Baurecht

Eilantrag des Nachbarn gegen Mehrfamilienhäuser

Aktenzeichen  1 CS 21.1506

Datum:
30.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 22474
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34
GG Art. 14 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Ein unmittelbarer Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG zur Begründung des Nachbarschutzes kommt grundsätzlich nicht in Betracht, weil der Gesetzgeber in Ausfüllung seines legislatorischen Gestaltungsspielraums aus Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG nachbarliche Abwehrrechte verfassungskonform ausgestaltet hat und unter Einschluss der Grundsätze des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme ein geschlossenes System des nachbarlichen Drittschutzes bereitstellt. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die Annahme einer Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme genügt es nicht schon, wenn ein Vorhaben die Situation für den Nachbarn nachteilig verändert. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 9 SN 20.5350 2021-05-10 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich als Nachbarn gegen die der Beigeladenen zu 1 erteilte Baugenehmigung für die Errichtung von zwei Mehrfamilienhäusern mit Garage und Stellplätzen. Die Erschließung des Bauvorhabens erfolgt von der gewidmeten Ortsstraße, an die das Wohngrundstück sowie ein weiteres unbebautes Grundstück der Antragsteller unmittelbar angrenzen, und die bislang für die Erschließung von drei östlich der Grundstücke der Antragsteller gelegenen Bestandsgebäude genutzt wird.
Den Antrag, die aufschiebende Wirkung der erhobenen Anfechtungsklage anzuordnen, lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 10. Mai 2021 ab. Die Baugenehmigung verletze die Antragsteller voraussichtlich nicht in ihren Nachbarrechten. Eine Verletzung der Antragsteller in ihren Rechten aufgrund der vorgetragenen Erschießungssituation liege nicht vor. Die mit dem angegriffenen Vorhaben verbundenen Auswirkungen auf die Erschließung seien nicht so gravierend, dass die Schwelle der Rücksichtslosigkeit überschritten werde. Zwar sei ein Begegnungsverkehr an der engsten Stelle der Erschließungsstraße nicht möglich, die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sei jedoch gewährleistet. Eine Rücksichtslosigkeit ergebe sich auch nicht aus der vorgetragenen zeitweisen Situierung eines Teils der Mülltonnen des Bauvorhabens zur Leerung vor dem Wohnhaus der Antragsteller. Für eine etwaige Beschädigung ihres Eigentums aufgrund einer (vermehrten) Benutzung der Erschließungsstraße sei auf den Straßenbaulastträger bzw. den Zivilrechtsweg zu verweisen.
Mit ihrer Beschwerde machen die Antragsteller weiterhin eine Verletzung nachbarschützender Rechte gelten.
Der Antragsgegner beantragt die Zurückweisung der Beschwerde. Die Beigeladenen haben sich nicht geäußert.
Ergänzend wird auf die Gerichtsakten und die Behördenakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung der angegriffenen Entscheidung.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragsteller auf vorläufigen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt. Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung wird die Nachbarklage der Antragsteller gegen die der Beigeladenen zu 1 erteilte Baugenehmigung für die Errichtung von zwei Mehrfamilienhäusern im Hauptsacheverfahren voraussichtlich erfolglos bleiben, sodass das Interesse an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegenüber dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen nachrangig ist. Das Bauvorhaben verstößt weder im Hinblick auf die Erschließung noch auf die Situierung der Mülltonnen gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
1. Die Antragsteller können sich zur Begründung einer Nachbarrechtsverletzung durch die angefochtene Baugenehmigung nicht unmittelbar auf Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG berufen. Dritte – wie hier die Antragsteller als Nachbarn – können sich mit einer Anfechtungsklage nur dann mit Aussicht auf Erfolg gegen einen Baugenehmigungsbescheid zur Wehr setzen, wenn dieser rechtswidrig ist sowie die Rechtswidrigkeit auf der Verletzung einer Norm beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Dritten zu dienen bestimmt ist (vgl. BayVGH, B.v. 26.4.2021 – 15 CS 21.1081 – juris Rn. 23). Ein unmittelbarer Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG zur Begründung des Nachbarschutzes kommt grundsätzlich nicht mehr in Betracht, weil der Gesetzgeber in Ausfüllung seines legislatorischen Gestaltungsspielraums aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nachbarliche Abwehrrechte verfassungskonform ausgestaltet hat und unter Einschluss der Grundsätze des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme ein geschlossenes System des nachbarlichen Drittschutzes bereitstellt (vgl. BVerwG, U.v. 7.11.1997 – 4 C 7.97 – NVwZ 1998, 735; U.v. 23.8.1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364; U.v. 26.9.1991 – 4 C 5.87 – BVerwGE 89, 69; BayVGH, B.v. 26.4.2021 a.a.O.). Allenfalls in Fällen, in denen das genehmigte Bauvorhaben eine unmittelbar gegenständliche Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks zur Folge hat, kann ausnahmsweise über Art. 14 GG ein Genehmigungsabwehranspruch begründet sein (vgl. BayVGH, B.v. 3.1.2018 – 15 ZB 16.2309 – juris Rn. 13; B.v. 21.8.2017 – 1 ZB 14.1989 – juris Rn. 3 jeweils für den Fall, dass die Umsetzung der Baugenehmigung die Begründung oder Ausweitung eines Notwegerechts nach § 917 Abs. 1 BGB auf dem Nachbargrundstück bewirkt). Dass ein solcher Ausnahmefall vorliegt, tragen auch die Antragsteller nicht vor.
2. Das Beschwerdevorbringen ist auch nicht geeignet, die Annahme des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen, dass die Baugenehmigung gegenüber den Antragstellern voraussichtlich nicht rücksichtslos ist. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hängen die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – NVwZ 2005, 328; BayVGH, B.v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris Rn. 16; B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 4).
Daran gemessen hat das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt, dass nach summarischer Prüfung eine unzumutbare Beeinträchtigung der Antragsteller durch die angeführten vorhabenbedingten Auswirkungen auf die Erschließung nicht gegeben ist. Mit der Beschwerde wird nicht in Frage gestellt, dass die Erschließungsstraße schon bisher von den östlich der Grundstücke der Antragsteller gelegenen bestehenden Wohngebäuden benutzt worden ist. Für die Annahme einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots genügt es jedoch nicht schon, wenn ein Vorhaben die Situation für den Nachbarn nachteilig verändert. Eine Unzumutbarkeit wird auch nicht durch den Verweis der Antragsteller auf den Zivilrechtsweg begründet. Denn die Baugenehmigung wird gemäß Art. 68 Abs. 5 BayBO unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt. Die Rechtsbeziehungen regeln sich demnach nicht zwischen dem Dritten und der Behörde, sondern ausschließlich mit dem Bauherrn. Soweit die Antragsteller in diesem Zusammenhang geltend machen, dass der Verweis auf den Zivilrechtsweg dem Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG widerspreche, da sie die Fahrer der Fahrzeuge, die Schäden an ihrem Eigentum verursachen, regelmäßig nicht ermitteln könnten, übersehen sie, dass das Verwaltungsgericht zutreffend (auch) auf die etwaige Inanspruchnahme des zuständigen Straßenbaulastträgers nach dem Bayerischen Straßen- und Wegegesetz und den daraus resultierenden Verkehrssicherungspflichten verwiesen hat.
Das Beschwerdevorbringen legt darüber hinaus nicht dar, dass sich das Bauvorhaben im Hinblick auf die Situierung der Mülltonnen als rücksichtlos erweist. Das Verwaltungsgericht hat dazu zu Recht auf die regelmäßigen Leerungszeiten, die Lage der Mülltonnen in ausreichender Entfernung von dem Wohngebäude bzw. dem Arbeitszimmer der Antragsteller sowie auf die Möglichkeit der ausreichenden Belüftung des Arbeitszimmers mittels eines vom Abholplatz entfernteren Fensters hingewiesen. Im Übrigen kann die behauptete Geruchsbelästigung allenfalls an wenigen (Sommer-)Tagen mit hohen Temperaturen auftreten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG in Verbindung mit Nummern 9.7.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben