Baurecht

Drittschützende Wirkung von Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung

Aktenzeichen  1 EO 201/21

Datum:
29.7.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Thüringer Oberverwaltungsgericht 1. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:OVGTH:2021:0729.1EO201.21.00
Normen:
§ 88 VwGO
§ 146 Abs 4 S 3 VwGO
§ 146 Abs 4 S 4 VwGO
§ 22 Abs 1 BauNVO
§ 22 Abs 4 BauNVO
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

1. Für den Antrag eines Nachbarn auf vorläufigen Rechtsschutz entfällt das Rechtsschutzbedürfnis regelmäßig mit Fertigstellung des Rohbaus des angegriffenen Bauvorhabens.(Rn.18)
2. Wegen der städtebaulichen Ordnungsfunktion werden Festsetzungen im Bebauungsplan in erster Linie aus städtebaulichen Gründen getroffen.(Rn.21)
3. Eine Gemeinde darf – mit Ausnahme der Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung – im Grunde selbst entscheiden, ob sie eine Festsetzung auch zum Schutze Dritter trifft (BVerwG, Urt. v. 16. 09.1993 – 4 C 28/91 -).(Rn.21)
4. Ob und inwieweit eine Norm des Bauplanungsrechts betroffenen Nachbarn Abwehrrechte einräumt, ist durch Auslegung zu ermitteln.(Rn.21)
5. Ob Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch darauf gerichtet sind, dem Schutz der Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Plangeber ab (BVerwG, Beschl. v. 19. Oktober 1995 – 4 B 215/95 -).(Rn.22)

Verfahrensgang

vorgehend VG Weimar, 2. März 2021, 4 E 74/21 We, Beschluss

Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Weimar vom 2. März 2021 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird unter gleichzeitiger Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung für beide Rechtszüge auf jeweils 20.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich als Eigentümerin des nördlich der W…-…… gelegenen Grundstücks Gemarkung Erfurt-Mitte, Flur 47, Flurstück a, gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung. Die Beigeladene beabsichtigt, entlang der gegenüberliegenden Straßenseite der W… auf ihren ebenfalls in der Gemarkung Erfurt-Mitte, Flur 47 gelegenen Flurstücken …b, …c, …d und …e vier Mehrfamilienhäuser zu errichten. Sämtliche Grundstücke liegen im Geltungsbereich des am 14. Juli 2006 in Kraft getretenen Bebauungsplans EFN 083 „Wohngebiet Ringelberg“ – 2. Änderung -.
Die W… durchzieht das Baugebiet „Am Ringelberg“ von Nordosten nach Westen. Zwischen dem nördlichen und dem südlichen Fahrstreifen verlaufen zwei Straßenbahngleisstränge. In der Verlängerung der W… nach Westen befindet sich die Wendeschleife der Straßenbahn. Vor dem Grundstück der Antragstellerin liegt die Straßenbahnhaltestelle R…. Die Straße ist zwischen dem Grundstück der Antragstellerin im Baufeld Q und den Baugrundstücken der Beigeladenen im Baufeld R einschließlich der beidseitig verlaufenden Gehwege etwa 21 m breit.
Das Grundstück der Antragstellerin und die ihm gegenüberliegenden Bauflächen der Beigeladenen liegen in einem Baublock 106, die östlich gelegenen Bauflächen in einem Baublock 105. Der Bebauungsplan setzt für den Baublock 106 ein Allgemeines Wohngebiet (WA) mit Einzelhäusern in offener Bauweise, zwei bis drei Vollgeschosse, eine Grundflächenzahl von 0,4, eine Geschossflächenzahl von 1,0, Pult- bzw. Flachdächer mit einer Neigung von 0 bis 16 Grad und eine Traufhöhe von 6 m bei zweigeschossiger und 9 m bei dreigeschossiger Bebauung fest. Abweichend davon sind für den Baublock 105 zwingend drei Vollgeschosse vorgeschrieben und von § 22 Abs. 1 BauNVO abweichende Bauweisen gemäß § 22 Abs. 4 BauNVO zulässig.
Das Grundstück der Antragstellerin ist mit einem zweigeschossigen Wohngebäude bebaut.
Unter dem 11. Dezember 2019 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen eine Teilbaugenehmigung für den Bauabschnitt „Haus 1“ inklusive der entsprechenden Freianlagen. Mit Bescheid vom 25. Februar 2020 genehmigte die Antragsgegnerin die Errichtung von vier Mehrfamilienhäusern mit Tiefgarage und erteilte zugleich Befreiungen hinsichtlich der Überschreitung der zulässigen 3 Vollgeschosse zugunsten eines weiteren Staffelgeschosses, der Überschreitung der Traufhöhe von 9 auf 11,8 m, der Überschreitung der Geschossflächenzahl um 0,15, der Unterschreitung der Baulinie durch Vordächer, der Überschreitung der maximal zulässigen Grundflächenzahl durch die Tiefgarage, der Überschreitung der rückwärtigen Baugrenze durch die Tiefgarage und Tiefgaragenzufahrt, der Vollversiegelung der Zufahrt und der Höhe der Stützmauer im Bereich der Garagenzufahrt.
Am 18. September 2020 erhob die Antragstellerin Widerspruch gegen die ihr nicht bekannt gegebene Baugenehmigung.
Die Rohbauarbeiten zum Haus 1 wurden zum 16. Oktober 2020 fertiggestellt.
Am 20. Januar 2021 hat die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht Weimar um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Mit Beschluss vom 2. März 2021 hat das Verwaltungsgericht den Antrag abgelehnt. Die Antragstellerin sei antragsbefugt. Ihr Rechtsbehelf werde aber aller Wahrscheinlichkeit nach in der Hauptsache keinen Erfolg haben. Nach summarischer Prüfung im Eilverfahren ergebe sich nicht, dass die Antragstellerin durch die Baugenehmigung vom 25. Februar 2020 mit den darin enthaltenen Befreiungen in ihren Rechten verletzt werde.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde. Die Antragsgegnerin tritt der Beschwerde entgegen und die Beigeladene schließt sich dem mit eigenem Antrag an.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten (zwei Heftungen) und die vorgelegten Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin (zwei Ordner und zwei Heftungen), die Gegenstand der Beratung waren.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Das Erfordernis eines bestimmten Antrags (§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO) ist erfüllt, auch wenn die wörtlich gestellten Anträge
1. die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin und Beschwerdeführerin gegen die der beigeladenen L… …… mbH erteilte Baugenehmigung, Az.: B 316/2019-1 vom 25. Februar 2020 anzuordnen und
2. der Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin aufzugeben, die von der L……… mbH begonnenen Arbeiten zum Bauvorhaben „Neubau von 4 Mehrfamilienhäusern mit Tiefgarage“ in der W… in E……, Gemarkung Erfurt-Mitte, Flur 47, Flurstücke …b, …c, ……d, …e mit einer für sofort vollziehbar erklärten Verfügung stillzulegen,
anhand des aus der Beschwerdebegründung erkennbaren Willens der Antragstellerin (vgl. § 88 VwGO analog) dahin gehend auszulegen ist, dass sie beantragt,
unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Weimar vom 2. März 2021 – 4 E 74/21 We – die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 25. Februar 2020 anzuordnen und der Beigeladenen die Fortsetzung der Bauarbeiten zu untersagen.
Dabei war zu berücksichtigen, dass der Antrag zu 2. unzulässig wäre, wenn er den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach Maßgabe des § 123 Abs. 1 VwGO bezweckte. Denn gemäß § 123 Abs. 5 VwGO gelten die Vorschriften der Absätze 1 bis 3 nicht für die Fälle der §§ 80 und 80a VwGO. Auch im vorliegenden Fall ist danach vorläufiger Rechtsschutz gemäß § 80a Abs. 3 i. V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu gewähren, da dem gegen die Baugenehmigung erhobenen Widerspruch gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung zukommt. Einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte des Dritten kann das Gericht dabei auf Antrag nach § 80a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 VwGO unmittelbar gegenüber der Beigeladenen treffen (Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/ von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl., 2018, § 80a, Rn. 30).
2. Hinsichtlich des bereits seit dem 16. Oktober 2020 auf dem Flurstück …e im Rohbau fertiggestellten Hauses 1 erweist sich die Beschwerde, die die Antragstellerin insoweit nicht beschränkt hat, nach summarischer Prüfung als unzulässig. Der Antragstellerin fehlte in Ansehung des im Rohbau bereits hergestellten Hauses 1 von Anfang an das auf jeder Stufe des Verfahrens erforderliche Rechtsschutzbedürfnis; sie konnte mit ihrem zunächst an das Verwaltungsgericht gerichteten Antragsbegehren keine Verbesserung ihrer Rechtsstellung (mehr) erreichen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 11. März 1992 – 5 B 32.92 – Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 254 m. w. N.); eine Inanspruchnahme des Verwaltungsgerichts erwies sich nämlich schon bei Antragstellung für ihre subjektive Rechtsstellung als nutzlos (vgl. BVerwG, Beschl. vom 28. August 1987 – 4 N 3.86 – BVerwGE 78, 85, 91). Die Beigeladene hat der Antragsgegnerin schon unter dem 2. Oktober 2020 angezeigt, dass die Rohbauarbeiten an Haus 1 zum 16. Oktober 2020 abgeschlossen sein werden. Dem hat die Antragstellerin auch nicht widersprochen. Damit können die von dem Haus 1 hervorgerufenen negativen Auswirkungen, die die Antragstellerin mit ihrem Antrag abwehren will, durch eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Baugenehmigung vom 25. Februar 2020 nicht mehr verhindert werden. Mit ihrem erst am 20. Januar 2021 beim Verwaltungsgericht eingegangenen Antrag auf vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz macht sie keine Beeinträchtigungen durch die Nutzung des Gebäudes geltend, sondern wendet sich nur gegen die genehmigte Zahl der Vollgeschosse und Überschreitungen der Traufhöhe, der Geschossflächen- und der Grundflächenzahl.
3. Zwar deuten die von der Antragstellerin mit Schriftsatz vom 23. Juli 2021 vorgelegten, nicht datierten Fotografien darauf hin, dass auch die Rohbauten der Häuser 2 bis 4 inzwischen nahezu fertiggestellt wurden, so dass schon viel dafür spricht, dass die Beschwerde auch insoweit inzwischen unzulässig geworden sein könnte. Jedenfalls ist sie aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin zu Recht abgelehnt. Die fristgerecht dargelegten und vom Senat geprüften Beschwerdegründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen weder die mit dem Hauptantrag begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin noch die Stilllegung der Bauarbeiten an den Häusern 2 bis 4. Das Verwaltungsgericht hatte bei seiner Entscheidung das Aufschubinteresse der Antragstellerin und die Interessen der Allgemeinheit und der Beigeladenen an der Vollziehung der angefochtenen Baugenehmigung abzuwägen. Dabei kam den Erfolgsaussichten der Hauptsache, soweit sie sich nach summarischer Prüfung bereits beurteilen ließen, besondere Bedeutung zu. Der Senat teilt die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die angegriffene Baugenehmigung die Antragstellerin nicht in ihren geschützten Nachbarrechten verletzt und nimmt zur Begründung seiner Entscheidung Bezug auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung (§ 122 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Auch aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass sich die Antragstellerin erfolgreich auf einen Anspruch auf Beibehaltung der Gebietsprägung oder auf eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots berufen kann.
Die Darlegungen der Antragstellerin vermögen die tragende Aussage des angefochtenen Beschlusses, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzungen im Hinblick auf die zulässige Zahl der Vollgeschosse, die zulässige Traufhöhe, die Geschossflächenzahl und die Grundflächenzahl nicht nachbarschützend sind, nicht zu erschüttern. Eine nachbarschützende Wirkung der Festsetzungen ergibt sich entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht aus der dem Bebauungsplan beigefügten Begründung.
Grundsätzlich ist durch Auslegung zu ermitteln, ob und inwieweit eine Norm des Bauplanungsrechts betroffenen Nachbarn Abwehrrechte einräumt. Dabei darf die Gemeinde – mit Ausnahme der Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung, die schon kraft Bundesrechts nachbarschützende Wirkung haben – im Grundsatz selbst entscheiden, ob sie eine Festsetzung auch zum Schutze Dritter trifft (vgl. BVerwG, Urt. v. 16. September 1993 – 4 C 28.91 – juris, Rn. 11). Dabei dient der Bebauungsplan mit Rücksicht auf seine städtebauliche Ordnungsfunktion für das Plangebiet zunächst öffentlichen Interessen, weshalb seine Festsetzungen in erster Linie aus städtebaulichen Gründen getroffen werden (OVG Hamburg, Urt. v. 17. Januar 2002 – 2 Bf 359/98 – NordÖR 2002, 454 = juris, dort Rn. 45).
Ob Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch darauf gerichtet sind, dem Schutz der Nachbarn zu dienen, hängt nach der Rechtsprechung vom Willen der Gemeinde als Plangeber ab (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19. Oktober 1995 – 4 B 215.95 – zit. n. juris, dort Rn. 3). Sie dienen dem Nachbarschutz, wenn sie – ausnahmsweise – wechselseitige Beschränkungen oder Begünstigungen für die einbezogenen Grundstücke zur Folge haben (OVG Hamburg, Beschl. v. 25. Juni 2019 – 2 Bs 100/19 – zit. n. juris, dort 28). Der baurechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses, in dem der nachbarliche Interessenkonflikt durch Merkmale der Zuordnung, der Verträglichkeit und der Abstimmung benachbarter Nutzungen geregelt und ausgeglichen ist (BVerwG, Urt. v. 23. August 1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364 <375>). Dieser Gedanke prägt nicht nur die Anerkennung der drittschützenden Wirkung von Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung (BVerwG, Urt. v. 23. August 1996, a. a. O., S. 374 und v. 24. Februar 2000 – 4 C 23.98 – Buchholz 406.12 § 9 BauNVO Nr. 7 S. 3 f.), sondern kann auch eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung rechtfertigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 9. August 2018, a. a. O., dort Rn. 15). Stehen solche Festsetzungen nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis, kommt ihnen nach ihrem objektiven Gehalt eine Schutzfunktion zugunsten der an dem Austauschverhältnis beteiligten Grundstückseigentümer zu. Daraus folgt unmittelbar, dass der einzelne Eigentümer die Maßfestsetzungen aus einer eigenen Rechtsposition heraus gegenüber dem Nachbarn durchsetzen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 23. August 1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364 <376>).
Festsetzungen eines Bebauungsplans können – je nach den Umständen des Falles – Teil eines Austauschverhältnisses sein, wenn mit ihnen die spezifische Qualität des Plangebiets (oder auch nur eines seiner Baugebiete) und damit dessen Gebietscharakter begründet werden soll. Das setzt eine konzeptionelle Einbindung einer derartigen Ausweisung in den Bebauungsplan voraus (BVerwG, Beschl. v. 21. Dezember 1994 – 4 B 261.94 – zit. n. juris, dort Rn. 10). Stehen solche Festsetzungen nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis, kommt ihnen nach ihrem objektiven Gehalt eine Schutzfunktion zugunsten der an dem Austauschverhältnis beteiligten Grundeigentümer zu. Derartige Festsetzungen müssen in einem vergleichbaren Maße wie die Bestimmung der Art der baulichen Nutzung den besonderen Gebietscharakter formen, wobei sie nicht notwendigerweise der Art der baulichen Nutzung zu dienen haben. Ihre Bedeutung für den Gebietscharakter muss ein derartiges Gewicht haben, das zur Wahrung des erzielten Ausgleichs ein Eingreifen der Nachbarn auch ohne deren konkrete Beeinträchtigung notwendig erscheint. Der Nachbarschutz auf der Grundlage eines wechselseitigen Austauschverhältnisses ist nicht von der konkreten Beeinträchtigung des Nachbarn abhängig (so BVerwG, Urt. v. 9. August 2018, a. a. O., dort Rn. 22; BVerwG, Beschl. v. 18. Dezember 2007 – 4 B 55.07 – zit. n. juris, dort Rn. 5).
Dabei liegt es auf der Hand, dass nicht jede Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung zugleich eine spezifische Gebietsqualität begründet. Sie lassen in aller Regel den Gebietscharakter unberührt und haben regelmäßig nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke, weshalb zum Schutz des Nachbarn das drittschützende Rücksichtnahmegebot grundsätzlich ausreicht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23. Juni 1995 – 4 B 52.95 – BauR 1995, 396 = juris, dort Rn. 4). Dies gilt gleichermaßen für die Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche und zur Bauweise. So begründet die Festsetzung von zwei oder drei Vollgeschossen sowie einer Grundflächenzahl von 0,4 – wie hier im Baublock 106 – entgegen der Ansicht der Antragstellerin noch keine spezifische Qualität bzw. eine besondere Eigenart des Baugebiets (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 25. Juni 2019, a. a. O. dort Rn. 30). Die Eigenart des Baugebiets wird nach dem Willen der Antragsgegnerin vielmehr durch den Geschosswohnungsbau mit größeren Bauhöhen an der zentralen Achse und den Wohnstraßen und eine Abnahme der Höhe und Dichte der Bebauung hin zu den Randbereichen geprägt (vgl. Nr. 8.2 der Begründung). Dieses Prinzip wird entlang der W…, der Haupterschließungsachse des Gebiets, und insbesondere auch durch das Bauvorhaben der Beigeladenen, mit einer Ausrichtung der Gebäudekörper in Ost-West-Richtung ganz überwiegend eingehalten. Einzig das Gebäude der Antragstellerin und ihre beiden westlichen Nachbargebäude weichen davon ab, indem sie die für die nördlich angrenzenden Grundstücke vorgegebene Ausrichtung von Süd nach Nord fortsetzen und sich die Freiflächen der Grundstücke entlang der W…… von Ost nach West erstrecken.
Der Begriff des Austauschverhältnisses ist nicht bundesrechtlich determiniert. Er ist nicht beschränkt auf Beziehungen, deren gegenseitige Verpflichtungen den Charakter eines Synallagmas („do ut des“) aufweisen (BVerwG, Urt. v. 9. August 2018, a. a. O., dort Rn. 20). In einem Austauschverhältnis wird planerisch ein Interessenkonflikt durch die Zuordnung von Nutzungen ausgeglichen, die mit dem Ziel der gegenseitigen Verträglichkeit aufeinander abgestimmt sind. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird dadurch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundeigentümer diesen Beschränkungen unterworfen sind (BVerwG, Urt. v. 16. September 1993 – 4 C 28.91 – zit. n. juris, dort Rn. 12; Beschl. v. 18. Dezember 2007 – 4 B 55.07 – zit. n. juris, dort Rn. 5) und alle Grundeigentümer an den dadurch entstehenden Vorteilen für die ganze Gruppe partizipieren. Der Nachbar darf darauf vertrauen, dass der Bebauungsplan in gleicher Weise für alle übrigen Grundeigentümer der vom Plangeber bestimmten Gruppe verbindlich ist und ihm damit die Vorteile zugutekommen, die mit der Begründung des Austauschverhältnisses gesichert werden sollten. Dabei ist kein sachlicher Grund erkennbar, dass diese Beschränkungen stets gleichartig und von gleichem Ausmaß sein müssten. Ergibt sich das Austauschverhältnis aus der Begründung eines bestimmten Gebietscharakters, so formen dessen Anforderungen Art und Ausmaß der jeweiligen Beschränkungen.
Anhaltspunkte dafür, ob ausnahmsweise ein derartiges wechselseitiges Austauschverhältnis vorliegt, können sich im Einzelfall aus der Begründung und den Aufstellungsakten des Bebauungsplans und letztlich im Wege der Auslegung aus der planerischen Konzeption ergeben, in dem die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers steht. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es zu den Aufgaben des Bauplanungsrechts gehört, die einzelnen Grundstücke einer auch im Verhältnis untereinander verträglichen Nutzung zuzuführen (BVerwG, Urt. v. 11. Mai 1989 – 4 C 1.88 – BVerwGE 82, 61 = juris, dort Rn. 43). Je mehr Bedeutung eine Festsetzung für den Ausgleich möglicher Bodennutzungskonflikte hat, desto eher könnte sie Bestandteil eines wechselseitigen Ausgleichsverhältnisses sein (OVG Hamburg, Beschl. v. 25. Juni 2019, a. a. O., dort Rn. 32).
