlichen Befreiungen hinsichtlich der Wandhöhe von 8,95 m statt 6,00 m, der Kniestockhöhe von 1,50 m statt 0,30 m, der Baugrenzenüberschreitung nach Südwesten durch einen Teil der Balkonanlage hätten erteilt werden können. Die Grundzüge der Planung seien durch die erteilten Befreiungen nicht berührt. Das planerische Konzept des Bebauungsplans werde durch die Befreiungen nicht gestört. Vom Grundkonzept des Bebauungsplans, welches sich durch die festgelegte Gruppe von Festsetzungen bestimme, würden nur untergeordnete Abweichungen im Wege der Befreiung erteilt. Durch die Befreiungen von den Festsetzungen der Wandhöhe und des Kniestocks werde die Möglichkeit geschaffen, die Anforderungen des Art. 48 BayBO realisieren zu können. Des Weiteren füge sich die geplante Firsthöhe in die vorhandene Bebauung ein. Somit werde im Rahmen der städtebaulichen Vertretbarkeit eine städtebaulich bessere Lösung möglich, als dies mit der Einhaltung der betreffenden Festsetzungen möglich wäre. Die Baugrenzenüberschreitung sei als geringfügig anzusehen. Die Festsetzungen, von denen abgewichen werde, besäßen keinen nachbarschützenden Charakter. Des Weiteren führten die Befreiungen der nicht nachbarschützenden Festsetzungen nicht zu unzumutbaren Beeinträchtigungen der Nachbarn. Die Abweichungen seien mit den öffentlichen Belangen vereinbar.
Eine Nachbarausfertigung der Baugenehmigung wurde den Antragstellern nicht zur Kenntnis gebracht. Mit Schreiben vom 3. November 2021 bat die Bevollmächtigte der Antragsteller das Landratsamt … um einen Abdruck der Baugenehmigung, ohne dass hierauf eine Antwort erfolgte.
3. Mit Schriftsatz vom 17. November 2021 ließen die Antragsteller durch ihre Bevollmächtigte gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 29. September 2021 beim Verwaltungsgericht Würzburg Klage erheben, mit dem Antrag, die Baugenehmigung des Landratsamts … vom 29. September 2021 aufzuheben (W 5 K 21.1483). Sie beantragten in diesem Verfahren weiterhin, die Baugenehmigung vom 29. September 2021 den Antragstellern zur Verfügung zu stellen.
Mit Schriftsatz der Antragstellerbevollmächtigten vom 26. November 2021, eingegangen bei Gericht am gleichen Tag, stellten die Antragsteller im hiesigen Verfahren den Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom 29. September 2021 anzuordnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen: Die Antragsteller seien Eigentümer des Grundstücks Fl.Nr. …2, das entsprechend dem Bebauungsplan mit einem Einfamilienhaus bebaut sei. Gegenüber ihrem Grundstück liege das Baugrundstück, das von der beigeladenen Bauunternehmung … … mit einem Mehrfamilienhaus mit sechs Wohnungen und sieben Stellplätzen bebaut werden solle. Die genaue Bezeichnung des Bauherrn als GmbH oder ähnlich sei für die Antragsteller nicht erkennbar, da auch das Landratsamt den Bauherrn nur als „… …“ bezeichne. Die Baugenehmigung widerspreche dem Bebauungsplan in vielerlei Hinsicht. Der Charakter des Bebauungsplangebiets werde durch das Bauvorhaben massiv verändert. Die Gemeinde habe ihr Einvernehmen zu den beantragten Abweichungen bzgl. Geschossfläche, Wandhöhe, Vollgeschoss und Kniestock erteilt. Ob noch weitere Abweichungen festzustellen seien, habe nicht geklärt werden können, da sich das Landratsamt geweigert habe, den Antragstellern die Baugenehmigung zur Verfügung zu stellen. Die Antragsteller hätten unbedingt die Baugenehmigung erhalten wollen, um dagegen vorgehen zu können und um den Charakter des Baugebiets zu erhalten. Am 15. November 2021 sei die Bautafel aufgestellt worden. Dadurch hätten die Antragsteller festgestellt, dass die Baugenehmigung vom 29. September 2021 datiere. Es sei verständlich, wenn die Antragsteller am Rechtsstaat zweifelten, wenn sie bewusst hingehalten würden und ihnen Zusagen gemacht würden, die dann nicht eingehalten würden. Mit Schreiben vom 3. November 2021 habe sich die Bevollmächtigte an die Untere Bauaufsichtsbehörde und die Landrätin gewandt und um einen Abdruck der Baugenehmigung gebeten; die Baugenehmigung sei nicht übermittelt worden. Aus diesem Grund sei Klage geboten, damit die Baugenehmigung überhaupt in die Hände der Antragsteller komme. Da die Baugenehmigung nicht bekannt sei, sei der nach § 212a BauGB mögliche Vollzug der Baugenehmigung auszusetzen.
