Aktenzeichen 4 C 2/20
Leitsatz
Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle aus kerntechnischen Anlagen ist in einem Gewerbegebiet (§ 8 BauNVO) bauplanungsrechtlich unzulässig.
Verfahrensgang
vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 12. Februar 2020, Az: 3 A 505/18, Urteilvorgehend VG Frankfurt, 30. Januar 2018, Az: 8 K 767/14.F, Urteil
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Zwischenlagers für radioaktive Abfälle in einem Gewerbegebiet.
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Die Klägerin begehrt eine Baugenehmigung für den Umbau und die Nutzungsänderung eines Lagergebäudes (Halle 15) in ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle aus kerntechnischen Anlagen. Die Abfälle sind auf der Basis der “Endlagerungsbedingungen Konrad” konditioniert. Für die Lagerung sowie Transport- und Umschlagvorgänge hat die Klägerin eine strahlenschutzrechtliche Genehmigung beantragt. Über den Antrag ist noch nicht entschieden.
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Das Vorhabengrundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 1102.01 “Nord-Ost/Technologiepark” vom 7. Dezember 2009, der in der Fassung nach dem ersten ergänzenden Verfahren vom 25. September 2017 dem Urteil des Berufungsgerichts zugrunde liegt. Nach einem zweiten ergänzenden Verfahren wurde der Bebauungsplan am 14. Dezember 2020 erneut beschlossen und mit Rückwirkung zum 13. Januar 2010 bekannt gemacht. Er setzt in allen Fassungen für das Vorhabengrundstück ein Gewerbegebiet fest.
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Die Beklagte lehnte den Bauantrag ab. Das Verwaltungsgericht gab der Klage statt; das Vorhaben sei im Gewerbegebiet als Lagerhaus zulässig. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Das Vorhaben widerspreche dem Bebauungsplan, der ein Gewerbegebiet festsetze. Es handle sich weder um ein Lagerhaus noch um einen nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieb. Bei der bauplanungsrechtlichen Beurteilung müssten die von dem Zwischenlager ausgehenden Emissionen und Gefahren einschließlich strahlenschutzrechtlicher Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle könne – wie sich unter anderem aus § 35 Abs. 1 Nr. 7 BauGB sowie den atom- und strahlenschutzrechtlichen Vorschriften ergebe – aufgrund der davon ausgehenden besonderen Gefährdungen nicht in einem Gewerbegebiet angesiedelt werden.
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Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Die Annahme, ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle sei erheblich belästigend, könne nicht auf atom- oder strahlenschutzrechtliche Normen gestützt werden. Diese dürften im Baugenehmigungsverfahren nicht geprüft werden. Der Privilegierungstatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 7 BauGB sei nicht einschlägig. Ein baurechtlich relevantes Störpotenzial radioaktiver Abfälle könne auch nicht aus einem allgemeinen Erfahrungssatz hergeleitet werden.
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Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
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Die Revision ist unbegründet. Das angefochtene Urteil verstößt nicht gegen revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO).
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Der Verwaltungsgerichtshof hat zu Recht angenommen, dass das Zwischenlager im Gewerbegebiet bauplanungsrechtlich unzulässig und nicht genehmigungsfähig ist.
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1. Maßgeblich für die Revisionsentscheidung ist der Bebauungsplan Nr. 1102.01 in der Fassung vom 14. Dezember 2020. Das Revisionsgericht hat Rechtsänderungen, die während des Revisionsverfahrens eintreten, in gleichem Umfang zu berücksichtigen wie die Vorinstanz, wenn sie jetzt entschiede. Weil eine Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung nur begründet ist, wenn im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Genehmigungsanspruch besteht, müsste auch der Verwaltungsgerichtshof die Änderungen des Bebauungsplans Nr. 1102.01 berücksichtigen (BVerwG, Urteil vom 19. April 2012 – 4 C 10.11 – Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 386 Rn. 8 m.w.N.). An der Festsetzung eines Gewerbegebietes (§ 1 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 8 BauNVO) hat indessen auch das zweite ergänzende Verfahren nichts geändert. Einwände gegen die Wirksamkeit des Bebauungsplans in der aktuellen Fassung, insbesondere gegen die Festsetzung “Gewerbegebiet”, wurden nicht erhoben.
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2. Nach § 8 Abs. 1 BauNVO dienen Gewerbegebiete vorwiegend der Unterbringung von nicht erheblich belästigenden Gewerbebetrieben. Allgemein zulässig sind gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO u.a. Gewerbebetriebe aller Art und Lagerhäuser.
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a) Die Revision wendet sich gegen die Annahme des Berufungsgerichts, das Vorhaben sei kein Lagerhaus. Ob dies zutrifft, kann dahinstehen. Lagerhäuser können zugleich Gewerbebetriebe im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 2001 – 4 C 18.00 – Buchholz 406.12 § 5 BauNVO Nr. 8 S. 6). Auch sie dürfen aber – wie die Gewerbebetriebe aller Art – den in § 8 Abs. 1 BauNVO normierten Störgrad (“nicht erheblich belästigend”) nicht überschreiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2021 – 4 CN 8.19 – ZfBR 2021, 874 Rn. 12).
