Baurecht

Eilantrag des Nachbarn gegen Mehrfamilienhaus im unbeplanten Innenbereich

Aktenzeichen  1 CS 20.1955

Datum:
2.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30358
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3
BauGB § 34
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Bei jüngeren Bebauungsplänen dürfte angesichts der Dogmatik zu deren Drittschutz Einiges dafür sprechen, dass für den Plangeber ohne Weiteres die Möglichkeit besteht, Regelungen durch Dokumentation eines entsprechenden Willens nachbarschützend auszugestalten. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Anzahl der Wohnungen in einem Gebäude und regelmäßig auch die Möglichkeit, von dem zu errichtenden Gebäude in andere Grundstücke Einsicht zu nehmen, sind keine Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob sich ein Vorhaben iSv § 34 Abs. 1 BauGB einfügt. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das Gebot der Rücksichtnahme ist keine allgemeine Härteklausel, die über den speziellen Vorschriften des Städtebaurechts oder des gesamten öffentlichen Baurechts steht. Der Rückschluss aus dem Abstandflächenrecht auf eine mögliche Verletzung von Nachbarrechten kann nur in besonders gelagerten Fällen zur Unzulässigkeit eines Bauvorhabens führen, das die abstandsflächenrechtlichen Vorschriften nicht verletzt. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
4. Vorhaben, die den maßgeblichen Rahmen einhalten oder ihn zwar überschreiten, die städtebauliche Situation aber nicht verschlechtern, fügen sich in der Regel nach § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB ein. Unter dieser Voraussetzung kommt den Interessen des Bauherrn an der Realisierung seines Vorhabens grundsätzlich ein gewisser Vorrang vor den Interessen der Nachbarn zu, von Beeinträchtigungen verschont zu bleiben. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 9 SN 20.2188 2020-08-11 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
Die im Beschwerdeverfahren innerhalb der gesetzlichen Begründungsfrist dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung der angegriffenen Entscheidung. Bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung hat das Verwaltungsgericht den Antrag der Antragstellerin auf vorläufigen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt, da die Klage gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit acht Wohnungen mit Doppelparkgaragen und oberirdischen Stellplätzen im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Die angefochtene Baugenehmigung vom 13. September 2019 verstößt, worauf es allein ankommt, nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften, die zumindest auch dem Schutz der Antragstellerin zu dienen bestimmt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. In bauplanungsrechtlicher Hinsicht beurteilt sich das Vorhaben nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bzw. nach § 34 Abs. 2 BauGB in Verbindung mit der einschlägigen Baugebietsvorschrift der Baunutzungsverordnung. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht ausgeführt, dass der Einwand der Antragstellerin, das Vorhaben füge sich nicht im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung in die nähere Umgebungsbebauung ein, nicht zu einer möglichen Verletzung der Rechte der Antragstellerin führt. Die Frage, ob sich das Bauvorhaben nach dem Maß der baulichen Nutzung einfügt, dient grundsätzlich nicht dem Nachbarschutz (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – NVwZ 1996, 170; BayVGH, B.v. 13.3.2014 – 15 ZB 13.1017 – juris Rn. 7). Soweit die Antragstellerin unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in der sogenannten „Wannsee-Entscheidung“ (Urteil vom 9. August 2018 – 4 C 7.17) insoweit die pauschale Ablehnung der Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch das Verwaltungsgericht beanstandet, macht sie einen Nachbarschutz auf der Grundlage eines wechselseitigen Austauschverhältnisses in Bezug auf die Einfügungskriterien des § 34 Abs. 1 BauGB, soweit es das Maß der baulichen Nutzung und die zu überbauende Grundstücksfläche anbelangt, geltend. Die von der Antragstellerin aufgeführte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts betrifft eine drittschützende Wirkung zu Festsetzungen eines (übergeleiteten) Bebauungsplans. Danach können Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch dann drittschützende Wirkung entfalten, wenn der Bebauungsplan aus einer Zeit stammt, in der man ganz allgemein an einen nachbarlichen Drittschutz aus Festsetzungen eines Bebauungsplans noch nicht gedacht hat. Denn der baurechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses, in dem der nachbarliche Interessenkonflikt durch Merkmale der Zuordnung, der Verträglichkeit und der Abstimmung benachbarter Nutzungen geregelt und ausgeglichen wird. Dieser Gedanke prägt nicht nur die Anerkennung der drittschützenden Wirkung von Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung, sondern kann auch eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung rechtfertigen. Die in Frage stehenden Festsetzungen müssen aber nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis stehen, damit den Festsetzungen nach ihrem objektiven Gehalt Schutzfunktion zugunsten der am Austauschverhältnis beteiligten Grundstückseigentümer zukommt (vgl. BVerwG, U.v. 9.8.2018 – 4 C 7.17 – BVerwGE 162, 363; U.v. 23.8.1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364; U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151). Entgegen der Auffassung der Antragstellerin folgt daraus aber kein genereller Gebietserhaltungsanspruch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung. Bereits bei jüngeren Bebauungsplänen dürfte Einiges dafür sprechen, dass angesichts der Dogmatik zum Drittschutz durch Bauleitplanung für den Plangeber ohne Weiteres die Möglichkeit besteht, entsprechende Regelungen durch Dokumentation eines entsprechenden Willens nachbarschützend auszugestalten (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – BayVBl 2020, 704). Jedenfalls ist eine entsprechende Zwecksetzung der Gemeinde erforderlich, die im unbeplanten Innenbereich aber gerade fehlt (vgl. OVG SH, B.v. 12.5.2020 – 1 MB 9.20 – juris Rn. 7; NdsOVG, B.v. 9.3.2020 – 1 ME 154.19 – juris Rn. 8). Einen solchen vom Planungswillen der Gemeinde abhängigen ausnahmsweisen Drittschutz hat die Antragstellerin im Übrigen nicht dargelegt. Der bloße Hinweis, die nähere Umgebung sei von Gebäuden mit nur einem Obergeschoss in aufgelockerter Bebauung geprägt und damit die Behauptung einer entsprechenden Genehmigungspraxis der Gemeinde, genügt nicht.
Auch soweit die Antragstellerin sinngemäß einen aus § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO abgeleiteten Anspruch auf Wahrung der typischen Prägung des Gebiets (Gebietsprägungsanspruch) geltend macht, bleibt die Beschwerde ohne Erfolg. Die Umgebung wird durch Wohngebäude geprägt, weshalb die geplante Wohnnutzung der gebietstypischen Prägung „Wohnen“ nicht widerspricht. Für das von den Antragstellern angedeutete Umschlagen von „Quantität in Qualität“ gibt es keine Anhaltspunkte. Ein Widerspruch der hinzukommenden baulichen Anlage oder deren Nutzung drängt sich bei objektiver Betrachtung nicht offensichtlich auf. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO, der hier über § 34 Abs. 2 BauGB Anwendung findet, stellt grundsätzlich nicht auf das Maß der baulichen Nutzung ab (vgl. BVerwG, U.v. 16.3.1995 – 4 C 3.94 – BauR 1995, 508; BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 9 CS 19.1767 – juris Rn. 15). Ein darüber hinausgehender „Gebietsprägungserhaltungsanspruch“ kommt hier – unabhängig von der Frage, ob ein solcher überhaupt anzuerkennen ist (vgl. BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 15 ZB 19.1221 – juris Rn. 9) – ebenfalls nicht zum Tragen. Die Anzahl der Wohnungen in einem Gebäude und regelmäßig auch die Möglichkeit, von dem zu errichtenden Gebäude in andere Grundstücke Einsicht zu nehmen, sind keine Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob sich ein Vorhaben im Sinn von § 34 Abs. 1 BauGB einfügt (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.1989 – 4 B 72.89 – NVwZ 1989, 1060).
2. Das Beschwerdevorbringen ist auch nicht geeignet, die Annahme des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen, dass die Baugenehmigung gegenüber der Antragstellerin voraussichtlich nicht rücksichtslos ist. Es kann dahinstehen, ob sich dieses im vorliegenden Fall aus dem Begriff des „Einfügens“ des § 34 Abs. 1 BauGB oder aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO herleitet, da im Ergebnis dieselbe Prüfung stattzufinden hat. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hängen die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – NVwZ 2005, 328; BayVGH, B.v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris Rn. 16; B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 4).
Daran gemessen hat das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt, dass ein nachbarrechtsrelevanter Verstoß gegen die Anforderungen des Rücksichtnahmegebots nicht wegen unzumutbarer Wirkungen, die von dem Maß des genehmigten Gebäudes der Beigeladenen ausgehen, in Betracht kommt. Mit der Beschwerde wird nicht in Frage gestellt, dass die Abstandsflächen eingehalten sind. Angesichts eines Abstands zwischen den beiden Gebäuden von rd. 9 m, einer Wandhöhe des Bauvorhabens von 6,50 m, einer Firsthöhe von fast 11 m und dem Rücksprung an der der Antragstellerin zugewandten Seite erschließt sich das Vorliegen einer „erdrückenden“ Wirkung nicht. Auch dass es vorliegend trotz Einhaltung der Abstandsflächen zu einer unzumutbaren Verschattung des Grundstücks der Antragstellerin kommt, hat das Verwaltungsgericht zutreffend verneint. Denn das Rücksichtnahmegebot ist keine allgemeine Härteklausel, die über den speziellen Vorschriften des Städtebaurechts oder gar des gesamten öffentlichen Baurechts steht. Der Rückschluss aus dem Abstandflächenrecht auf eine mögliche Verletzung von Nachbarrechten kann nur in besonders gelagerten Fällen zur Unzulässigkeit eines Bauvorhabens führen, das die abstandsflächenrechtlichen Vorschriften nicht verletzt (vgl. BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128.98 – NVwZ 1999, 879). Wann die bauplanungsrechtliche Relevanzschwelle im Einzelnen erreicht ist, lässt sich nicht anhand von verallgemeinerungsfähigen Maßstäben feststellen, sondern hängt von den jeweiligen konkreten Gegebenheiten ab. Für die Annahme einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots genügt es nicht schon, wenn ein Vorhaben die Situation für den Nachbarn nachteilig verändert. Dass das Bauvorhaben allein wegen einer mit ihm verbundenen Verschattung das Grundstück der Antragstellerin auf der Westseite unzumutbar beeinträchtigt, vermag der Senat angesichts des Abstands der beiden Gebäude von 9 m nicht zu erkennen. Dem setzt die Antragstellerin nur ihre gegenteilige Auffassung entgegen.
Auch die Ausführungen der Antragstellerin, dass durch das Vorhaben unzumutbare Einsichtsmöglichkeiten einhergingen und außergewöhnliche Umstände vorlägen, da das aus mehreren Wohneinheiten bestehende Vorhaben, das mit Balkonen und Dachterrassen ausgestattet sei, in der Umgebung, die von Einfamilienhäusern geprägt sei, einzigartig sei, lassen eine Rücksichtslosigkeit des Vorhabens der Beigeladenen nach summarischer Prüfung nicht erkennen. Die durch das Vorhaben ermöglichten Einblicke durch die Anzahl von Fenstern und Balkonen in die Wohnräume des Anwesens der Antragstellerin sind in einem bebauten innerörtlichen Bereich aus städtebaulichen Gesichtspunkten hinzunehmen. Weitere Anhaltspunkte dafür, dass hier besondere Umstände vorliegen, die ausnahmsweise zu einer anderen Bewertung führen könnten, sind weder dargelegt noch ersichtlich. Eine Ortseinsicht war daher nicht erforderlich, da die Einsichtsmöglichkeiten die Schwelle der Unzumutbarkeit nicht übersteigen.
Die weiteren Ausführungen der Antragstellerin, dass die vorgesehene Bebauung in Widerspruch zu der lockeren, kleinteiligen Umgebungsbebauung mit Einfamilienhäusern stehe, zeigen bereits nicht auf, welche bodenrechtlich relevanten Störungen mit dem angegriffenen Vorhaben verbunden sein sollen (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – BVerwGE 55, 369). Das wäre jedoch für die sachgerechte Bewertung der gegensätzlichen Interessen von Nachbarn und Bauherrn im Rahmen des Rücksichtnahmegebots unabdingbar gewesen. Vorhaben, die den maßgeblichen Rahmen einhalten oder ihn zwar überschreiten, die städtebauliche Situation aber nicht verschlechtern, fügen sich in der Regel nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ein (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 a.a.O.). Unter dieser Voraussetzung kommt auch den Interessen des Bauherrn an der Realisierung seines Vorhabens grundsätzlich ein gewisser Vorrang vor den Interessen der Nachbarn zu, von Beeinträchtigungen verschont zu bleiben (vgl. BVerwG, U.v. 6.10.1989 – 4 C 14.87 – BVerwGE 82, 343).
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, weil ihr Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, der Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, die mit ihrer Stellungnahme das Verfahren gefördert hat (§ 162 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1‚ § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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