Das Bauvorhaben widerspreche den Festsetzungen des Bebauungsplans in praktisch allen Belangen – außer dass es sich um ein Wohnbauvorhaben handele. Hinsichtlich der Zahl der Vollgeschosse sehe der Bebauungsplan zwei vor, der Bauantrag richte sich auf vier Geschosse. Hinsichtlich der Wandhöhe sei von einer Überschreitung auszugehen, die Oberkante der letzten Vollgeschossdecke liege etwa 12 m über dem vorhandenen natürlichen Gelände. Die Grundflächenzahl liege erheblich über den zulässigen 280 m². Die Geschossflächenzahl sei noch deutlicher überschritten. Die Baugrenze werde überschritten. Nach dem Bebauungsplan sei ein Kniestock verboten, was missachtet werde. Die Anordnung von sieben Stellplätzen auf dem Grundstück belaste die gegenüber wohnenden Antragsteller. Der Bauantrag sehe entgegen dem Bebauungsplan gerade keine Familienwohnungen vor. Die Antragsteller würden durch die Befreiungen in ihren nachbarschützenden Rechten verletzt. Ferner sei zu beachten, dass dieses Bauvorhaben das Pilotprojekt sei, um auf weiteren freien Bauplätzen eine ähnlich starke Verdichtung vorzunehmen. Die Planbetroffenen des Baugebiets „… …“ seien nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum sog. Gebietserhaltungsanspruch durch die Lage ihrer Anwesen im selben Baugebiet zu einer „Schicksalsgemeinschaft“ verbunden, woraus der bauplanungsrechtliche Nachbarschutz abgeleitet werde. Die Voraussetzungen für eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans lägen nicht vor, weil hierdurch die Grundzüge der Planung berührt würden. Aus dem Bebauungsplan ergebe sich, dass die Gemeinde Erlenbach Bauplätze für Familien habe schaffen wollen. Da der Bauträger auf dem Nachbargrundstück ein ähnliches Projekt errichten wolle, werde die Erteilung der Baugenehmigung zum Prüfstein für die Bauaufsichtsbehörde, ob entgegen den Festsetzungen des Bebauungsplans eine weitere, überhaupt nicht absehbare Verdichtung dieses Baugebiets für Familien erfolge. Auf den Beschluss des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs vom 15. August 2021 (9 CS 21.817), mit dem in einem vergleichbaren Fall der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 1. März 2021 (W 5 S 21.74) aufgehoben worden sei, werde verwiesen.
4. Der Antragsgegner stellte durch das Landratsamt … den Antrag,
den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abzulehnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen: Der Antrag sei unbegründet. Die angefochtene Baugenehmigung sei nicht rechtswidrig und verletze die Antragsteller nicht in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten. Die Antragsteller seien von der Unteren Bauaufsichtsbehörde im Genehmigungsverfahren nicht als Nachbarn einbezogen worden. Das Grundstück der Antragsteller grenze nicht unmittelbar an das Baugrundstück an; die Straße „… … …“ habe trennende Wirkung. Maßgeblich sei der Einwirkungsbereich des Bauvorhabens, der nach Art und Intensität der vom Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen verschieden bemessen sein könne und dementsprechend flexibel den Kreis der Nachbarn bestimme. Die Abstandsflächen gemäß der Vorschrift des Art. 6 BayBO würden eingehalten. Nach den in § 31 Abs. 2 BauGB bezeichneten Anwendungsvoraussetzungen und auf Grund einer Ermessensentscheidung der Genehmigungsbehörde könne von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden. Das Vorhaben halte grundsätzlich die Festsetzungen des Bebauungsplans ein, insbesondere auch die festgesetzten Geschossflächen- und Grundflächenzahlen. Die erteilten Befreiungen berührten nicht die Grundzüge der Planung. Das planerische Konzept des Bebauungsplans werde durch die Befreiungen nicht gestört. Vom Grundkonzept des Bebauungsplans, welches sich durch die festgelegte Gruppe von Festsetzungen bestimme, würden nur untergeordnete Abweichungen im Wege der Befreiung erteilt. Des Weiteren sei aus den textlichen Festsetzungen sowie aus der Begründung des Bebauungsplans nicht ersichtlich, welches planerische Konzept mit den entsprechend betroffenen Festsetzungen verfolgt werde. Die Festsetzungen, von denen befreit werde, hätten keinen nachbarschützenden Charakter. Die Befreiungen führten nicht zu unzumutbaren Beeinträchtigungen der Nachbarn. Die sieben Stellplätze würden auf dem Baugrundstück errichtet und dienten ausschließlich den Wohneinheiten des Bauvorhabens. Hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung füge sich das geplante Mehrfamilienhaus in die festgesetzte Art der baulichen Nutzung ein. Dass es mit sechs Wohneinheiten nicht den sonst üblichen Ein- und Zweifamilienhäusern entspreche, ändere daran nichts. Die Anzahl der Wohnungen in einem Gebäude sei kein Merkmal, das die Art der baulichen Nutzung präge. Das Vorhaben verletze auch nicht das Rücksichtnahmegebot zu Lasten der Antragsteller.
5. Der Beigeladene stellte durch seinen Bevollmächtigten den Antrag,
den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abzulehnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen: Die Rechtsperson des Beigeladenen sei richtig bezeichnet, es handele sich um ein Einzelunternehmen, nicht um eine Kapitalgesellschaft. Die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung sei rechtmäßig. Die Antragsteller hätten keinen Anspruch darauf, dass die Baugenehmigung ihnen zur Verfügung gestellt werde. Die erteilten Befreiungen seien nicht rechtswidrig, denn die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB seien erfüllt. Die Erteilung der Befreiungen seien hinreichend begründet worden. Es sei dargelegt worden, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt worden seien, weil die planerische Konzeption nicht gestört worden sei. Es seien nämlich keine Befreiungen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung erteilt worden. Auch seien die Befreiungen städtebaulich vertretbar. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich. Darüber hinaus sei keine Rechtsverletzung der Antragsteller im Hinblick auf drittschützende Normen erfolgt. Die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung seien grundsätzlich nicht nachbarschützend. Soweit von Antragstellerseite auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. Juni 2021 verwiesen werde, sei festzustellen, dass die Voraussetzungen vorliegend nicht erfüllt seien. Im vorliegenden Fall ließen sich keinerlei Anhaltspunkte für einen Willen der Gemeinde E … finden, die darauf deuteten, dass die Festsetzungen im gültigen Bebauungsplan ausdrücklich einen wie auch immer gearteten Schutz der Nachbarn vor übermäßiger Bebauung gewährleisten sollten. Zum einen seien konkret keine Anhaltspunkte erkennbar, die eine Intention des Plangebers im Hinblick auf eine drittschützende Zielrichtung von Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung mit hinreichender Deutlichkeit erkennen ließen. Zum anderen seien bei einer Auslegung eines planerischen Willens der Gemeinde die konkreten örtlichen Verhältnisse mit einzubeziehen, die im beplanten Gebiet vorherrschten. Die Behauptung der Antragstellerseite, dass diese sich auf den sog. Gebietserhaltungsanspruch berufen könne, sei verfehlt.
6. Im Hinblick auf den weiteren Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakte sowie auf die Gerichtsakten im Verfahren W 5 K 21.1483 und W 5 E 21.1671 (Antrag auf Verpflichtung des Antragsgegners im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, den Antragstellern die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Verfügung zu stellen und dem Gericht die Bauakten vorzulegen) Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig, aber unbegründet.
1. Der Antrag ist zulässig.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller (§ 80 Abs. 1 VwGO) entfällt vorliegend, weil sie sich gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens wenden (§ 212a BauGB). In einem solchen Fall kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs ganz oder teilweise anordnen (§ 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO). Ein derartiger Antrag kann unmittelbar bei Gericht gestellt werden.
Die Kammer hat keine Zweifel an der Antragsbefugnis der Antragsteller. Die Bejahung der Klage- bzw. Antragsbefugnis (gemäß § 42 Abs. 2 VwGO bzw. entsprechend) setzt voraus, dass es auf der Grundlage des Tatsachenvorbringens des Betroffenen zumindest möglich erscheint, dass dieser durch den angefochtenen Verwaltungsakt in eigenen Rechten verletzt wird (sog. Möglichkeitstheorie, vgl. BVerwG, B.v. 21.1.1993 – 4 B 206/92 – juris). Dies ist hier der Fall. Die Bevollmächtigte der Antragsteller macht eine Verletzung drittschützender Vorschriften wie insbesondere des nachbarlichen Gebots der Rücksichtnahme geltend. Das Grundstück, für das die Antragsteller Abwehrrechte geltend machen, ist nur durch die Erschließungsstraße vom Baugrundstück getrennt, so dass auch in sachlicher Hinsicht einiges dafür spricht, dass das Eigentum der Antragsteller berührt sein könnte und damit eine Antragsbefugnis entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO zu bejahen wäre.
2. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist unbegründet.
Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bzw. seines Widerspruchs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 – 1 BvR 165/09 – NVwZ 2009, 581; BayVGH, B.v. 17.9.1987 – 26 CS 87.01144 – BayVBl. 1988, 369; Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 68 und 73 ff.). Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
Vorliegend lässt sich nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung anhand der Akten feststellen, dass die Anfechtungsklage der Antragsteller gegen die Baugenehmigung des Landratsamts … vom 29. September 2021 mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben wird, da der angefochtene Bescheid die Antragsteller nicht in nachbarschützenden Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind; insoweit ist das Landratsamt … hier zutreffender Weise vom vereinfachten Genehmigungsverfahren des Art. 59 BayBO ausgegangen.
Die Baugenehmigung ist nur dann aufzuheben, wenn sie rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Nachbar eines Vorhabens kann eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die auch seinem Schutz dienen, oder wenn es das Vorhaben an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt. Nur daraufhin ist das genehmigte Vorhaben in einem nachbarrechtlichen Anfechtungsprozess zu prüfen (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332; B.v. 26.5.2020 – 15 ZB 19.2231; BVerwG, B.v. 28.7.1994 – 4 B 94/94; U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84; U.v. 13.6.1980 – IV C 31.77; alle juris).
Für eine Verletzung des Abstandsflächenrechts (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. Art. 6 BayBO) zu Lasten der Antragsteller ist nichts ersichtlich, insbesondere werden vorliegend die Abstandsflächen gemäß der Vorschrift des Art. 6 BayBO zum Grundstück der Antragsteller (vgl. Neuregelung des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO 2021: 0,4 H) eingehalten. Eine Verletzung der Abstandsflächenvorschriften zu Lasten der Antragsteller wurde von der Bevollmächtigten der Antragsteller schon nicht geltend gemacht.
Aber auch aus bauplanungsrechtlichen Gründen spricht nach summarischer Prüfung nichts für einen Erfolg der Antragsteller im Hauptsacheverfahren. Im vorliegenden Fall ist nach Überzeugung der Kammer ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO) nicht gegeben.
2.1. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit richtet sich hier nach § 30 Abs. 1 BauGB, da das Vorhaben im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans „…“ der Gemeinde E …, in der Fassung der 1. Änderung vom 29. Oktober 1980, in Kraft getreten am 20. November 1980, liegt. Das Bauvorhaben entspricht den Festsetzungen des Bebauungsplans, die im Übrigen erteilten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans verletzen die Antragsteller nicht in ihren subjektiven Rechten.
Soweit von Antragstellerseite behauptet wird, dass ein drittes oder gar viertes Vollgeschoss gegeben sei und damit gegen die Festsetzung der höchstzulässigen Zahl der Vollgeschosse im Bebauungsplan von zwei Vollgeschossen verstoßen worden sei, kann dem nicht gefolgt werden. Unter Zugrundelegung der nachgereichten und mit dem Genehmigungsvermerk versehenen Baupläne ist – anders noch als bei den ursprünglich im Genehmigungsverfahren eingereichten Plänen – das Erdgeschoss nicht (mehr) als Vollgeschoss anzusehen und damit von nur noch von zwei Vollgeschossen (1. Obergeschoss und Dachgeschoss) auszugehen. Nach dem insoweit noch maßgeblichen Art. 2 Abs. 5 Satz 1 BayBO 1998 sind Vollgeschosse Geschosse, die vollständig über der natürlichen oder festgelegten Geländeoberfläche liegen und über mindestens zwei Drittel ihrer Grundfläche eine Höhe von mindestens 2,30 m haben. Als Vollgeschosse gelten Kellergeschosse, deren Deckenunterkante im Mittel mindestens 1,20 m höher liegt als die natürliche oder festgelegte Geländeoberfläche (Art. 2 Abs. 5 Satz 2 BayBO 1998). So lässt sich der von der Bauchtechnikerin des Landratsamts … angefertigten und in der Bauakte enthaltenen Berechnung entnehmen, dass bei einer Prüfung der ursprünglich eingereichten Planung sich die vg. Höhe der Deckenunterkante im Mittel über der natürlichen Geländeoberkante mit 1,28 m errechnet, so dass noch von einem dritten Vollgeschoss auszugehen wäre (vgl. auch E-Mail des Landratsamts … vom 23.7.2021 an den Beigeladenen, Bl. 46 der Behördenakte: „Nach überschlägiger Berechnung überschreitet das Erdgeschoss die Einstufung als Vollgeschoss knapp. Diese Problematik könnten Sie umgehen, indem Sie das Gebäude etwas weiter nach Nordosten verschieben und/oder etwas tiefer einstellen“). Nachdem das Erdgeschoss nun in der genehmigten Planung deutlich tiefer eingestellt wurde als in der ursprünglichen Planung (Oberkante Decke Erdgeschoss nun + 6,05 m gegenüber ursprünglich + 6,42 m, vgl. hierzu die Ansichten sowie die Schnitte in den genehmigten wie in den „überholten Plänen“ der Bauakte), kommt die Bauaufsichtsbehörde im Rahmen ihrer abschließenden technischen Prüfung der am 23. August 2021 nachgereichten Unterlagen zu dem für die Kammer nachvollziehbaren und plausiblen Ergebnis, dass eine Befreiung hinsichtlich der Zahl der Vollgeschosse „nicht erforderlich“ ist (vgl. Bl. 74 der Behördenakte).
Des Weiteren werden auch die Festsetzungen des Bebauungsplans für die Grundflächenzahl (festgesetzt: 0,4; geplant: 206,10 m² : 693 m² = 0,30) und die Geschossflächenzahl (festgesetzt: 0,7; geplant: 412,20 m² : 693 m² = 0,59) eingehalten.
Das Bauvorhaben der Beigeladenen verstößt hier wegen der geplanten Wandhöhe, der Baugrenzenüberschreitung im Bereich der Balkone und der Kniestockhöhe gegen die Festsetzungen des Bebauungsplans.
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und (1) Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder (2) die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder (3) die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
2.2. Hinsichtlich des Nachbarschutzes bei Befreiungen von Festsetzungen des Bebauungsplans (§ 31 Abs. 2 BauGB) muss unterschieden werden, ob die Festsetzung, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dient oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung. Im zweiten Fall fehlt es an einer solchen Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift aufgrund unzutreffender Annahme der Befreiungsvoraussetzungen. Der Nachbarschutz richtet sich dann nach den Grundsätzen des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme, das aufgrund der gemäß § 31 Abs. 2 BauGB gebotenen „Würdigung nachbarlicher Interessen“ Eingang in die bauplanungsrechtliche Prüfung findet (zum Ganzen: BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris Rn. 5; U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 21.5.2019 – 1 CS 19.474 – juris Rn. 4; B.v. 7.10.2019 – 1 CS 19.1499 – juris Rn. 16; B.v. 3.3.2020 – 9 CS 19.1514 – juris Rn. 14).
Ob und inwieweit eine Norm des Bauplanungsrechts betroffenen Nachbarn Abwehrrechte einräumt, ist grundsätzlich durch Auslegung zu ermitteln. Dies gilt auch für die Festsetzungen eines Bebauungsplans, die gemäß § 10 Abs. 1 BauGB normativen Charakter haben (OVG Hamburg, U.v. 14.7.2008 – 2 Bf 277/03 – juris Rn. 22 m.w.N.). Während Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung grundsätzlich generell und unabhängig davon, ob der Nachbar durch die gebietswidrige Nutzung unzumutbar oder auch nur tatsächlich spür- und nachweisbar beeinträchtigt wird, schon kraft bundesrechtlicher Vorgabe als drittschützend angesehen werden (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – juris Rn. 3 m.w.N.; U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – juris Rn. 12), wobei als wesentlich hierfür das wechselseitige Austauschverhältnis durch Regelung und Ausgleich der verschiedenen Nutzungen aufgrund der Festsetzungen des Bebauungsplans angesehen wird, folgt aus Art. 14 GG kein Gebot, Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung (§§ 16 ff. BauNVO) drittschutzfreundlich auszulegen. Ob der Plangeber eine Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung auch zum Schutze des Nachbarn trifft oder ausschließlich objektiv-rechtlich ausgestaltet, darf er regelmäßig selbst und ohne Bindung an das Eigentumsrecht des Nachbarn entscheiden (BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – juris Rn. 11; U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 17). Dabei dient ein Bebauungsplan mit Rücksicht auf seine städtebauliche Ordnungsfunktion für das Plangebiet zunächst öffentlichen Interessen (OVG Hamburg, U.v. 17.1.2002 – 2 Bf 359/98 – juris Rn. 46), weshalb seine Festsetzungen in erster Linie aus städtebaulichen Gründen getroffen werden. Dasselbe gilt für Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche i.S. von § 23 BauNVO (BVerwG, B.v. 19.10.1995 – 4 B 215.95 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 7.10.2019 – 1 CS 19.1499 – juris Rn. 17; B.v. 5.8.2019 – 9 ZB 16.1276 – juris Rn. 5 m.w.N.), zur Bauweise (BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148, 290) sowie für weitere Festsetzungen, die nicht die Art der baulichen Nutzung betreffen.
Von einer neben diese Ordnungsfunktion tretenden nachbarschützenden Wirkung einer Festsetzung ist daher ausnahmsweise erst dann auszugehen, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen entsprechenden planerischen Willen erkennbar sind. Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln, wobei sich ein entsprechender Wille unmittelbar aus dem Bebauungsplan selbst (etwa kraft ausdrücklicher Regelung von Drittschutz), aus seiner Begründung, aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung oder aus einer wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs ergeben kann (BayVGH, B.v. 15.6.2021 – 9 CS 21.817 – BeckRS 2021, 16356 Rn. 18; B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – juris Rn. 23; zusammenfassend BayVGH, B.v. 18.6.2018 – 15 ZB 17.635 – juris Rn. 16 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8.84 – juris Rn. 11; B.v. 19.10.1995 – 4 B 215.95 – juris Rn. 3; B.v. 13.12.2016 – 4 B 29.16 – juris Rn. 5; U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 14; B.v. 11.6.2019 – 4 B 5.19 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 21.5.2019 – 1 CS 19.474 – juris Rn. 4; B.v. 7.10.2019 – 1 CS 19.1499 – juris Rn. 17).
Die nachbarschützende Wirkung einer derartigen Festsetzung kann sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch daraus ergeben, dass die Festsetzungen nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis stehen. In solchen Fällen eines wechselseitig verbundenen, nachbarlichen Austauschverhältnisses kommt den Festsetzungen nach ihrem objektiven Gehalt Schutzfunktion zugunsten der an dem Austauschverhältnis beteiligten Grundstückseigentümer zu. Denn der baurechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses, in dem der nachbarliche Interessenkonflikt durch Merkmale der Zuordnung, der Verträglichkeit und der Abstimmung benachbarter Nutzungen geregelt und ausgeglichen ist (BVerwG, U.v. 23.8.1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364, 375). Dieser Gedanke – so das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 9. August 2018 (4 C 7.17 – juris Rn. 15 f., sog. „Wannsee-Entscheidung“) – prägt nicht nur die Anerkennung der drittschützenden Wirkung von Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung (BVerwG, Ue. vom 23.8.1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364, 375 und vom 24.2.2000 – 4 C 23.98 – juris Rn. 14), sondern kann auch eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung rechtfertigen. Stehen solche Festsetzungen nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis, kommt ihnen nach ihrem objektiven Gehalt Schutzfunktion zugunsten der an dem Austauschverhältnis beteiligten Grundstückseigentümer zu. Daraus folgt unmittelbar, dass der einzelne Eigentümer die Maßfestsetzungen aus einer eigenen Rechtsposition heraus auch klageweise verteidigen kann. Entscheidend ist danach, dass ein Eigentümer Verstöße gegen dieses Konzept, wie es in den Maßfestsetzungen zum Ausdruck kommt, geltend machen darf. Nachbarschutz auf der Grundlage eines wechselseitigen Austauschverhältnisses ist nicht von einer konkreten Beeinträchtigung des Nachbarn abhängig (BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – juris Rn. 22).
2.3. Die Auslegung des Bebauungsplans „…“ der Gemeinde E …, in der Fassung der 1. Änderung vom 29. Oktober 1980 ergibt, dass sich diesem kein Wille der plangebenden Gemeinde, den Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche, zur Wandhöhe und zur Kniestockhöhe (letztere ohnehin keine Festsetzung des Maßes der baulichen Nutzung, sondern eine örtliche Bauvorschrift zur Gestaltung baulicher Anlagen), von denen im Rahmen der Baugenehmigung Befreiungen erteilt worden sind, keine drittschützende Wirkung entnehmen lässt. So kann weder dem Bebauungsplan i.d.F. der 1. Änderung selbst, genauer weder der Planzeichnung noch den textlichen Festsetzungen und auch nicht der Begründung ein Anhaltspunkt dafür entnommen werden, dass hier die Gemeinde E … beabsichtigt hätte, diesen vg. Festsetzungen neben einer städtebaulichen Funktion noch eine nachbarschützende Funktion zuzuweisen. Nichts anderes gilt, wenn man den ursprünglichen Bebauungsplan aus dem Jahr 1970 (es liegt nur die Planzeichnung mit den Festsetzungen, nicht aber die Begründung vor, die nicht mehr aufgefunden wurde) in den Blick nimmt. Mithin kann den einzelnen Festsetzungen des Bebauungsplans und des Änderungsbebauungsplans, von denen die Bauaufsichtsbehörde Befreiungen erteilt hat, eine nachbarschützende Wirkung nicht zugesprochen werden. Vielmehr ergibt sich aus der Begründung des Änderungsbebauungsplans explizit, dass dieser „die Gewähr (biete) und Grundlage zur Wahrung der städtebaulichen Ordnung“ sei (so die Begründung zur 1. Änderung, S. 2).
Zum anderen ist vorliegend auch nicht der geringste Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass im vorliegenden Fall das von Seiten der Bevollmächtigten der Antragsteller unter Hinweis auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. Juni 2021 (9 CS 21.817 – BeckRS 2021, 16356) reklamierte wechselseitige, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindende Austauschverhältnis vorliegen würde. Denn es ist hier nach der von der Kammer durchgeführten Auslegung der streitgegenständlichen Festsetzungen des Bebauungsplans und des Änderungsbebauungsplans unter Heranziehung der Begründung des Änderungsbebauungsplans nichts dafür ersichtlich, dass der Plangeber hier ein derartiges wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis geschaffen und die Planbetroffenen in dieses eingebunden hätte. Vielmehr lässt sich diesen nur entnehmen, dass das Ziel der Planänderung, wie bereits dargelegt, in der „Wahrung der städtebaulichen Ordnung“ zu finden ist (so die Begründung zur 1. Änderung, S. 2), mithin die Festsetzungen allein städtebaulichen und sonstigen öffentlichen Belangen dienen sollen und deren Ziel eben nicht auch dahingeht, bei Ausschöpfung der größtmöglichen Bebaubarkeit die sich hieraus ergebende Zumutbarkeitsgrenze für die Nachbarschaft festzulegen. Insbesondere lässt sich den vg. Unterlagen nicht der geringste Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass der Plangeber mit den Festsetzungen dem vorliegenden Plangebiet eine spezifische Qualität in dem Sinn hätte beimessen wollen, dass ein bestimmter Gebietscharakter durch die Kombination von einzelnen (besonderen) Festsetzungen zum Maß beabsichtigt gewesen sei. Hierfür wird auch von Antragstellerseite nichts vorgebracht.
Mangels Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung des Bebauungsplans kommt es auf die Frage, ob bei der Erteilung der Befreiungen alle Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB vorlagen und insgesamt hierbei eine ermessensfehlerfreie Entscheidung getroffen wurde, daher vorliegend nicht an.
2.4. Entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten der Antragsteller wird auch das Gebot der Rücksichtnahme durch die erteilten Befreiungen nicht verletzt.
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von – wie hier – nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans die Rechte des Nachbarn verletzen kann, ist im Rahmen der Würdigung nachbarlicher Belange nach den Maßstäben zu beantworten, die das Bundesverwaltungsgericht zum Gebot der Rücksichtnahme i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO entwickelt hat (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris; vgl. auch BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris). Wird von nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB erteilt, so hat der Nachbar über die das Rücksichtnahmegebot konkretisierende „Würdigung nachbarlicher Interessen“ hinaus keinen Anspruch auf eine Einhaltung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – juris Rn. 5). Drittschutz im Falle einer Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung besteht vielmehr nur dann, wenn seine nachbarlichen Interessen nicht hinreichend berücksichtigt worden sind.
Das Gebot der Rücksichtnahme (grundlegend BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – BVerwGE 52, 122) soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten. Ihm kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die an das Gebot der Rücksichtnahme zu stellenden Anforderungen hängen im Wesentlichen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die vorzunehmende Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dies beurteilt sich nach der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmeberechtigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, die er mit dem Vorhaben verfolgt, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 33). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die den Antragstellern aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihnen als Nachbarn billigerweise noch zumutbar ist (Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 14. Aufl. 2019, § 35 Rn. 80).
Bei Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das Bauvorhaben der Beigeladenen in seinen Auswirkungen auf das Grundstück der Antragsteller im Ergebnis nicht als rücksichtslos. Die erteilten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans wirken sich sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit betrachtet allenfalls unerheblich auf das Nachbargrundstück der Antragsteller aus. Schließlich kann nicht die Rede davon sein, dass das Bauvorhaben des Beigeladenen eine erdrückende oder einmauernde Wirkung auf das Anwesen der Antragsteller hervorruft. Auch die hier genehmigten sieben Pkw-Stellplätze können zu keiner Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme führen. § 12 Abs. 2 BauNVO sieht vor, dass in allgemeinen Wohngebieten Stellplätze (nur) für den durch die zugelassene Nutzung verursachten Bedarf zulässig sind. Darüber geht die Baugenehmigung nicht hinaus.
