Baurecht

Bauvorbescheid für Wohnanlage verletzt wegen mangelnder Bestimmtheit Nachbarrechte

Aktenzeichen  M 8 K 15.395

Datum:
14.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO BayBO Art. 59 Abs. 1, Art. 71 S. 1
BauGB BauGB § 34 Abs. 1, § 35
BGB BGB § 1011

 

Leitsatz

1. Nachbarrechte werden verletzt, wenn infolge der Unbestimmtheit einer Baugenehmigung oder eines Vorbescheids nicht ausgeschlossen werden kann, dass das genehmigte Vorhaben gegen nachbarschützendes Recht, insbesondere gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt. (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch bei einem Zusammentreffen gleichartiger Nutzungen kann im Einzelfall eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme in Frage kommen, insbesondere wenn die Intensität der geplanten Nutzung offen ist und darüber hinaus besondere Umstände vorliegen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid vom 23. Dezember 2014, Plan-Nr. …, wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte und die Beigeladene haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.
Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage ist zulässig, da die Kläger als Miteigentümer befugt sind, Beeinträchtigungen des Grundstücks, an dem ihr Miteigentum besteht, durch das Nachbargrundstück oder auf diesem beabsichtigte oder verwirklichte Bauvorhaben abzuwehren, § 1011 BGB.
Sie hat auch in der Sache Erfolg, da der Vorbescheid aufgrund seiner mangelnden Bestimmtheit Nachbarrechte der Kläger verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. Art. 59 Abs. 1, Art. 71 Satz 1 BayBO).
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung – und insoweit auch gegen einen Vorbescheid – nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn der angefochtene Vorbescheid/die Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B. v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris RdNr. 20, 22).
1. Ob sich die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 Abs. 1 BauGB oder – wovon die Beklagte ausgeht – nach § 35 BauGB richtet, kann vorliegend offen bleiben.
Aufgrund der Unbestimmtheit der Vorbescheidsfragen in Verbindung mit der Plandarstellung kann weder die Gebietsverträglichkeit des Vorhabens – soweit es sich nach § 34 Abs. 1 BauGB richten würde – noch dessen Vereinbarkeit mit dem im Falle einer Beurteilung nach § 35 BauGB allein zur Anwendung kommenden Rücksichtnahmegebot beurteilt werden.
Dementsprechend ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass Nachbarrechte auch dann verletzt werden, wenn infolge der Unbestimmtheit einer Baugenehmigung oder auch eines Vorbescheids nicht ausgeschlossen werden kann, dass das genehmigte Vorhaben gegen nachbarschützendes Recht, insbesondere gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt (BayVGH, U. v. 20.5.1996 – 2 B 94.1513, BayVBl. 1997, 405 f.; BayVGH, U. v. 8.8.2000 – 26 B 96.1956 – juris).
1.1 Nach seinem objektiv-rechtlichen Gehalt schützt das Gebot der Rücksichtnahme – soweit es in Bezug auf den Außenbereich zur Anwendung kommt – die Nachbarschaft vor unzumutbaren Einwirkungen, die von einem Vorhaben ausgehen (BVerwG, U. v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – BRS 38 Nr. 186). Eine besondere gesetzliche Ausformung hat es in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB mit dem Begriff der schädlichen Umwelteinwirkungen gefunden. Es betrifft jedoch auch Fälle, in denen sonstige nachteilige Wirkungen in Rede stehen (vgl. BVerwG, U. v. 21.1.1983 – 4 C 59.79 – BRS 40 Nr. 199 und U. v. 28.11.2004 – 4 C 1.04 – UPR 2005, 150 und B. v. 11.12.2006 – 4 B 72.06 – juris RdNr. 4).
1.2 Unabhängig von der Frage der Gebietsverträglichkeit im Falle einer Prüfung nach § 34 Abs. 1 BauGB verletzt der streitgegenständliche Vorbescheid die Nachbarrechte der Kläger, da die zu den Fragen 1 bis 3 ergangene, sehr allgemein formulierte Beantwortung dieser Fragen im Zusammenhang mit der wenig konkreten, zum Teil im Widerspruch zur Bezeichnung des Vorhabens stehenden Plandarstellung auch hier nicht zulässt, das streitgegenständliche Vorhaben auf seine Vereinbarkeit mit dem Gebot der Rücksichtnahme zu prüfen.
1.3 Das Gebot der Rücksichtnahme zielt darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen können, möglichst zu vermeiden. Gegenläufige Nutzungsinteressen sollen in rücksichtsvoller Weise zugeordnet und unter Beachtung des jeweils widerstreitenden Interesses ausgeübt werden (BVerwG, U. v. 25.2.1977 – IV C 22.75 – BVerwGE 52, 122). Zwar kann vorliegend nicht außer Acht gelassen werden, dass hier unabhängig von der Frage, ob das streitgegenständliche Grundstück dem Außenbereich oder noch dem Innenbereich zuzuordnen ist, Bestandswohnnutzung auf geplante Wohnnutzung trifft, was im Regelfall eine Unverträglichkeit ausschließt. Im Einzelfall kann auch bei einem Zusammentreffen gleichartiger Nutzungen eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots in Frage kommen, insbesondere wenn die Intensität der geplanten Nutzung offen ist und darüber hinaus besondere Umstände vorliegen.
1.4 Eine solche Fallkonstellation, wie die oben beschriebene, ist vorliegend gegeben, da sowohl der Umfang des Vorhabens völlig offen ist, als auch die Frage der Erschließung hinsichtlich des fließenden und des ruhenden Verkehrs ausgeblendet wird, obwohl aufgrund der Erschließungssituation in der …-straße insoweit erheblicher Klärungsbedarf besteht.
1.4.1 Trotz der Bezeichnung des Vorhabens als „Wohnanlage mit Tiefgarage sowie einer Kindertagesstätte“ ist weder eine Tiefgarage noch deren Zufahrt und erst recht nicht die Anzahl der Stellplätze im Vorbescheidsantrag festgelegt. Im Hinblick darauf, dass auch die Anzahl der Wohneinheiten in den acht Mehrfamilienhäusern offen gelassen wird, lässt sich das Ausmaß des durch das Vorbescheidsvorhaben ausgelösten zusätzlichen Verkehrsaufkommens auch nicht annähernd abschätzen. Auch die dem Vorbescheidsantrag beigefügte Wohnflächenberechnung lässt keine konkreten Rückschlüsse auf die Anzahl der Wohneinheiten und den damit zu erwartenden Verkehr zu. Dies gilt umso mehr, als diese Wohnflächenberechnung dem Gericht ohnehin nicht plausibel erscheint. Nach dem im Plan dargestellten Haustyp, der offenbar bei allen acht Mehrfamilienhäusern verwirklicht werden soll, beinhaltet die Wandhöhe von 6,30 m einen Kniestock von 0,6 m (abgegriffen) für das Dachgeschoss unter dem 38,5° geneigten Satteldach. Diese Plandarstellung drängt den Schluss, dass hier auch die Dachgeschosse ausgebaut werden sollen, geradezu auf, so dass sich die angegebene Wohnfläche bei Realisierung der Mehrfamilienhäuser mit den angegebenen Höhen, Längen und Breitenmaßen erheblich vergrößern dürfte und damit auch die Problematik des hierdurch ausgelösten fließenden und ruhenden Verkehrs. Soweit die Anzahl der Wohneinheiten und damit auch das hierdurch ausgelöste zusätzliche Verkehrsaufkommen völlig offen gelassen wird, lässt sich dies auch im Vorbescheidsverfahren nicht ohne weiteres mit der Feststellung rechtfertigen, dass die Emissionen und Störungen eines durch zulässige Wohnnutzung ausgelösten Verkehrsaufkommens in der Regel als sozialadäquat hinzunehmen sind. Gerade eine solche Regelfallbetrachtung erfordert konkrete Zahlen, die vorliegend nicht vorhanden sind. Abgesehen davon haben gemeinschaftliche Stellplatzanlagen mehrerer Wohnbauvorhaben – und um eine solche dürfte es sich hier voraussichtlich handeln – gravierendere Auswirkungen auf ihre Umgebung als einzelnen Wohnbauvorhaben zugeordnete Stellplätze/Stellplatzanlagen. Um insoweit beurteilen zu können, welche Auswirkungen von derartigen Anlagen auf die Umgebung ausgehen (können), muss ihr Umfang wenigstens annähernd festgelegt sein.
1.4.2 Dazu kommt vorliegend auch die spezielle Verkehrssituation in der …-straße, die einen fließenden Begegnungsverkehr ausschließt. Wie beim Augenschein festgestellt werden konnte, handelt es sich bei der …-straße um eine sehr schmale Straße, deren tatsächliche Fahrbahnbreite im Bereich zwischen … Straße und …-Straße lediglich knapp 4 m aufweist, da sie hier an der Westseite über entsprechend tiefe Parkbuchten mit dazwischenliegenden Grüninseln verfügt. Im Einfahrtsbereich von der … Straße wird die …-straße durch eine Parkbucht auf der Ostseite zusätzlich verschmälert. Auch ist die …-straße als Spielstraße ausgestaltet; inwieweit sich diese Ausgestaltung als Spielstraße mit der von der Beklagten angeführten Qualität einer Durchgangsstraße (vgl. Schriftsatz vom 29.2.2016 S. 6 Zeile 7) vereinbaren lässt, bleibt für das Gericht unerfindlich. Zwar verbreitert sich die …-straße zwischen der …-Straße und der …-Straße auf eine Fahrbahnbreite von 5,50 m; allerdings ist auch hier aufgrund der Möglichkeit sowohl auf der Ost- als auch auf der Westseite der …-straße zu parken der Begegnungsverkehr deutlich eingeschränkt.
Die Struktur und die Ausgestaltung der …-straße legt nahe, dass die Abwicklung des mit dem Wohnbauvorhaben verbundenen zusätzlichen – wohl nicht unerheblichen – Verkehrsaufkommens über diese Straße kaum in einer, den Nachbarn noch zumutbaren Weise stattfinden kann.
Auch hinsichtlich der Tiefgaragenzufahrt für die – wohl – geplante Tiefgarage erscheint eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme gegenüber den Klägern nicht ausgeschlossen. Die Situierung direkt gegenüber dem Anwesen der Kläger ist naheliegend, da dies zumindest den Vorteil hätte, dass ein Teil des Verkehrs in die …-Straße abgeleitet werden könnte. Inwieweit eine solche Tiefgaragenzufahrt den Klägern an dieser Stelle zumutbar ist, lässt sich mit den im Vorbescheidsantrag gemachten Angaben bzw. der eingeschränkten Plandarstellung nicht mit der nötigen Sicherheit beantworten, so dass auch insoweit eine Nachbarrechtsverletzung in Form eines Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme nicht ausgeschlossen werden kann.
Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus den §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO stattzugeben.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
schriftlich beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 7.500,- festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG- i. V. m. Ziffer 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.


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