Baurecht

Erfolgreicher Nachbarantrag bei offenen Erfolgsaussichten

Aktenzeichen  AN 9 S 20.02107

Datum:
7.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 42629
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3
BauGB § 34
BauNVO § 15

 

Leitsatz

Der aus § 15 Abs. 1 BauNVO abgeleitete Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken im unbeplanten Innenbereich, wenn die Eigenart der näheren Umgebung als faktisches Baugebiet i.S.d. § 34 Abs. 2 BauGB einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung entspricht, das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung zur Wehr zu setzen. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 28. Juli 2020 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin und der Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte. Ihre eigenen außergerichtlichen Kosten tragen die beiden jeweils selbst.
3. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen eine dem Beigeladenen für „Umbau und Nutzungsänderung einer bestehenden Asylunterkunft mit Büroetage in einen Beherbergungsbetrieb“ erteilte Baugenehmigung.
Der Beigeladene ist Eigentümer des westlich der* …straße gelegenen Vorhabensgrundstücks …str. …, FlNr. …, Gemarkung … Die Antragstellerin ist ein Industrieunternehmen der Automobilzulieferungsbranche und betreibt am Standort … seit Juli 2011 zwei Werke zur Produktion von Getriebeteilen mit insgesamt rund 1.000 Industriearbeitsplätzen. Das Werk 2 der Antragstellerin liegt wie das Grundstück des Beigeladenen westlich der …straße (* …str. …, FlNr. …, Gemarkung…) und grenzt unmittelbar südlich an dieses und an die darauf befindlichen Gebäude an. Das Werk 1 liegt vom Vorhabengrundstück ca. 300 bis 400 m in östlicher Richtung entfernt auf den FlNrn. …, …, … und …, jeweils Gemarkung … Mit Bescheid vom 11. Mai 2016 war dem Beigeladenen bezüglich des grenzständig zum Grundstück der Antragstellerin gelegenen zweigeschossigen Gebäudes die bauaufsichtliche Genehmigung zur „Umnutzung des Bürogebäudes in Asylsuchendenunterkunft mit 61 Betten für die Dauer von drei Jahren“ erteilt worden. Mit Bescheid vom 11. Januar 2017 wurde dem Beigeladenen die Baugenehmigung für die Nutzungsänderung von Lager zur Unterkunft für Asylbewerber (42 Personen, befristet auf drei Jahre) und zur Aufstockung zur Büronutzung bezüglich des westlich auf dem Beigeladenengrundstück gelegenen, zuvor als Lager genutzten eingeschossigen Gebäudes erteilt. Gegen die Baugenehmigungen wurden unter den Az.: AN 9 K 17.00173 und AN 9 K 16.00991 Klagen erhoben.
Mit Schreiben vom 2. September 2016 teilte der damalige Oberbürgermeister der Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass es sich bei den gewerblichen Flächen in … um ein Industriegebiet nach § 9 BauNVO handele. An dieser Einschätzung änderten auch punktuelle „gebietsfremde Nutzungen“ wie Flüchtlingsunterkünfte, die aufgrund des Sonderrechtes nur ausnahmsweise und nur auf maximal drei Jahre genehmigt würden, selbst wenn diese direkt an das Werk angrenzten, nichts. … und …wirkten allein aufgrund ihrer Ausdehnung in dem Gebiet derart prägend, dass dies zur Sicherung des Gebietscharakters völlig ausreiche. Solange … und … in der jetzigen Ausdehnung im Industriegebiet … fortbestünden, bleibe auch der Industriecharakter des Gebiets erhalten. Es wurde ein Plan mit Gebietsumgriff bezüglich des industriell geprägten Bereiches übersandt, der westlich durch die Bahnlinie, südlich durch die …straße, östlich durch den … und nördlich durch eine ca. auf halber Strecke zwischen dem ehemaligen Industriegleis und der …straße verlaufende Strecke begrenzt wird.
Mit am 27. November 2019 bei der Antragsgegnerin eingegangenem Antrag beantragte der Beigeladene die Baugenehmigung für das Vorhaben „Umbau und Nutzungsänderung einer bestehenden Asylunterkunft mit Büroetage in einen Beherbergungsbetrieb“. Der Bauantrag erfasst das Vordergebäude und das rückwärtige Gebäude auf dem Flurstück …, Gemarkung … Einer Betriebsbeschreibung vom 25. November 2019 ist zu entnehmen, dass es sich um eine Beherbergungsstätte für den kurzfristigen Aufenthalt von Personen und Personengruppen handele. Innerhalb der täglichen Betriebszeit zwischen 8:00 Uhr und 20:00 Uhr seien schichtweise ca. 10 Mitarbeiter auf dem Gelände beschäftigt. Die Herberge könne maximal mit 77 Betten belegt werden. Der generelle Betriebsablauf beginne am frühen Morgen. Anschließend erfolge der Check-In bzw. Check-Out der Kundschaft. Die Grundreinigung der Gästezimmer erfolge in den Vormittagsstunden. Der Betrieb sei nur für einen Kurzaufenthalt seiner Gäste konzipiert. Bei der an den Frühstücksraum angeschlossenen Küche handele es sich lediglich um eine Teeküche. Diese sei nur für das Aufwärmen von Getränken und Speisen geeignet. Mit Betriebsbeschreibung vom 3. Februar 2020 wurde erläutert, dass das geplante Gebäude als Hotelbetrieb geführt werden solle. Die Aufenthaltsdauer der Übernachtungsgäste liege in der Regel bei ca. 1 bis 4 Tagen. Der generelle Betriebsablauf sehe eine morgendliche Frühstücksbewirtung ab ca. 7:00 Uhr vor, die Gäste könnten während des Vormittags auschecken. Ab Nachmittag sei dann ein Check-In der neuen Gäste möglich. Zwischenzeitlich werde die Zimmerreinigung durchgeführt. Die Hotelrezeption sei zu den normalen Tageszeiten (ca. 8:00 Uhr bis 20:00 Uhr) besetzt. Ein Nachweis von Reisebusstellflächen sei nicht erforderlich.
Einer Stellungnahme des Umweltamtes der Antragsgegnerin vom 7. Januar 2020 ist zu entnehmen, dass unmittelbar an den künftigen Beherbergungsbetrieb das Werk 2 der Antragstellerin ohne räumliche Trennung angrenze. Das Werk 2 werde für die Herstellung von Gussteilen aus NE-Metallen genutzt und bestehe aus Anlagen zum Schmelzen, Gießen und Bearbeiten von Gussteilen. Das Werk 2 werde für industrielle Anlagen typisch im 3-Schicht-Betrieb, d.h. auch nachts genutzt. Durch die Nutzung des zur Antragstellerin angrenzenden künftigen Beherbergungsbetriebs entstünden erhebliche Nachteile für die Antragstellerin, da es sich bei dem Beherbergungsbetrieb um keine industrielle Nutzung handle. Die Gießerei der Antragstellerin sei nur im Industriegebiet zulässig. Durch den Nachtbetrieb der Antragstellerin könnten die zulässigen Immissionsrichtwerte, insbesondere nachts im Beherbergungsbetrieb, für diese sensiblere Nutzung möglicherweise nicht mehr eingehalten werden.
Mit Bescheid vom 28. Juli 2020 wurde für das Vorhaben „Umbau und Nutzungsänderung einer bestehenden Asylunterkunft mit Büroetage in einen Beherbergungsbetrieb“ auf den FlNrn. …, … und …, jeweils Gemarkung …, unter Hinweis darauf, dass die in der Bau- bzw. Betriebsbeschreibung gemachten Angaben gelten, die Baugenehmigung erteilt.
Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 11. August 2020 ließ die Antragstellerin Klage erheben. Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 7. Oktober 2020 ließ sie Antrag nach §§ 80 Abs. 5, 80a Abs. 3 VwGO stellen.
Zur Begründung wird auch mit Schriftsatz vom 18. November 2020 im Wesentlichen ausgeführt, dass das hier maßgebliche einheitliche Baugebiet durch die Zäsuren* …straße im Süden, Bahnlinien im Westen, … im Osten und ehemaliger Gleisanschluss im Norden begrenzt werde. Dass ein Gebiet von einer topografischen Zäsur zerschnitten werde und dass dies auch eine stillgelegte Bahnstrecke sein könne, sei anerkannt. Dieses Baugebiet sei eindeutig und ganz überwiegend durch erheblich belästigende Gewerbebetriebe geprägt. Dominiert werde das Baugebiet durch insgesamt sechs Anlagen nach Art. 10 i.V.m. Anhang 1 der RL 2010/75/EU (Industrieemissionsrichtlinie). Ferner befinde sich in dem Baugebiet die Betriebsstätte einer erheblich störenden Schreinerei. Diese Betriebe dominierten das Baugebiet nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ von ihrer Flächeninanspruchnahme her. Es verblieben in dem Baugebiet maximal 20% an Restflächen, die nicht von erheblich störungsintensiven Industrie- und Gewerbebetrieben genutzt würden. Das Baugebiet sei eindeutig als faktisches Industriegebiet einzustufen. Dass sich in dem Baugebiet in geringem Umfang auch einige wenige nicht störungsintensive Gewerbebetriebe angesiedelt hätten, stehe seiner Qualifizierung als Industriegebiet nicht entgegen. Denn das Industriegebiet diene ausschließlich der Unterbringung von Gewerbebetrieben und davon vorwiegend solchen Betrieben, die in anderen Baugebieten unzulässig seien. Wenig störende Gewerbebetriebe seien im Industriegebiet zulässig, dürften aber das Gebiet nicht überwiegend prägen. Auch der BayVGH habe in seiner Entscheidung vom 9. September 2020 (Az.: 9 BV 17.2417) das maßgebliche Geviert als durch die …straße im Süden, die Bahntrasse im Westen, den … im Osten sowie die ehemalige …straße im Norden begrenzt angesehen.
Dem diagonal verlaufenden Gleisanschluss sei hinsichtlich des Bebauungszusammenhangs eine trennende Wirkung beizumessen. Die Gleise seien zum Teil auch noch vorhanden. Entlang des ehemaligen Gleisanschlusses sei ein F.weg/Radweg errichtet, der eine zusätzlich optisch wahrnehmbare Zäsur darstelle und die vorhandene Zäsur perpetuiere. Sogar die Gebäudeform sei an den Trassenverlauf angelehnt.
Spätestens am 17. März 2020 sei die Baugenehmigung des Beigeladenden vom 11. Mai 2016 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 6. Dezember 2016 für die vordere Unterkunft für Asylbewerber erloschen. Der Bevollmächtigte des Beigeladenen habe gegenüber der Antragsgegnerin einen Verzicht auf diese Baugenehmigung erklärt und diese habe mit Schreiben vom 13. März 2020 das Erlöschen der Baugenehmigung bestätigt.
Die Baugenehmigung sei nicht hinreichend bestimmt, da die Bauvorlagen widersprüchlich seien. Vormals genehmigte Nutzung sei allein die Asylunterkunft gewesen. Der Bauvorlage lasse sich auch nicht entnehmen, wo konkret sich in dem Gebäude die sogenannte Büroetage befinden solle. Insoweit seien die Bauvorlagen erkennbar unvollständig. Falsch sei die Bezugnahme auf die Vornutzung auch in der Baugenehmigung. Denn im Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung am 27. Juli 2020 sei der letzte geltende Genehmigungstatbestand nicht (mehr) derjenige einer Asylunterkunft.
