Baurecht

Einstweiliger Rechtsschutz gegen die Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag

Aktenzeichen  M 28 S 17.3629

Datum:
22.12.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 154041
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
BayKAG Art. 5a Abs. 2 Nr. 1
BauGB § 131 Abs. 1 S. 1, § 133 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

Erschlossen im Sinne des Art. 5a Abs. 9 BayKAG iVm § 131 Abs. 1 S. 1 BauGB wird ein Grundstück nur durch die nächste erreichbare selbständige Erschließungsanlage (Anschluss an BayVGH BeckRS 2016, 110003). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 19. Juli 2017 gegen den Erschließungsbeitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 22. Juni 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 676,84 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag für die erstmalige Herstellung der im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin gelegenen H. für ihren Miteigentumsanteil an dem Grundstück Fl.Nr. 80 Gemarkung E. Die Antragsgegnerin führte 2016 Baumaßnahmen zur erstmaligen Herstellung der H. (von der Einmündung in die Ki. im Westen bis etwa zum Übergang in die S. im Osten) durch. Die Antragstellerin ist Miteigentümerin zu 1/2 des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. 80. Dieses Grundstück liegt nicht an der H., sondern an der nördlichen Teilstrecke der B. … an.
Diese nördliche Teilstrecke der B. … zweigt etwa 25 m westlich des östlichen Endes der Baumaßnahmen in nördliche Richtung von der H. ab. Die B. … verfügt auf dieser nördlichen Teilstrecke über kein eigenes Straßengrundstück, sondern verläuft im Wesentlichen auf Teilflächen des an der H. anliegenden Grundstücks Fl.Nr. 84 Gemarkung E. Neben der tatsächlichen Erschließung der sonstigen Teilflächen der Fl.Nr. 84 stellt die nördliche Teilstrecke der B. … u.a. auch die tatsächliche Erschließung des Grundstücks der Antragstellerin sowie der weiteren Baugrundstücke Fl.Nrn. 77 und 83 Gemarkung E. dar. Die nördliche Teilstrecke der B. … verläuft ab der Einmündung in die H. im Wesentlichen geradeaus in nördliche Richtung, bevor sie nach etwa 140 m auf Höhe der Nordgrenze des Grundstücks der Antragstellerin Fl.Nr. 80 nach Westen abknickt. Nach ca. 30 m knickt die Straße wieder in Richtung Norden ab und verläuft anschließend beidseitig im bauplanungsrechtlichen Außenbereich.
Die B. … wurde anlässlich der erstmaligen Anlegung der Bestandsverzeichnisse aufgrund Eintragungsverfügung vom 13. Mai 1966 als „Ortsstraße – E. – B. …“ bzw. „Ortsstraße – E. (U.)“ ins Bestandsverzeichnis für die Gemeindestraßen eingetragen. Im Bestandsverzeichnis ist u.a. als nördlicher Endpunkt der B. … das Anwesen B. … 27 genannt (hierbei handelt es sich um das Grundstück der Antragstellerin Fl.Nr. 80). Ferner ist als Straßenläge 0,386 m eingetragen.
Mit Bescheid vom 22. Juni 2017 setzte die Antragstellerin hinsichtlich des Miteigentumsanteils von 1/2 an dem Grundstück Fl.Nr. 80 für die erstmalige Herstellung der H. einen Erschließungsbeitrag in Höhe von 2.707,35 € fest. Für den weiteren Miteigentumsanteil erging ein entsprechender Bescheid, der Gegenstand des Parallelverfahrens M 28 S 17.3894 ist.
Mit Schreiben vom 19. Juli 2017, bei der Antragsgegnerin per Telefax eingegangen am 19. Juli 2017, ließ die Antragstellerin durch ihre Bevollmächtigten Widerspruch gegen den Bescheid vom 22. Juni 2017 erheben und die Aussetzung der Vollziehung beantragen. Diesen Aussetzungsantrag lehnte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 20. Juli 2017 ab.
Am 3. August 2017 ließ die Antragstellerin durch ihre Bevollmächtigten beim Bayerischen Verwaltungsgericht München beantragen,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Erschließungsbeitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 22. Juni 2017 anzuordnen.
Zur Begründung ließ die Antragstellerin u.a. vortragen, ihr Grundstück werde nicht durch die abgerechnete H. erschlossen. Die B. … sei eine von der H. in nördliche Richtung abzweigende ca. 110 m lange Stichstraße. Eine Sackgasse sei in der Regel als selbstständig zu qualifizieren, wenn sie entweder länger als 100 m ist oder vor Erreichen dieser Länge abknicke oder sich verzweige.
Mit Schreiben vom 16. August 2017 legte die Antragsgegnerin ihre Akten vor und beantragte sinngemäß,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung trug sie u.a. vor, die Erschließungssituation sei im Jahr 2014 mit der Rechtsaufsicht besprochen worden. Es handele sich um eine Zubringerstraße, die keine eigenständige Anlage darstelle und somit der H. zuzuordnen sei. Von einer Sackgasse könne keine Rede sein, wie das Luftbild zeige.
