Baurecht

Drittschutz bei Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans bezüglich der Baugrenze bei benachbartem Waldgrundstück

Aktenzeichen  W 4 K 16.599

Datum:
31.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

Wenn von nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans gemäß § 31 Abs. 2 BauGB befreit worden ist (hier von der Baugrenze bei einem benachbarten Waldgrundstück), hat der Nachbar über die das Rücksichtnahmegebot konkretisierende „Würdigung nachbarlicher Interessen“ hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung oder Einhaltung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben gesamtschuldnerisch die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung des Landratsamts Aschaffenburg vom 5. April 2016, über die das Gericht, nachdem die Parteien ihr Einverständnis erklärt haben, ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet, da die Kläger durch die streitgegenständliche Genehmigung nicht in drittschützenden Rechten verletzt werden, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dabei ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Verstößt ein Vorhaben gegen eine drittschützende Vorschrift, die im Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen ist und trifft die Baugenehmigung insoweit keine Regelung, ist der Nachbar darauf zu verweisen, Rechtsschutz gegen das Vorhaben über einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die Ausführung dieses Vorhabens zu suchen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 – 4 B 244/96, NVwZ 1998, 58 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 14.10.2008 – 2 CS 08.2132 – juris Rn. 3).
Da das beantragte Bauvorhaben keinen Sonderbau im Sinne des Art. 2 Abs. 4 BayBO darstellt, wurde es zu Recht im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren gemäß Art. 59 BayBO genehmigt. Da keine Abweichungen im Sinne des Art. 63 BayBO beantragt oder erteilt wurden und die Baugenehmigung auch nicht andere öffentlich-rechtliche Entscheidungen substituiert, umfasst der Prüfungsmaßstab für das streitgegenständliche Vorhaben gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO nur die Übereinstimmung des Vorhabens mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB sowie den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinne des Art. 81 Abs. 1 BayBO.
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens richtet sich vorliegend nach § 30 Abs. 1 BauGB, da das Vorhaben im Geltungsbereich des Bebauungsplans „…“ der Gemeinde W … ausgeführt werden soll. Damit ist das Vorhaben nach § 30 Abs. 1 BauGB nur zulässig, wenn es den Festsetzungen des Bebauungsplans nicht widerspricht und die Erschließung gesichert ist.
Dass das streitgegenständliche Vorhaben der Beigeladenen nach der Art der baulichen Nutzung in einem allgemeinen Wohngebiet, wie dies vorliegend der Bebauungsplan „…“ vorsieht, zulässig ist, wird von der Klägerseite nicht substantiiert in Frage gestellt.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aufgrund des Umstands, dass die Baugrenzen überschritten wurden und die Dachneigung 35 Grad statt der im Bebauungsplan vorgesehenen 25 Grad beträgt. Denn das Landratsamt Aschaffenburg hat für die abweichende Ausführung die erforderliche Befreiung erteilt.
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplan befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und
1. Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern, oder
2. die Abweichung städtebaulich vertretbar ist, oder
3. die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Hinsichtlich des Nachbarschutzes bei Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans muss unterschieden werden, ob die Vorschrift, von der befreit wird, ihrerseits unmittelbar nachbarschützend ist oder aber nicht. Im ersten Fall kann das Fehlen einer der objektiven Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB für die Gewährung einer Befreiung zu einer Verletzung von Nachbarrechten führen, da ein Verstoß gegen eine unmittelbar nachbarschützende Vorschrift vorliegt. Im zweiten Fall fehlt es an einer solchen Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift aufgrund unzutreffender Annahme der Befreiungsvoraussetzungen. Nachbarschutz kommt hier nur im Rahmen des Rücksichtnahmegebots in Betracht (BVerwG v. 19.9.1986 – 4 C 8/84 – juris). Grundsätzlich vermitteln Bebauungsplanfestsetzungen keinen allgemeinen, auf Plangewährleistung gerichteten Anspruch. Die nachbarschützende Wirkung ist für jede einzelne Festsetzung zu überprüfen und durch Auslegung des jeweiligen Bebauungsplans sowie der Begründung zu ermitteln.
Hinsichtlich der nachbarschützenden Wirkung von Festsetzungen eines Bebauungsplans ist zu beachten, dass diese – mit Ausnahme der Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung – nicht schon kraft Gesetzes nachbarschützende Wirkung entfalten. Dies gilt namentlich für die Regelungen zu überbaubaren Grundstücksflächen (vgl. BVerwG v. 19.10.1995 – 4 B 215/95 – juris) und zum Maß der baulichen Nutzung (vgl. BVerwG v. 11.3.1994 – 4 B 53.94 – juris), da sie grundsätzlich ausschließlich im öffentlichen Interesse zur städtebaulichen Ordnung erlassen werden. Die Frage der drittschützenden Wirkung solcher Regelungen hängt damit wesentlich von der Auslegung des Bebauungsplans und damit vom Willen der planenden Gemeinde ab. Ob eine Festsetzung nicht nur der Gestaltung des jeweiligen Ortsbilds, sondern auch dem Schutz eines bestimmbaren und von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises dient, kann sich deshalb nur aus dem Bebauungsplan selbst oder aus seiner Begründung ergeben (vgl. BVerwG v. 9.10.1991 – 4 B 137/91 – juris). Wie weit die drittschützende Wirkung einer Festsetzung reicht, muss sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Inhalt der erlassenen Vorschrift oder aus den übrigen, objektiv erkennbaren Umständen ergeben. Lässt sich daraus eine solche Zweckbestimmung nicht hinreichend erkennen, ist eine nachbarschützende Wirkung abzulehnen.
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Ausführungen geht die Kammer davon aus, dass die Regelungen im Bebauungsplan „…“ zur Dachneigung jedenfalls keinerlei Nachbarschutz entfalten, da weder der Bebauungsplan, noch die Begründung eine solche Zweckbestimmung erkennen lassen.
Aber auch die Regelung zur hinteren Baugrenze wirkt nicht nachbarschützend. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vortrag des Klägervertreters im Klageschriftsatz, der meint, die rückwärtige Baugrenze markiere die Baumfallgrenze, die den Eigentümer eines Baugrundstücks vor Schäden und den Eigentümer des Waldgrundstücks vor erhöhten Sicherungspflichten und einer Haftung aus Verletzung von Verkehrssicherungspflichten schützen solle. Wie das Landratsamt Aschaffenburg in seiner Stellungnahme vom 4. Juli 2016 an das Verwaltungsgericht Würzburg zu Recht ausführt, ist weder dem Bebauungsplan, noch dessen Begründung zu entnehmen, dass die rückwärtige Baugrenze die Baumfallgrenze markieren solle. Es wird im Bebauungsplan „…“ lediglich festgesetzt, dass aufgrund des geringen Abstandes von jedem Bauherrn eine Haftungsausschlusserklärung vorzulegen sei. Daraus kann geschlossen werden, dass die Gemeinde im Bebauungsplan gerade keine Festsetzungen hinsichtlich einer Zone treffen wollte, die aufgrund der Nähe zu einem Wald bzw. zu einzelnen Bäumen nicht mit Gebäuden überbaut werden dürfe. Nach Überzeugung der Kammer gibt es daher keine Anhaltspunkte dafür, dass die festgesetzte hintere Baugrenze im Zusammenhang mit dem sich außerhalb des Geltungsbereichs des Bebauungsplans befindlichen Wald gebracht werden kann.
Wenn aber von nicht nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans gemäß § 31 Abs. 2 BauGB befreit worden ist, hat der Nachbar über die das Rücksichtnahmegebot konkretisierende „Würdigung nachbarlicher Interessen“ hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung oder Einhaltung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB (vgl. BVerwG v. 8.7.1998 – 4 B 64/98 – juris). Es ist folglich nicht entscheidungserheblich, ob durch die erteilte Befreiung die Grundzüge der Planung berührt werden oder eine städtebauliche Vertretbarkeit gegeben ist.
Die im streitgegenständlichen Bescheid enthaltene Befreiung ist gegenüber dem klägerischen Anwesen auch nicht rücksichtslos.
Das Gebot der Rücksichtnahme (grundlegend BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22/75 – BVerwGE 52, 122) soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten. Die an das Gebot der Rücksichtnahme zu stellenden Anforderungen hängen im Wesentlichen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die vorzunehmende Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dies beurteilt sich nach der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmeberechtigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, die er mit dem Vorhaben verfolgt, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die dem Kläger aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihm als Nachbarn billigerweise noch zumutbar ist (Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 13. Aufl. 2016, § 35 Rn. 78).
In der Rechtsprechung ist insbesondere anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78; B.v. 20.9.1984 – 4 B 181/84; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34/85 – alle juris). Anhaltspunkte sind insoweit vorliegend nicht gegeben und von der Klägerseite auch nicht vorgetragen. Ebenso sind wesentliche Beeinträchtigungen der Belichtung, Besonnung und Belüftung des Grundstücks der Kläger nicht zu verzeichnen.
Ein Abwehranspruch ergibt sich für die Kläger entgegen ihrer Auffassung auch nicht aus Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BayBO. Nach dieser Vorschrift sind bauliche Anlagen so anzuordnen, zu errichten, zu ändern und in Stand zu halten, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben oder Gesundheit, und die natürlichen Lebensgrundlagen nicht gefährdet werden. Art. 4 Abs. 1 Nr. 1 BayBO fordert für die Errichtung eines Gebäudes, dass das Grundstück u.a. nach seiner Lage für die beabsichtigte Bebauung überhaupt geeignet ist. Ein Grundstück ist von seiner Lage her geeignet, wenn durch die Situierung des Gebäudes keine Gefahren für Leib, Leben oder Sachgüter für das Gebäude und seine Benutzer ausgehen. Unabhängig davon, dass diese Vorschriften im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 überhaupt nicht Gegenstand der genehmigungsrechtlichen Prüfung sind, ist es in der Rechtsprechung geklärt, dass einer Baumwurfgefahr grundsätzlich nicht bei der Entscheidung über den Bauantrag Rechnung zu tragen ist, sondern deren Vermeidung in aller Regel in den Verantwortungsbereich des verkehrssicherungspflichtigen Waldbesitzers fällt (vgl. BayVGH v. 14.1.1997 2 B 94, 4017 und v. 18.6.1997 14 CS 978.1591 – jeweils juris; vgl. auch VGH Baden-Württemberg v. 16.10.1996 NVwZ-RR 1998, 96).
Im Übrigen liegen auch die Voraussetzungen dieser Vorschriften nicht vor, denn entsprechend dem allgemeinen Sicherheitsrecht fordert die obergerichtliche Rechtsprechung (vgl. BayVGH v. 28.12.1998 – 14 B 95.1255 – juris Rn. 23) einen Gefahrenzustand, der den Eintritt eines Schadens mit Wahrscheinlichkeit erwarten lässt. Die nur entfernte Möglichkeit eines Schadeneintritts oder allgemeine Vermutungen reichen nicht aus. Erforderlich ist somit eine konkrete Gefahr, die dann anzunehmen ist, wenn ein Schaden bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im konkret zu beurteilenden Einzelfall in der überschaubaren Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintritt (vgl. BayVGH v. 28.12.1998, a.a.O.). Eine solche hinreichend konkrete Gefahr lässt sich vorliegend allerdings nicht erkennen. Sie ergibt sich insbesondere nicht aus der Stellungnahme des Amtes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Karlstadt, vom 27. November 2015. Dort heißt es ausdrücklich, dass eine konkrete Gefahrensituation nicht erkennbar ist.
Die Klage war nach alldem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst, da sie keinen eigenen Antrag gestellt und sich somit nicht einem Kostenrisiko ausgesetzt haben (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 3 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.


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