2.5. Entgegen der Meinung der Bevollmächtigten der Antragsteller ergibt sich eine Rechtsverletzung auch nicht aus dem sog. Gebietsbewahrungs- oder Gebietserhaltungsanspruch.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Nachbar im Plangebiet sich gegen die Zulässigkeit einer gebietswidrigen Nutzung im Plangebiet wenden, auch wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird. Der Nachbar hat also bereits dann einen Abwehranspruch, wenn das baugebietswidrige Vorhaben im jeweiligen Einzelfall noch nicht zu einer tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung führt. Der Abwehranspruch wird grundsätzlich bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst. Begründet wird dies damit, dass im Rahmen des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets verhindern können soll (vgl. BVerwG, B.v. 2.2.2000 – 4 B 87/99 – NVwZ 2000, 679; U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – BVerwGE 94, 151).
Hier scheitert ein Gebietsbewahrungsanspruch aber bereits daran, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Vorhaben auf Errichtung eines Mehrfamilienwohnhauses nicht um ein baugebietswidriges Vorhaben, sondern um ein Wohngebäude, mithin um ein nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO 1977 allgemein zulässiges Vorhaben handelt. Dem steht nicht entgegen, dass es sich hier nicht um ein Ein- oder Zweifamilienwohnhaus, sondern um ein Mehrfamilienwohnhaus mit sechs Wohnungen handelt. Zwar können die Gemeinden in einem Bebauungsplan gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB die höchstzulässige Zahl der Wohnungen in Wohngebäuden festsetzen. Eine Beschränkung der Anzahl der Wohnungen kann daher den Gebietscharakter etwa im Sinne eines Einfamilienhausgebiets bestimmen. Eine solche detaillierte Bestimmung ist aber der planenden Gemeinde vorbehalten und hier gerade nicht erfolgt.
2.6. Soweit die Bevollmächtigte der Antragsteller rügt, dass die „genaue Bezeichnung des Bauherrn als GmbH oder ähnlich“ für die Antragsteller nicht erkennbar sei, ist nicht ersichtlich, wie hierdurch öffentlich-rechtlich geschützte Rechtspositionen der Antragsteller verletzt sein sollen. Im Übrigen hat der Bevollmächtigte des Beigeladenen erklärt, dass es sich bei diesem um ein Einzelunternehmen des Inhabers … … handele. Soweit schließlich von Antragstellerseite (auch) in diesem Verfahren die unterlassene Übermittlung einer Baugenehmigung an die Antragsteller gerügt wird, kann dies nicht zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung selbst bzw. gar zu einer Rechtsverletzung der Antragsteller durch die Baugenehmigung führen. Die Vorschriften über die Nachbarbeteiligung sowie die allgemein Nachbarn betreffenden Verfahrensvorschriften sind grundsätzlich nicht nachbarschützend (vgl. Dirnberger in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 144. EL Sept. 2021, Art. 66 Rn. 294 f. m.w.N.). Im Übrigen wird zu dieser von Antragstellerseite aufgeworfenen Frage der Versagung der Übermittlung der Baugenehmigung – zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen – auf den Beschluss der Kammer vom 14. Januar 2022 im Verfahren W 5 E 21.1671 verwiesen.
3. Nachdem die Klage der Antragsteller nach allem voraussichtlich mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos bleiben wird, überwiegt das Interesse des Beigeladenen an einer baldigen Ausnutzung der Baugenehmigung das Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage. Somit konnte der Antrag keinen Erfolg haben und war mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Da sich der Beigeladene durch eigene Antragstellung am Prozesskostenrisiko beteiligt hat, entsprach es der Billigkeit, seine entstandenen außergerichtlichen Aufwendungen den Antragstellern aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 i.V.m. § 154 Abs. 3 VwGO).
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 GKG. Nachbarklagen werden nach Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 mit 7.500,00 EUR bis 15.000,00 EUR im Hauptsacheverfahren bewertet. Die Kammer hält im vorliegenden Fall in der Hauptsache für das Wohngrundstück der Antragsteller, für das Abwehrrechte geltend gemacht werden, einen Streitwert von 10.000,00 EUR als angemessen, der für das vorliegende Sofortverfahren zu halbieren ist (Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs).


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