Mit Schriftsatz der Bevollmächtigten vom 28. August 2017 äußerte sich die Antragstellerin ergänzend.
Auf gerichtliche Anforderung legte die Antragsgegnerin Schreiben vom 6. September 2017 Unterlagen über die Widmung der B. vor, ferner Fotos, welche die nördliche Teilstrecke der B. zeigen.
Mit Beschluss vom 8. September 2017 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig – insbesondere ist § 80 Abs. 6 VwGO erfüllt, da die Antragsgegnerin den mit Schreiben vom 19. Juli 2017 gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung mit Schreiben vom 20. Juli 2017 abgelehnt hatte – und begründet:
§ 80 Abs. 5 VwGO besagt nichts darüber, unter welchen Voraussetzungen die aufschiebende Wirkung anzuordnen ist. Nach ständiger Rechtsprechung der Kammer und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist unter Berücksichtigung der für die Aussetzung der Vollziehung durch die Behörde in § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO enthaltenen Bestimmung bei öffentlichen Abgaben die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs dann anzuordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Pflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Da es sich um ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes handelt, kann und muss sich das Gericht – insbesondere im Hinblick auf die Sachverhaltsermittlung – auf eine geringere Prüfungsdichte als im Klageverfahren beschränken. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts sind dann anzunehmen, wenn so erhebliche Bedenken bestehen, dass eine Aufhebung oder Abänderung des Verwaltungsakts mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann. Hierbei ist ein strenger Maßstab anzulegen.
Gemessen hieran bestehen nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen und allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ganz erhebliche und damit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Erschließungsbeitragsbescheids vom 22. Juni 2017:
1. Die nördliche Teilstrecke der B. …, an der das Grundstück der Antragstellerin Fl.Nr. 80 anliegt, ist eine öffentliche zum Anbau bestimmte Straße, mithin eine Anbaustraße im Sinne des Art. 5a Abs. 2 Nr. 1 KAG: Die Eintragung ins Bestandsverzeichnis anlässlich dessen erstmaligen Anlegung aufgrund Eintragungsverfügung vom 13. Mai 1966 umfasst auch diese nördliche Teilstrecke. Dies folgt daraus, dass im Bestandsverzeichnis als nördlicher Endpunkt der B. … das Anwesen B. … 27 genannt ist und es sich hierbei um das am nördlichen Ende der nördlichen Teilstrecke liegende Grundstück der Antragstellerin Fl.Nr. 80 handelt sowie ferner als Straßenläge 0,386 m eingetragen ist und sich eine solche Straßenlänge nur dann ergibt, wenn die gesamte B. …, also sowohl die südliche als auch die nördliche Teilstrecke, umfasst sind. Bei der nördlichen Teilstrecke handelt es sich auch um eine Anbaustraße: Aufgrund der entsprechenden Festsetzungen im Bebauungsplan der Gemeinde E. vom 19. Januar 1977 (Behördenakte) einschließlich der Änderung vom 31. August 1998 (Bl. 11 ff. der Behördenakte) sind die an dieser Teilstrecke anliegenden Grundstücke Fl.Nrn. 84 (TF), 77, 83 und 80 bebaubar.
Dies vorausgeschickt kann letztlich offen bleiben, ob es sich bei der „nördlichen Teilstrecke der B. …“ um einen unselbständigen Bestandteil der abgerechneten Anbaustraße H.e oder um eine selbstständige Anbaustraße handelt:
Im erstgenannten Fall wären die sachlichen Beitragspflichten hinsichtlich der gesamten Erschließungsanlage noch nicht entstanden: Dies setzte neben anderen Voraussetzungen u.a. die endgültige Herstellung der Erschließungsanlage voraus (Art. 5 a Abs. 9 KAG i.V.m. § 133 Abs. 2 Satz 1 BauGB). Ausweislich der von der Antragsgegnerin vorgelegten Fotos sind hinsichtlich der nördlichen Teilstrecke der B. … die Merkmale der endgültigen Herstellung gemäß Art. 5 a Abs. 9 KAG i.V.m. § 132 Nr. 4 BauGB i.V.m. § 8 der Erschließungsbeitragssatzung der Antragsgegnerin vom 25. Februar 1992 (EBS) ganz offensichtlich nicht erfüllt. Insbesondere fehlt es ganz augenscheinlich an einer funktionsfähigen Straßenentwässerung und Beleuchtung.
Handelt es sich hingegen bei der nördlichen Teilstrecke der B. … um einen selbstständige Erschließungsanlage (im Süden beginnend an der Einmündung in die H.*), so ist das Grundstück der Antragstellerin Fl.Nr. 80 nur durch diese Anlage, nicht hingegen (auch) durch die abgerechnete H. im Sinne des Art. 5 a Abs. 9 KAG i.V.m. § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB erschlossen: Erschlossen in diesem Sinne wird ein Grundstück nämlich nur durch die nächste erreichbare selbständige Erschließungsanlage (vgl. BayVGH, U. v. 30.11.2016 – 6 B 15.1835 – juris Rn. 22). Hingegen wird ein Grundstück nicht zusätzlich auch durch etwaige weitere selbstständige Erschließungsanlagen in der näheren Umgebung erschossen, selbst wenn diese benutzt werden müssen, um die nächste erreichbare selbstständige Erschließungsanlage zu erreichen bzw. von dort zum übrigen Straßennetz zu gelangen. Die von der Antragsgegnerin angeführte „Zubringerfunktion“ der H. für die nördliche Teilstrecke der B. … spielt deshalb keine Rolle. Bei Bestehen eines Funktionszusammenhangs käme allenfalls eine Abrechnung als Erschließungseinheit im Sinne des Art. 5a Abs. 9 KAG i.V.m. § 130 Abs. 2 Satz 3 BauGB in Betracht. Dies ist indes vorliegend nicht erfolgt und käme auch schon deshalb nicht in Betracht, weil ausweislich der von der Antragsgegnerin vorgelegten Fotos hinsichtlich der nördlichen Teilstrecke der B. … – wie schon dargelegt – ganz offensichtlich die Merkmale der endgültigen Herstellung nicht erfüllt sind.
Im letztgenannten Fall muss auch nicht näher erwogen werden, ob das Grundstück der Antragstellerin Fl.Nr. 80 womöglich als Hinterlieger der nicht für die B. … genutzten, an der H. anliegenden Teilflächen des Grundstücks Fl.Nr. 84 von der abgerechneten H. erschlossen sein könnte. Eine solche Betrachtungsweise scheidet schon allein deshalb aus, weil das Grundstück Fl.Nr. 80 unmittelbar an der nördlichen Teilstrecke der B. … als eigenständige Anbaustraße anliegt, es sich mithin in Bezug auf die H. allenfalls um ein sog. nicht gefangenes Hinterliegergrundstück handeln könnte. Vorliegend sind indes insbesondere aus den vorliegenden Plänen, Fotos und Luftbildern keinerlei Anhaltspunkten dafür ersichtlich, die den Schluss erlaubten, die H. werde über das Anliegergrundstück – also die nicht für die B. … genutzten Teilflächen der Fl.Nr. 84 – vom Hinterliegergrundstück Fl.Nr. 80 aus ungeachtet dessen direkter Anbindung an die nördliche Teilstrecke der B. … als „eigene“ Straße in nennenswertem Umfang in Anspruch genommen (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B. v. 29.4.2016 – 6 CS 16.58 – juris Rn. 10 m.w.N.)
2. Im Hinblick auf etwaige künftige Abrechnungen sei noch Folgendes angemerkt: Gemessen an der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zur Anlagenabgrenzung nach natürlicher Betrachtungsweise (vgl. nur BayVGH, U. v. 13.4.2017 – 6 B 14.2720 – juris Rn. 20; BayVGH, U. v. 30.11.2016 – 6 B 15.1835 – juris Rn. 23) dürfte es sich bei der gemäß den vorliegenden Plänen und Fotos nahezu rechtwinklig in die H. einmündenden nördlichen Teilstrecke der B. … schon aufgrund der Straßenführung um eine selbstständige Erschließungsanlage handeln. Die nördliche Teilstrecke der B. … dürfte auch nicht als unselbstständige Stichstraße und damit als ein unselbstständiger Bestandteil der H. zu verstehen sein (vgl. dazu BayVGH, U. v. 13.4.2017 – 6 B 14.2720 – juris Rn. 22; BayVGH, U. v. 30.11.2016 – 6 B 15.1835 – juris Rn. 17 ff.): Auch wenn im Zusammenhang mit der Abgrenzung zwischen erschließungsbeitragsrechtlich selbstständigen und unselbstständigen Verkehrsanlagen eine Gesamtwürdigung vorzunehmen ist und insbesondere auch die von der Antragstellerin erwähnte 100-m-Regel keine starre Längenvorgabe darstellt (vgl. dazu BayVGH, U. v. 30.11.2016, a.a.O., Rn. 20), übersteigt doch die Länge der Teilstrecke mit ca. 140 m bis zur Nordgrenze des Grundstücks der Antragstellerin Fl.Nr. 80 bzw. sogar ca. 170 m bis zum beidseitigen Eintritt in den Außenbereich die 100-m-Marke so deutlich, dass schwerlich von einer zufahrtsähnlichen Situation die Rede sein kann. Bei diesem Ergebnis käme es dann auch nicht mehr darauf an, ob es sich – was die Antragsgegnerin offenbar verneinen möchte – auch dann um eine Stichstraße (Sackgasse) im Sinne der erschließungsbeitragsrechtlichen Rechtsprechung handeln kann, wenn eine Anbaustraße wie vorliegend durch den beidseitigen Eintritt in den bauplanungsrechtlichen Außenbereich endet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 3.1 des Streitwertkatalogs.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben