Baurecht

Baugenehmigung, Bebauungsplan, Vorhaben, Gemeinde, Wohnnutzung, Wohngebiet, Bescheid, Bauantrag, Mischgebiet, Nutzung, Verwaltungsakt, Gebietserhaltungsanspruch, Verletzung, Genehmigung, Art der baulichen Nutzung, Kosten des Verfahrens, allgemeines Wohngebiet

Aktenzeichen  RO 2 K 18.1692

Datum:
7.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 12927
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.  
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger und der Beigeladene zu 3) je zur Hälfte. Die Kläger tragen ihren Kostenanteil als Gesamtschuldner
III. Das Urteil ist in Ziffer II. vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Klage ist als Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 1 Alt. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gegen die Baugenehmigung zulässig. Auch fehlt es den Klägern als Nachbarn nicht an der Klagebefugnis gem. § 42 Abs. 2 VwGO, da eine Verletzung in eigenen, drittschützenden Rechten, z.B. im Hinblick auf den Gebietserhaltungsanspruch oder das Gebot der Rücksichtnahme, möglich erscheint.
Die zulässige Klage ist jedoch unbegründet. Die den Beigeladenen zu 1) und 2) erteilte streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.
Die Klage eines Nachbarn gegen eine Baugenehmigung ist nicht bereits dann erfolgreich, wenn die Baugenehmigung lediglich objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr ist der Nachbar nur dann i.S.d. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in seinen Rechten verletzt, wenn die Baugenehmigung gegen Vorschriften verstößt, die zumindest auch dem Schutz subjektiv-öffentlicher Rechte des Nachbarn dienen und die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind. Die angefochtene Baugenehmigung verletzt keine nachbarschützenden Vorschriften, die vom Prüfungsumfang erfasst sind.
Da es sich bei dem Vorhaben der Beigeladenen zu 1) und 2) nicht um einen Sonderbau gem. Art. 2 Abs. 4 Bayerische Bauordnung (BayBO) handelt, fand das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren gem. Art. 59 BayBO Anwendung. Nach ständiger Rechtsprechung ist bei Drittanfechtungsklagen im Baurecht grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 6.11.2008 – 14 ZB 08.2327 – juris). Daher ist vorliegend für den Umfang des Prüfungsmaßstabes Art. 59 BayBO i.d. Fassung vom 14.8.2007 geändert mit Wirkung vom 1.9.2018 durch G.v. 10.7.2018 anzuwenden.
Soweit sich die Klägerseite vorliegend auf die Unbestimmtheit der streitgegenständlichen Baugenehmigung beruft, führt dies nicht zum Erfolg. Zwar geht das Gericht von einer Unbestimmtheit der Baugenehmigung aus. Im Falle einer Nachbarklage kann eine Baugenehmigung allerdings diesbezüglich Rechte des Nachbarn nur verletzen, wenn sie hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Fragen unbestimmt ist und daher im Falle der Umsetzung des Bauvorhabens eine Verletzung von Nachbarrechten nicht auszuschließen ist (BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 15 ZB 16.398 – juris).
Wie jeder Verwaltungsakt muss auch eine Baugenehmigung inhaltlich hinreichend bestimmt sein, Art. 37 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG). Sie muss vollständig klar und unzweideutig sein (Decker in Busse/Kraus, BayBO, Werkstand: 144. EL September 2021, Art. 68 Rn. 250). Das gilt insbesondere auch für die Art der baulichen Nutzung des Vorhabens. Sie muss Inhalt, Reichweite und Umfang der genehmigten Nutzung eindeutig erkennen lassen, damit die mit dem Bescheid getroffene Regelung für die Beteiligten des Verfahrens nachvollziehbar und eindeutig ist. Nachbarn müssen zweifelsfrei feststellen können, ob und in welchem Umfang sie betroffen sind (vgl. BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 15 ZB 16.398 – juris, BayVGH; B.v. 17.6.2016 – 15 ZB 15.644 – juris; B.v. 18.7.2016 – 15 ZB 15.12 – juris – jeweils m.w.N.). Der Nachbar hat jedoch keinen Anspruch auf eine allgemeine Fehlerfreiheit von Bauvorlagen und der Baugenehmigung. Der Inhalt der Baugenehmigung und damit das genehmigte Vorhaben bestimmen sich nach der Bezeichnung und den Regelungen im Baubescheid (Baugenehmigung), der konkretisiert wird durch die in Bezug genommenen, mit dem Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen. Die Bauvorlagen haben gegenüber dem Baubescheid nur eine konkretisierende und erläuternde Funktion (Decker in Busse/Kraus, BayBO, Werkstand: 144. EL September 2021, Art. 68 Rn. 252). Im vorliegenden Fall beantragten die Beigeladenen zu 1) und 2) die Umnutzung der ehemaligen Gaststätte in Wohnungen, Boardinghouse und Fremdenzimmer. Ausgehend vom Wortlaut wurde damit nach dem objektiven Erklärungswert im Hinblick auf die Wohnungen eine Wohnnutzung und im Hinblick auf die Fremdenzimmer eine Nutzung als Beherbergungsgewerbe beantragt. Unklar ist die Einordnung des Boardinghouses, da diese Nutzungsform je nach konkreter Betriebsform eine Wohnnutzung oder eine gewerbliche Beherbergung darstellen kann. Auch erscheint unklar, ob sich die Bezeichnung „Boardinghouse“ nur auf die verbleibenden 3 Apartments beziehen soll, wofür der Wortlaut spricht, oder darüber hinausgehende Bedeutung hat. Für die Bestimmtheit eines Bauantrags für ein Boardinghouse ist es in der Regel notwendig, dass dieser eine Betriebsbeschreibung enthält, aus der sich die konkrete Einordnung bezüglich der Art der Nutzung des Boardinghouses ergibt, d.h. ob dieses aufgrund seiner konkreten Betriebsform der Wohnnutzung oder einer Nutzung als Beherbergungsgewerbe zuzuordnen ist. Eine solche Beschreibung fehlt vorliegend. Wie sich in der mündlichen Verhandlung herausstellte, lag ein endgültiges Konzept zur Zeit der Antragstellung noch gar nicht vor bzw. änderte sich immer wieder. Die in der mündlichen Verhandlung geäußerte Annahme der Beklagtenseite, dass bezüglich der Fremdenzimmer und der Apartments von einer gewerblichen Nutzung (Beherbergungsgewerbe) ausgegangen worden sei und hinsichtlich der Wohnungen von einer nicht gewerblichen Wohnnutzung, erscheint zwar schlüssig, ergibt sich so aber nicht eindeutig aus der Baugenehmigung. Subjektive Vorstellungen des Antragstellers oder der Behörde, die objektiv keinen Niederschlag im Wortlaut der schriftlichen Baugenehmigung gefunden haben, sind jedoch nicht maßgeblich (Decker in Busse/Kraus, Werkstand: 144. EL September 2021, BayBO, Art. 68 Rn. 251). Ausgehend hiervon ergeben sich Unklarheiten im Hinblick darauf, ob insgesamt eine Nutzung als Beherbergungsgewerbe oder auch eine Wohnnutzung vorliegt, bzw. zu welchen Anteilen. Allerdings ergibt sich hieraus keine Verletzung der Kläger in ihren Rechten. Sowohl bei der Annahme einer reinen gewerblichen Nutzung als auch einer anteiligen Wohnnutzung kommt eine Verletzung der Kläger in ihren Rechten nicht in Betracht (siehe jeweils im Folgenden).
Eine Verletzung der Kläger in ihren Rechten ergibt sich vorliegend auch nicht aus einem Gebietserhaltungsanspruch.
Der Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben zur Wehr zu setzen. Der Anspruch ist eine Folge davon, dass Baugebietsfestsetzungen kraft Gesetzes dem Schutz aller Eigentümer der in dem Gebiet gelegenen Grundstücke dienen. Die weitreichende nachbarschützende Wirkung beruht auf der Erwägung, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Anwesen in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist. Im Hinblick auf diese wechselseitig wirkende Bestimmung von Inhalt und Schranken des Grundeigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG)) hat jeder Eigentümer – unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung – das Recht, sich gegen eine schleichende Umwandlung des Gebiets durch Zulassung einer gebietsfremden Nutzung zur Wehr zu setzen. Aus der Gleichstellung geplanter und faktischer Baugebiete im Sinne der Baunutzungsverordnung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung durch § 34 Abs. 2 Baugesetzbuch (BauGB) ergibt sich, dass in diesem Umfang auch ein identischer Nachbarschutz schon vom Bundesgesetzgeber festgelegt worden ist (BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris). Der Gebietserhaltungsanspruch gilt jedoch nicht gebietsübergreifend oder in Gemengelagen, weil in solchen Fällen das typische Austauschverhältnis zwischen den Grundstücken fehlt, welches den bauplanungsrechtlichen Grund für ein nachbarliches – von konkreten Beeinträchtigungen unabhängiges – Abwehrrecht gegen das Eindringen gebietsfremder Nutzung darstellt (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 28.4.2020 – 9 ZB 18.1493 – juris m.w.N.).
Das Vorhabensgrundstück befindet sich im unbeplanten Innenbereich des Marktes N. (Beigeladene zu 3). Sowohl das Landratsamt R. als auch der Beigeladene zu 3) haben die Umgebung des Vorhabens im Baugenehmigungsverfahren als Mischgebiet i.S.d.§ 6 Baunutzungsverordnung (BauNVO) eingestuft, wohingegen die Klägerseite von einem allgemeinen Wohngebiet i.S.d. § 4 BauNVO ausgeht.
Das Gericht teilt die Einstufung der Umgebungsbebauung als faktisches Mischgebiet i.S.d.§ 6 BauNVO nicht. Die Eigenart des Mischgebiets als Baugebietstyp zeichnet sich nach § 6 Abs. 1 BauNVO dadurch aus, dass es sowohl dem Wohnen als auch der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören, dienen soll. Beide Hauptnutzungsarten stehen nicht in einem Rangverhältnis zueinander. Sie stehen als gleichwertige Funktionen nebeneinander, wobei das Verhältnis der beiden Nutzungsarten weder nach der Fläche noch nach Anteilen bestimmt ist (vgl. BVerwG, U. v. 28.4.1972 – BVerwG 4 C 11.69 -, BVerwGE 40, 94 [100]). Dieses gleichwertige Nebeneinander zweier Nutzungsarten bedeutet, dass keine der Nutzungsarten ein deutliches Übergewicht über die andere gewinnen soll (BVerwG, U. v. 25.11.1983 – BVerwG 4 C 64.79 – BVerwGE 68, 207 [210] – juris). Vorliegend liegen das Fachgeschäft für Handarbeiten auf der FlNr. 1167/33 und die Schlosserei auf der FlNr. 1143 bereits zu weit vom Vorhaben entfernt, um noch an einer prägenden Beziehung zum Vorhaben teilzunehmen. Als Umgebung i.S.d. § 34 BauGB sieht das Gericht lediglich die unmittelbar nördlich an der H. H1. straße angrenzende Bebauung und die Bebauung zwischen H. H1. straße und „Am K.berg“ an. In östlicher Hinsicht ist von einer relevanten Prägung bis zur Verbindung H. H1. straße zur Sch. und in westlicher Hinsicht bis zur Abzweigung der H. H1. straße zur H2.straße bei FlNr. 1230/2 auszugehen.
Diese Umgebung stellt sich dem Gericht allerdings auch nicht als typisches allgemeines Wohngebiet dar. In der unmittelbaren Nachbarschaft des ehemaligen Gasthauses befindet sich ein Pizzalieferservice, der Dorfplatz und die Gebäudlichkeiten zweier großer (ehemaliger) Hofstellen. Erst im Anschluss daran erstreckt sich die Wohnbebauung. Das Gericht sieht auch in der Topographie keinen Grund, die Bebauung nördlich der H. H1. straße und damit den Pizzaservice und eine Hofstelle, die am Augenscheinstermin durchaus noch den Eindruck einer landwirtschaftlichen Prägung erweckte, nicht in die relevante Umgebungsbebauung einzubeziehen. Es ist in diesem Bereich kein trennender Anstieg zum Vorhabensgrundstück ersichtlich. Auch kommt der Straße, einer normalen Ortstraße, selbst keine trennende Wirkung zu. Die unmittelbare Umgebung des ehemaligen Gasthauses vermittelt den Eindruck eines typischen ländlichen Ortskerns. Selbst wenn man davon ausgeht, dass beide Hofstellen nicht mehr aktiv landwirtschaftlich betrieben werden, so vermitteln sie dennoch noch ein landwirtschaftliches Gepräge bzw. wirken jedenfalls nicht als Wohnnutzung. Jedenfalls auf der Hofstelle FlNr. 1120/2 waren auch noch Gerätschaften sichtbar und eine Felderbewirtschaftung erscheint nicht ausgeschlossen. Selbst wenn man aber von einer Aufgabe der landwirtschaftlichen Nutzung ausgehen würde, ist anerkannt, dass auch eine aufgegebene Nutzung noch nachwirken kann. Eine tatsächlich beendete bauliche Nutzung verliert ihre den Gebietscharakter mitbestimmende Kraft dann, wenn sie endgültig aufgegeben worden ist und nach der Verkehrsanschauung mit ihrer Wiederaufnahme nicht mehr zu rechnen ist. Wird eine Bausubstanz nur teilweise beseitigt oder die Nutzung eingeschränkt, so ist der Zeitraum der Nachwirkung tendenziell großzügiger zu bemessen als in den Fällen, in denen der Baubestand oder die Nutzung vollständig beseitigt oder aufgegeben worden ist (BVerwG, U.v. 27.8.1998 – 4 C 5.98 – juris; B.v. 2.10.2007 – 4 B 39/07 – juris). Auf beiden Hofstellen sind typische landwirtschaftliche Gebäude vorhanden und vermitteln den Eindruck eines guten Zustandes und insbesondere auf der Hofstelle FlNr. 1120/2 auch noch einer Nutzung. Eine Wiederaufnahme einer landwirtschaftlichen Nutzung oder jedenfalls einer nicht wohngebietstypischen Nutzung erscheint im Hinblick auf die Gebäudlichkeiten und Hofflächen jederzeit möglich (vgl. zur dörflichen Gemengelage VG Koblenz, U.v. 10.5.2011 – 7 K 1111/10.KO – juris; VG München, B.v. 7.11.2012 – M 1 SN 12.4077 – juris). Auch eine Prägung durch das ehemalige Gasthaus selbst ist nach Ansicht des Gerichts noch anzunehmen. Das Gebäude wurde unstreitig bis Ende 2011 als Gastwirtschaft genutzt. Auch hier gilt, dass eine Prägung nicht bereits mit Ende der Nutzung als aktive Gaststätte Ende 2011 endete. Entscheidend ist vielmehr, ob nach der Verkehrsauffassung mit der Wiederaufnahme der Nutzung zu rechnen war. Das ist vorliegend der Fall. Zwischen der Aufgabe der Nutzung als Gasstätte und der Antragstellung durch die Beigeladenen zu 1) und 2) sind 6 Jahre vergangen. Eine äußerlich sichtbare Beseitigung von Bausubstanz des zwar nicht unter Denkmalschutz stehenden, aber doch historisch erwähnten Gebäudes erfolgte nicht. Dies und auch die zentrale Lage des Gebäudes sprechen dafür, dass mit einer Wiederaufnahme einer Nutzung als Gaststätte zu rechnen war. Ein eindeutiger Aufgabewille bezüglich einer Nutzung als Gaststätte bis zum Zeitpunkt der Antragstellung durch die Beigeladenen zu 1) und 2) ist nicht erkennbar. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Zeitenmodell des Bundesverwaltungsgerichts. Dieses wurde im Zusammenhang mit der erleichterten Zulassung der „alsbaldigen Neuerrichtung eines zulässigerweise errichteten, durch Brand, Naturereignisse oder andere außergewöhnliche Ereignisse zerstörten, gleichartigen Gebäudes an gleicher Stelle“ entwickelt (BVerwG, U.v. 18.5.1995 – 4 C 20/94 -, BVerwGE 98, 235-248 – juris) und zunächst auf die Frage des Bestandsschutzes übertragen. Danach rechnet die Verkehrsauffassung im ersten Jahr nach der Zerstörung eines Bauwerks stets mit dem Wiederaufbau. Eine Einzelfallprüfung erübrigt sich. Im zweiten Jahr nach der Zerstörung spricht für die Annahme, dass die Verkehrsauffassung einen Wiederaufbau noch erwartet, eine Regelvermutung, die im Einzelfall jedoch entkräftet werden kann, wenn Anhaltspunkte für das Gegenteil vorhanden sind. Nach Ablauf von zwei Jahren kehrt sich diese Vermutung um. Aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.7.1987 ist jedoch bereits erkennbar, dass allgemein darauf abgestellt wird, bis wann mit einem Wiederaufbau bzw. einer Wiederaufnahme der Nutzung nach der Verkehrsausfassung zu rechnen ist (vgl. BVerwG, B.v. 10.7.1987 – 4 b 147/87 – juris). Dies zugrundegelegt, ist gerade bei einer noch vorhandenen Bausubstanz ein großzügigerer Maßstab anzulegen (siehe auch oben), als wenn der Wiederaufbau eines beseitigten Gebäudes in Frage steht. Hierfür spricht auch die Regelung des § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BauGB, die gerade auch dem Bestandsschutz bei vorhandener Bausubstanz Rechnung trägt und sogar für den grundsätzlich von Bebauung freizuhaltenden Außenbereich einen Zeitraum von 7 Jahren vorsieht. Es ist daher auch eine Prägung des Gebiets durch das ehemalige Gasthaus noch anzunehmen.
Nach alledem ist insgesamt davon auszugehen, dass eine Gemengelage vorliegt und sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens damit nach § 34 Abs. 1 BauGB richtet. Ein Berufen der Kläger auf den Gebietserhaltungsanspruch scheidet damit bereits aus diesem Grunde aus. Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im unbeplanten Innenbereich wendet, kann im Fall einer Gemengelage klageweise mit Einwendungen gegen die Nutzungsart nur dann durchdringen, wenn die angefochtene Baugenehmigung gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – beck-online).
Lediglich ergänzend wird angemerkt, dass auch im Falle des Vorliegens eines faktischen allgemeinen Wohngebiets i.S.d. § 4 BauNVO das Berufen auf den Gebietserhaltungsanspruch für die Kläger nicht zielführend gewesen wäre. Unabhängig davon, ob und in welchem Umfang das geplante Vorhaben vorliegend dem Beherbergungsgewerbe zuzuordnen ist, scheidet ein Anspruch jedenfalls deswegen aus, weil ein Boardinghouse im allgemeinen Wohngebiet nicht gebietsfremd ist. Ein Boardinghouse stellt eine Übergangsform zwischen einer Wohnnutzung und einem Beherbergungsbetrieb dar, wobei die schwerpunktmäßige Zuordnung von den konkreten Verhältnissen des Einzelfalls abhängt (vgl. OVG BW, B.v 6.7.2006 – OVG 2 S 2.06 – BauR 2006, 1711 – juris; OVG MV, U.v. 19.2.2014 – 3 L 212/12 – BauR 2015, 81 – juris). Soweit eine solche Nutzung schwerpunktmäßig als Wohnen ohne die für einen Beherbergungsbetrieb typischen Dienstleistungsbereiche, wie etwa Speise- und Aufenthaltsräume mit zugehörigem Personalservice, erfolgen würde, läge dies innerhalb der einer Wohnnutzung eigenen Variationsbreite und wäre nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO im allgemeinen Wohngebiet allgemein zulässig. Ginge die Nutzung darüber hinaus und wäre sie als Beherbergungsbetrieb zu qualifizieren, läge wegen der ausnahmsweisen Zulässigkeit von Beherbergungsbetrieben im allgemeinen Wohngebiet (vgl. § 4 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO) ebenfalls keine den Gebietserhaltungsanspruch auslösende gebietsfremde Nutzung vor (vgl. BayVGH, B.v. 9. 12.2016 – 15 CS 16.1417 – juris m.w.N.).
Auch auf eine Verletzung der Kläger im Gebot der Rücksichtnahme, welches vorliegend im Einfügensgebot des § 34 Abs. 1 BauGB gesetzlich verankert ist, liegt nicht vor. Dies gilt selbst unter der Annahme, dass auch die Wohnungen und Apartments dem Beherbergungsgewerbe zuzurechnen wären. Insbesondere ergibt sich eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme nicht aufgrund der Stellplatzsituation.
Dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und was dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Begünstigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständiger und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris).
Das Gebot der Rücksichtnahme ist verletzt, wenn durch das geplante Vorhaben die Nutzung des Nachbargrundstücks unzumutbar beeinträchtigt wird. Das kann beim Fehlen von erforderlichen Stellplätzen ausnahmsweise der Fall sein, wenn der durch den Stellplatzmangel bewirkte Park- und Parksuchverkehr den Kläger unzumutbar beeinträchtigt oder wenn die bestimmungsgemäße Nutzung dessen Grundstücks nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich ist.
Nicht entscheidend hierfür ist, ob hinsichtlich der streitgegenständlichen Baugenehmigung die Stellplatzpflicht im Einklang mit Art. 47 BayBO erfüllt wird, da diese Norm dem öffentlichen Interesse dient und nicht nachbarschützend ist (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, B.v. 5.3.2014 – 2 M 154/13 – juris). Entscheidend ist vorliegend vielmehr, ob durch die fehlende Forderung von Stellplätzen in der streitgegenständlichen Baugenehmigung ein Parkplatzsuchverkehr ausgelöst wird, der zu unzumutbaren Beeinträchtigungen für die Kläger führt. Soweit die Kläger befürchten, dass auf Grund eines Zuparkens der Engstellen vor ihrem Anwesen Einsätze von Rettungsfahrzeugen oder der Feuerwehr beeinträchtigt werden könnten, ist anzumerken, dass individuelles Fehlverhalten außer Betracht zu bleiben hat. So kann eine Behinderung durch nicht regelgerechtes Parken der streitgegenständlichen Baugenehmigung nicht angelastet werden. Ihm ist vielmehr mit entsprechenden Regelungen durch die Straßenverkehrsbehörde und einer Überwachung dieser entgegenzutreten. Bislang wurden solche Maßnahmen nicht als erforderlich gesehen. Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger in der Erreichbarkeit oder Nutzbarkeit ihres Anwesens durch die streitgegenständliche Baugenehmigung bei einer Nutzung des Anwesens im genehmigten Umfang (5 Wohnungen, 3 Apartments und 8 Fremdenzimmer) bei regelgerechtem Verhalten der Gäste unzumutbar beeinträchtigt würden, bestehen nicht. Auch wenn den Klägern zuzugeben ist, dass ein Vorhandensein von nur 6 dem Vorhaben zugeordneten Stellplätzen in natura unbefriedigend sein mag, ergibt sich hieraus noch nicht per se eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme. Wie ausgeführt, bedürfte es hier – unabhängig von der Frage, ob die fehlenden Stellplätze überhaupt der streitgegenständlichen Baugenehmigung angelastet werden können – jedenfalls unzumutbarer Auswirkungen auf die Kläger, was bei der Größe des Vorhabens nicht zu erwarten ist. Die Kläger sind Anlieger einer öffentlichen Straße und müssen mit Verkehrsbewegungen auf dieser rechnen. Besonderheiten eines Parkplatzsuchverkehrs gegenüber normalen Verkehrsbewegungen auf der am Anwesen der Kläger vorbeiführenden Straße vermag das Gericht nicht zu erkennen. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit das streitgegenständliche Vorhaben zum vorgetragenen Verkehrschaos führen soll. Anders als bei Veranstaltungen, z.B. in Sportstätten oder Gasthäusern, ist bei einem Beherbergungsbetrieb nicht mit einer gleichzeitigen An- und Abreise der Gäste zu rechnen, die im Übrigen auch in ihrer Anzahl bei der vorgesehenen Größe nicht vergleichbar sein dürften.
Soweit die Kläger vorbringen, dass der Dorfplatz nun ein Ort der Ruhe und Beschaulichkeit sei, ist dies für eine Verletzung der Kläger in ihren eigenen Rechten nicht relevant. Die Kläger sind nicht die Sachwalter des Dorfplatzes und können sich auch nicht auf ihr Bedürfnis nach Ruhe auf einem öffentlichen Platz berufen, der im Übrigen teilweise als Parkplatz genutzt wird.
Auch bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das streitgegenständliche Vorhaben durch seine Nutzung – sowohl Wohnen als auch Beherbergungsgewerbe – sonstige gegenüber den Klägern rücksichtslose Auswirkungen hat, zumal hierbei auch von einer gewissen Vorbelastung durch das ehemalige Gasthaus auszugehen ist (s.o.). Einen Anspruch der Kläger, dass es auch in Zukunft so ruhig bleibt, wie zu Zeiten des Leerstandes des ehemaligen Gasthauses, gibt es jedoch nicht.
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Dabei waren die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) und 2) nicht aus Billigkeitsgründen gemäß § 162 Abs. 3 VwGO für erstattungsfähig zu erklären, weil sie keinen Antrag gestellt und daher auch kein Prozesskostenrisiko getragen haben (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO). Der Beigeladene zu 3) stellte hingegen einen Antrag, so dass eine hälftige Kostentragung der Verfahrenskosten angemessen erscheint (§ 154 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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