Es spricht viel dafür, dass die Antragstellerin, deren Grundstück im Baufeld Q des Bebauungsplans liegt, sich gegenüber einer im mindestens 21 m entfernt liegenden Baufeld R erteilten Baugenehmigung hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung von vornherein nicht auf ein solches Austauschverhältnis berufen kann. Letztlich kann diese Frage offenbleiben. Zwar hat der Plangeber für den Geschosswohnungsbau entlang der Planungsachsen sowie an den Wohnstraßen eine dreigeschossige Bebauung in seine Planung aufgenommen, es fehlt aber jeder Hinweis darauf, dass er die festgesetzten unterschiedlichen Bauhöhen innerhalb oder außerhalb der Baufelder zueinander in eine Beziehung setzen wollte, um damit auch das nachbarschaftliche Austauschverhältnis zu regeln. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, ist vorliegend nicht zu erkennen, dass der Plangeber mit den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und zur überbaubaren Grundstücksfläche durch Baulinien und Baugrenzen auch den nachbarlichen Interessenaustausch berücksichtigen wollte. Zu Recht führt das Gericht aus, dass das im Bebauungsplan EFN 083 „Wohngebiet Ringelberg“ – 2. Änderung -, zum Ausdruck kommende Planungskonzept zur Schaffung eines Wohngebiets mit unterschiedlichen Bau- und Wohnformen nach den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung und den überbaubaren Grundstücksflächen für eine nachbarschützende Zielsetzung der jeweiligen Festsetzungen nichts hergibt. Es deutet vielmehr alles darauf hin, dass allein städtebauliche Überlegungen zur Gliederung des großflächigen Neubaugebiets zu diesen Festsetzungen führten. Dafür spricht insbesondere die Erläuterung des Planungskonzepts unter Nr. 7 der Begründung, wonach es der Plangeberin bei der Planung des Wohngebiets um eine eindeutige Orientierung und einen unverwechselbaren Charakter und die Berücksichtigung der topographischen Besonderheiten durch eine Orientierung des Erschließungssystems (der Straßen) an der Höhenentwicklung im Baugebiet mit einer Aufnahme von Sichtbezügen zur Erfurter Innenstadt, insbesondere zum Dom ging, also um eine Betonung der Straßenachsen durch die höhere Bebauung entlang den Erschließungsachsen. Auch der zitierten Begründung zur 1. Änderung des Bebauungsplans (Beschwerdebegründung vom 1. April 2021, Seite 4 f.) zum „städtebaulichen Konzept“ lässt sich nicht entnehmen, dass den konkret festgesetzten Bauhöhen entlang den das Plangebiet umschließenden Haupterschließungsstraßen nach dem Willen der Plangeberin für das gesamte Plangebiet auch eine nachbarschützende Wirkung zukommen sollte. Sie verfolgte das städtebaulich bedeutsame Planungsziel, Raumkanten zu bilden und durch die Festsetzung von Dachformen und -neigungen zu gewährleisten, dass keine krassen Übergänge entstehen und sich die Hausformen aneinander anpassen. Damit verfolgte die Antragstellerin, wie in der oben zitierten Überschrift dieses Begründungsteils schon ausgedrückt, ganz offensichtlich allein städtebauliche Absichten und nicht die Regelung der nachbarschaftlichen Austauschverhältnisse. Unabhängig davon, ob der Vortrag der Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 23. Juli 2021 bezogen auf den Vorhabenbezogenen Bebauungsplan KRV513 und den Bebauungsplan KRV619 (Blatt 5 des Schriftsatzes) nicht ohnehin als verspätet zurückzuweisen ist, weil er nicht binnen der Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO vorgebracht wurde, lässt sich aus den zitierten Begründungsteilen auch nichts entnehmen, was – neben den unzweifelhaft städtebaulichen Zielen – auf eine nachbarschützende Zielsetzung der hier umstrittenen planerischen Festsetzungen schließen lassen könnte.
Soweit sich die Antragstellerin der Sache nach auf einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot beruft, weil das Gesamtbauvorhaben, bestehend aus insgesamt vier sehr nah beieinander stehenden und nach gleichem architektonischen Muster geplanten Wohnbaukomplexen in jedem Fall übermächtig und dominant wirke, fehlt es an einem hinreichend substantiierten Vorbringen. Es setzt sich mit der Begründung des Verwaltungsgerichts, das als Maßstab für die Verletzung des Rücksichtnahmegebots auf eine qualifizierte Störung im Sinne einer Unzumutbarkeit abgestellt hat, nicht auseinander. Der Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass angesichts der entfernten Lage des Wohngrundstücks der Antragstellerin auf der anderen Straßenseite und angesichts der zwischen den einzelnen Häusern bestehenden Abstände keine unzumutbare Beeinträchtigung vorliege, begegnet sie mit der bloßen Behauptung, es ergebe sich gerade aus der Entfernung von ihrem Grundstück aus der Eindruck, dass es sich bei der auf knapp 200 Meter erstreckenden optisch gleichen Bebauung um einen mehr oder weniger zusammenhängenden Gesamtkomplex handele, der im Vergleich zu der umstehenden Bebauung übermächtig und herrschend wahrgenommen werde. Damit legt sie aber keine unzumutbare oder rücksichtslose Bebauung zu Lasten ihres Grundstücks dar. Insbesondere ist nicht im Ansatz erkennbar, dass die mindestens 21 m entfernt liegenden Häuser allein oder in ihrer Gesamtheit, ihrem Vorhaben „die Luft nimmt“ (vgl. dazu den angegriffenen Beschluss, dort Seite 9), zumal die Sichtbeziehung zum Bauvorhaben der Beigeladenen – wie auf dem mit Schriftsatz vom 23. Juli 2021 vorgelegten Foto eindeutig erkennbar ist – durch eine mit zweigleisig in Senklage geführten Straßenbahnschienen von Oberleitungen überspannte Straße ohnehin unterbrochen ist.
Soweit sich die anwaltlich vertretene Antragstellerin ohne nähere Ausführungen und insbesondere ohne näheres Eingehen auf die Begründung der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung im Weiteren auf ihren erstinstanzlichen Tatsachenvortrag und die dort eingereichten Beweismittel bezieht, kann sie damit ihrer Darlegungspflicht nach § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht nachkommen. Es liegt auf der Hand, dass es insoweit an der notwendigen Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Sinne des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO fehlt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, der Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, die im Beschwerdeverfahren einen Antrag gestellt hat und daher auch ein Kostenrisiko eingegangen ist (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 47 GKG. Gemäß § 52 Abs. 1 GKG ist der Streitwert in verwaltungsgerichtlichen Verfahren „nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen“, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Bei der Bemessung des mit einer Nachbarklage verfolgten wirtschaftlichen Interesses orientiert sich der Senat an den Empfehlungen des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31. Mai / 1. Juni 2012 und am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen (zu finden etwa unter www.bverwg.de). Nach Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs wird für Nachbarklagen ein Streitwertrahmen von 7.500 EUR bis 15.000 EUR vorgeschlagen, soweit nicht ein höherer wirtschaftlicher Schaden feststellbar ist.
Richtet sich eine Nachbarklage gegen die Genehmigung eines Mehrfamilienhauses, hält der Senat regelmäßig einen Betrag von 10.000 EUR für angemessen (Beschl. v. 20. Juli 2016 – 1 VO 376/16 – juris), so dass sich hier wegen der streitgegenständlichen vier Mehrfamilienhäuser im Hauptsacheverfahren ein Streitwert von 40.000 EUR ergäbe, den der Senat für das vorliegende Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes in Anlehnung an Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs halbiert.
Soweit die Antragstellerin gemäß § 80a Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 Nr. 2 VwGO einstweilige Maßnahmen gegenüber der Beigeladenen zur Sicherung ihrer Rechte begehrt, soll durch Anordnung des Gerichts der Eintritt vollendeter Tatsachen verhindert werden. Zu einer Erhöhung des Streitwerts führt dies nicht.
Die Befugnis zur Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 3 GKG.
Hinweis:
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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