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b) Das Zwischenlager für radioaktive Abfälle ist kein “nicht erheblich belästigender” Betrieb.
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Ob ein Gewerbebetrieb erheblich belästigend ist, beurteilt sich im Ausgangspunkt nach einer – eingeschränkten – typisierenden Betrachtungsweise (grundlegend BVerwG, Urteil vom 3. Februar 1984 – 4 C 54.80 – BVerwGE 68, 342 ; ferner BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 – 7 C 7.92 – Buchholz 406.12 § 15 BauNVO Nr. 22 S. 11). Der konkrete Betrieb ist als unzulässig einzustufen, wenn Betriebe seines Typs üblicherweise für die Umgebung in diesem Sinne erheblich belästigend wirken; auf das Maß der konkret hervorgerufenen oder in Aussicht genommenen Störungen kommt es grundsätzlich nicht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. November 2021 – 4 C 5.20 – juris Rn. 10 m.w.N.).
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Für die typisierende Betrachtung des Störpotentials kann die Normanwendung Erfahrungssätze heranziehen. Sie kann sich aber auch auf normative Wertungen stützen, denen ihrerseits Tatsachenannahmen oder Gefahreneinschätzungen zugrunde liegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 – 7 C 7.92 – Buchholz 406.12 § 15 BauNVO Nr. 22 S. 13 f. sowie Beschlüsse vom 2. Februar 2000 – 4 B 87.99 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 163 S. 12 und vom 27. Juni 2018 – 4 B 10.17 – Buchholz 406.12 § 6 BauNVO Nr. 19 Rn. 12).
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Ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle aus kerntechnischen Anlagen weist ein Gefahrenpotential auf, das den im Gewerbegebiet zulässigen Störgrad typischerweise überschreitet. Diese Gefahreneinschätzung kann den einschlägigen atom- und strahlenschutzrechtlichen Vorschriften entnommen werden (aa) und kommt auch in § 35 Abs. 1 Nr. 7 BauGB zum Ausdruck (bb).
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aa) Nach den auf die Betriebsbeschreibungen der Klägerin gestützten Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts sollen in Halle 15 für ca. zehn Jahre radioaktive Abfälle aus kerntechnischen Anlagen gelagert werden, die auf der Basis der “Endlagerungsbedingungen Konrad” konditioniert sind (UA juris Rn. 50). An diese nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen ist der Senat gebunden (§ 137 Abs. 2 VwGO).
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Für den Umgang mit solchen Stoffen und ihre Entsorgung haben der Gesetz- und Verordnungsgeber im Atom- und Strahlenschutzrecht spezielle Regelungen getroffen (vgl. Verordnung über Anforderungen und Verfahren zur Entsorgung radioaktiver Abfälle vom 29. November 2018, BGBl. I S. 2071; Gesetz zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlung vom 27. Juni 2017, BGBl. I S. 1966). Die Atomrechtliche Entsorgungsverordnung enthält u.a. Regelungen zu Anfall, Verbleib, Erfassung, Behandlung, Verpackung, Abgabe und Empfang radioaktiver Abfälle sowie sicherheitstechnischen Anforderungen (§§ 1 ff. AtEV). Nach § 5 Abs. 1 AtEV sind die Abfälle an eine Anlage des Bundes zur Sicherstellung und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle abzuliefern. Bis zu ihrem Abruf durch die Bundesgesellschaft für Endlagerung müssen sie zwischengelagert werden (§ 7 AtEV). Hierfür bedarf es einer Genehmigung nach § 12 Abs. 1 Nr. 3 StrlSchG. Die Klägerin hat eine strahlenschutzrechtliche Genehmigung im Jahr 2005 – damals noch nach § 7 Strahlenschutzverordnung a.F. – beantragt, der Antrag ist noch nicht beschieden (UA juris Rn. 12, 27). Zu den Genehmigungsvoraussetzungen gehören u.a. die erforderliche Fachkunde im Strahlenschutz, das notwendige Wissen und die notwendigen Fertigkeiten im Hinblick auf die mögliche Strahlengefährdung und die anzuwendenden Schutzmaßnahmen sowie Anforderungen an die Ausrüstungen und den Schutz gegen Störmaßnahmen oder sonstige Einwirkungen Dritter (vgl. § 13 StrlSchG).
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Diese Vorschriften können zur sachgerechten Konkretisierung des Begriffs “nicht erheblich belästigender Gewerbebetrieb” herangezogen werden. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass beim Umgang mit radioaktiven Abfällen aus kerntechnischen Anlagen und ihrer Zwischenlagerung typischerweise die Gefahr schädlicher Umwelteinwirkungen durch ionisierende Strahlung für die Umgebung besteht. Sie kennzeichnen ein anlagentypisches Gefahrenpotential, das auch bauplanungsrechtlich unterstellt werden darf und muss; insoweit gilt nichts anderes als im Immissionsschutzrecht (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 – 7 C 7.92 – Buchholz 406.12 § 15 BauNVO Nr. 22 S. 13 f. und Beschluss vom 2. Februar 2000 – 4 B 87.99 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 163 S. 12).
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bb) Von einem anlagentypischen Gefahrenpotential, das die Schwelle zur erheblichen Belästigung überschreitet, geht auch der Privilegierungstatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 7 BauGB aus.
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Nach dieser Vorschrift ist ein Vorhaben im Außenbereich privilegiert, wenn es der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken oder der Entsorgung radioaktiver Abfälle dient, mit Ausnahme der Neuerrichtung von Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität. Sie findet auch auf Zwischenlager für radioaktive Abfälle Anwendung, denn die Zwischenlagerung dient deren Entsorgung (vgl. VGH München, Urteil vom 24. Mai 1984 – 2 B 83 A. 850 – NVwZ 1984, 740; OVG Münster, Urteil vom 22. Oktober 1987 – 21 A 330/87 – NVwZ 1988, 554 ; VGH Mannheim, Urteil vom 22. Oktober 2002 – 3 S 1689/01 – juris Rn. 25 ff.; Dürr, in: Brügelmann, BauGB, Bd. 3, Stand Oktober 2021, § 35 Rn. 132 f.; Mitschang/Reidt, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Aufl. 2022, § 35 Rn. 56; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2021, § 35 Rn. 59 h).
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§ 35 Abs. 1 Nr. 7 BauGB geht zurück auf das sog. Wyhl-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 1985 – 7 C 65.82 – (BVerwGE 72, 300) zu § 35 Abs. 1 Nr. 5 BBauG (in der Fassung vom 18. August 1976, BGBl. I S. 2221; vgl. § 35 Abs. 1 Nr. 4 BauGB). Danach sollten Kernkraftwerke wegen des ihnen eigenen Gefahrenpotentials und im Hinblick auf die mit ihrem Betrieb verbundenen Emissionen radioaktiver Stoffe grundsätzlich im Außenbereich ausgeführt werden; dafür spreche auch das schon bei der atomrechtlichen Standortprüfung zu beachtende Strahlenminimierungsgebot (a.a.O. S. 326). Der Gesetzgeber hat das Urteil zum Anlass genommen, im Baugesetzbuch 1986 für Vorhaben, die der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken oder der Entsorgung radioaktiver Abfälle dienen, einen eigenständigen Privilegierungstatbestand im Außenbereich zu schaffen (vgl. BT-Drs. 10/5027 S. 9, BT-Drs. 10/6166 S. 132). An der Privilegierung von Anlagen zur Entsorgung von Abfällen aus kerntechnischen Anlagen hat er auch nach dem sog. Atomausstieg bei der Neufassung im Rahmen der Klimaschutz-Novelle 2011 festgehalten (vgl. BT-Drs. 17/6357 S. 3).
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Der Privilegierungstatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 7 BauGB trägt damit auch in der geltenden Fassung dem Strahlenminimierungsgebot Rechnung, das zu den zentralen objektiv-rechtlichen Grundsätzen des Strahlenschutzrechts gehört. Es gebietet, Strahlenexpositionen oder Kontaminationen auch unterhalb der Grenzwerte so gering wie vernünftigerweise erreichbar zu halten (vgl. etwa § 8 Abs. 2 StrlSchG). Die Ansiedlung der von § 35 Abs. 1 Nr. 7 BauGB erfassten Anlagen im Außenbereich trägt dazu bei, die Expositionsrisiken der wohnenden und arbeitenden Bevölkerung so gering wie möglich zu halten. Aus der Privilegierung eines Vorhabens im Außenbereich folgt zwar nicht, dass es nicht durch förmliche Planung ermöglicht werden könnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2018 – 4 C 5.17 – BVerwGE 163, 313 Rn. 11). Auch bei einer Planung käme aber für ein Zwischenlager für radioaktive Abfälle aus kerntechnischen Anlagen nur ein Baugebiet in Betracht, in dem vorwiegend Betriebe mit erheblichem Belästigungspotential zulässig sind.
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2. Selbstständige Ausführungen zu einem (ungeschriebenen) Tatbestandsmerkmal der Gebietsverträglichkeit sind danach nicht veranlasst (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. März 2019 – 4 C 5.18 – Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 21 Rn. 19). Denn die Beschränkung des § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO auf nicht erheblich belästigende Gewerbebetriebe ergibt sich bereits aus der vom Verordnungsgeber festgelegten Zweckbestimmung für das Gewerbegebiet in § 8 Abs. 1 BauNVO.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.