Die Antragstellerin habe einen Gebietserhaltungsanspruch. Die von der Antragsgegnerin genehmigte Nutzungsart Hotel sei in dem hier bestehenden faktischen Industriegebiet gebietswidrig. In Industriegebieten seien Beherbergungsbetriebe nicht regelmäßig zulässig. Es lägen auch keine Besonderheiten des Einzelfalls vor, die eine andere Betrachtungsweise geböten. Die in der Betriebsbeschreibung angegebene Regelverweildauer von bis zu vier Tagen sei nicht so kurz, dass Störungen der Gäste durch die Industrieimmissionen ausgeschlossen wären. Vor allem zeigten die Worte „in der Regel“, dass es nach der Betriebsbeschreibung auch solche Hotelgäste geben werde, die länger als vier Tage dort wohnten. Denkbar sei auch, dass weiterhin ein Wohnheim betrieben werde. Hierfür sprächen die Ausstattungsmerkmale des Gebäudes, die für eine wohnähnliche Nutzung charakteristische Elemente auswiesen. Zudem schließe die Lage des Hotels mitten im Industriegebiet Aufenthalte zum Zwecke des Erholungsurlaubs oder touristisch motivierte Aufenthalte aus.
Der Gebietserhaltungsanspruch bestehe unabhängig von etwaigen tatsächlichen Störungen durch die gebietsfremde Nutzung. Auf die Lärmthematik käme es vor diesem Hintergrund nicht weiter an. Jedenfalls sei das durch die Antragsgegnerin vorgelegte Gutachten vom 24. Januar 2018 untauglich und vollkommen veraltet.
Es wird beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die dem Beigeladenen von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 28. Juli 2020 erteilte Baugenehmigung (Az.:…) anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wird mit Schriftsätzen vom 28. Oktober 2020 und 30. November 2020 unter anderem ausgeführt, Gegenstand der Baugenehmigung sei ein hotelähnlicher Beherbergungsbetrieb und keine wohnähnliche Nutzung. Das Bundesverwaltungsgericht habe mit Beschluss vom 29. April 1992 (Az.: 4 C 43/89) ausgeführt, dass Betriebe des Beherbergungsgewerbes im Gewerbegebiet zulässig sein könnten, wenn ihren Gästen die typischen Belästigungen eines solchen Gebietes zugemutet werden könnten. Das streitgegenständliche Vorhaben sei kein Wohnheim. Die Bauvorlagen machten deutlich, dass absolut hoteltypisch ein Frühstück serviert werde und weder in den Zimmern noch sonst wo die Möglichkeit bestehe, sich selbst zu versorgen. Die Übernachtungsräume hätten keine Küchenzeile. In den Gebäuden gebe es auch keine Waschküchen mit Waschmaschinen und Ähnliches. Es gebe dort auch keine Gemeinschaftsräume, vorgesehen seien zwei Aufenthaltsräume. Es könne offenbleiben, ob die in der Betriebsbeschreibung beschriebene kurze Verweildauer von in der Regel ca. 1 bis 4 Tagen allein ausreiche, um annehmen zu können, dass ein Beherbergungsbetrieb mit kurzer Verweildauer genehmigt worden sei. Entscheidend sei, dass die Gestaltung der Unterkünfte nicht auf einen längeren Aufenthalt hin ausgerichtet sei.
Hinsichtlich der Bestimmtheit sei völlig klar, um welche Büroetage es gehe. Mit Bescheid vom 11. Januar 2017 sei dem Beigeladenen die Aufstockung des an die westliche Grundstücksgrenze angrenzenden, rückwärtigen Gebäudes für eine Büronutzung erteilt worden.
Ein Gebietserhaltungsanspruch sei nicht gegeben, weil sich die Betriebsgebäude der Antragstellerin und das Vorhabensgrundstück des Beigeladenen nicht in demselben Baugebiet befänden. Ein baugebietsübergreifender Gebietserhaltungsanspruch komme nicht in Betracht, da es sich um ein faktisches Baugebiet handele. Die Werke der Antragstellerin lägen unzweifelhaft in einem faktischen Industriegebiet. Dieses entfalte gleichzeitig keine prägende Wirkung für die an das Gebiet nördlich angrenzende Bebauungen und Nutzungen. Das Vorhabensgrundstück …str. … gehöre nicht zu diesem Industriegebiet. Es sei bereits vor der Nutzung als Asylbewerberunterkunft als sonstiger „nicht erheblich belästigender Gewerbebetrieb“ genutzt worden. Auch die nördlich und östlich an das Vorhabensgrundstück angrenzenden Grundstücke würden durch nicht störungsintensive Betriebe genutzt. Nördlich des Industriekomplexes gebe es keine störungsintensiven Betriebe. Es werde ein kleinteilig strukturiertes, durch nicht erheblich störende Gewerbebetriebe geprägtes Gewerbegebiet gebildet. Das Vorhabensgrundstück und die weiteren Grundstücke südlich und nördlich des ehemaligen Industriegleises hätten eine andere Bau- und Nutzungsstruktur als das Industriegebiet. Es stießen zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedener Bau- und Nutzungsstruktur aneinander. Die Grenze des faktischen Industriegebiets sei an der Grundstücksgrenze zwischen dem Vorhabensgrundstück und dem Betriebsgrundstück der Antragstellerin zu ziehen. Immissionen, die von einem Industriebetrieb ausgingen, stellten keinen Grund dar, benachbarte Grundstücke zur näheren Umgebung zu ziehen. Die Grenzen der näheren Umgebung würden von der vorhandenen Bebauung bestimmt und knüpften damit an mit dem Auge wahrnehmbare Gegebenheiten an. Es liege in der Natur der Sache, dass die Grenze zwischen zwei Baugebieten auch entlang von Grundstücksgrenzen verlaufen könne.
An dem mit Schreiben des damaligen Oberbürgermeisters vom 2. September 2016 übermittelten Lageplans mit dem Gebietsumgriff könne die Antragsgegnerin nicht festhalten. Ohne eine förmliche Bauleitplanung könnten den Grundstückseigentümern im bezeichneten Umgriff bestehende Baurechte nicht genommen werden. Das Unstreitigstellen eines Industriegebiets durch die Antragsgegnerin in den vorhergehenden Verfahren sei nur für das jeweilige Verfahren erfolgt. Auch der BayVGH habe sich in seinem Urteil vom 9. September 2020 nur dahingehend geäußert, dass „vieles dafür spreche“, dass die nähere Umgebung des damaligen Vorhabensgrundstückes die eines Industriegebiets sei. Es sei letztlich unerheblich, ob das Vorhabensgrundstück des Beigeladenen tatsächlich in einem Gewerbegebiet liege. Entscheidend sei allein, dass es in einem anderen Gebiet zur Ausführung kommen solle.
Ob das ehemalige Industriegleis geeignet sei, eine Zäsur mit einer trennenden Wirkung zu bilden, könne im Ergebnis offenbleiben. Die Fläche südlich des ehemaligen Gleises, die nach Auffassung der Antragsgegnerin als eigenes Gewerbegebiet einzustufen sei, habe eine Fläche von überschlägig 2,5 ha und sei für ein eigenes Baugebiet groß genug. Somit könne die ehemalige …straße diese Fläche auch nicht zum Industriegebiet hineinziehen. Das ehemalige Gleis habe auch nicht die Wirkung einer Zäsur. Die Gleise seien entfernt worden und die Flächen erschienen bei einer Betrachtung vor Ort wie Grundstückszufahrten.
Eine Berufung auf das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht möglich. In dem Verfahren AN 9 K 16.00991 sei dem Beigeladenen auferlegt worden, dafür zu sorgen, dass in den Unterkunftsräumen der Asylbewerberunterkunft die Lärmwerte von tags 40 dB(A) und nachts 30 dB(A) eingehalten würden. Mit gutachterlichem Bericht der …Gesellschaft mbH vom 24. Januar 2018 sei aufgezeigt worden, dass nach Lärmmessungen die Mittelungspegel Lm in den Räumen der vormaligen Flüchtlingsunterkunft sich zwischen 25 und 26 dB(A) bewegten. Lediglich im Raum 6 sei es zu Überschreitungen gekommen, denen aber durch Anbringen einer Vorsatzschale begegnet worden sei.
Schädliche Umwelteinwirkungen durch Erschütterungen seien nicht zu erwarten. In den Baugenehmigungsverfahren zu den Asylbewerberunterkünften sei der Beigeladene zur Einhaltung von Erschütterungsimmissionsschutzrichtwerten nach der DIN 4150-2 verpflichtet worden. Das Büro …habe in seinem Bericht erläutert, dass an beiden „kritischen“ Messorten die Anhaltswerte eingehalten werden könnten. Es gehe um eine Nutzung der Gebäude als Beherbergungsbetrieb. Für Hotelgäste seien höhere Belastungen durch Erschütterung zumutbar als für ein dauerhaftes oder längeres Wohnen. Die Immissionsrichtwerte der DIN 4150 hätten somit nur eine verminderte Aussagekraft zur Zumutbarkeit der Erschütterungsimmissionen in den Gebäuden. Eine Überschreitung der Anhaltswerte könne bei einem Aneinandergrenzen zweier Gebiete unterschiedlichen Schutzcharakters wegen der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme hinzunehmen sei. Die Anhaltswerte der Zeile 2 der Tabelle 2 der DIN 4150 am damaligen Messort 1 würden nur geringfügig überschritten. Die Messergebnisse spiegelten eine Gesamtbelastung wider. Die Gebäude lägen in unmittelbarer Nähe einer S-Bahnlinie. Somit seien bei den Messungen eventuell auch Erschütterungsimmissionen und Geräuschimmissionen infolge von vorbeifahrenden Zügen erfasst und berücksichtigt worden. Die baulichen Änderungen in den Gebäuden seien nur geringfügiger Natur. Deshalb sei eine prognostische Neubeurteilung der Erschütterungsimmissionen im Genehmigungsverfahren nicht veranlasst. Die Erschütterungsimmissionen bewegten sich im vorderen Gebäude in einem Bereich zwischen den Immissionsrichtwerten für ein Industriegebiet und ein Gewerbegebiet. Im rückwärtigen Gebäude würden die Erschütterungsimmissionsrichtwerte für ein Gewerbegebiet eingehalten.
Die Einwände der Antragstellerin bezüglich des Gutachters seien bereits im Verfahren AN 9 K 16.00991 entkräftet worden.
Der Beigeladene beantragt,
die Klage abzuweisen.
Im Übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte in den Verfahren AN 9 K 20.01545, AN 9 K 16.00991 und AN 9 K 17.00173 und die beigezogenen Behördenakten.
II.
1.
Streitgegenstand des vorliegenden Antrags ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die dem Beigeladenen mit Bescheid vom 28. Juli 2020 erteilte Baugenehmigung.
2.
Der Antrag der Antragstellerin auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage ist zulässig und begründet.
In Fällen, in denen die gem. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO dem Grundsatz nach gegebene aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage wie im vorliegenden Fall durch ein Bundesgesetz ausgeschlossen ist (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB), kann das Gericht der Hauptsache gem. § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Das Gericht trifft aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (vgl. BayVGH, B.v. 6.2.2019 -15 CS 18.2459 – juris Rn. 25).
Nach diesen Grundsätzen ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung erfolgreich.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stellen sich die Erfolgsaussichten jedenfalls als offen dar (siehe 2.1) und die gebotene Interessenabwägung führt zu einem Überwiegen des Aussetzungsinteresses (siehe 2.2), so dass dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stattzugeben ist.
2.1
Die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren sind deshalb als offen anzusehen, weil durch die Genehmigung des streitgegenständlichen Vorhabens „Umbau und Nutzungsänderung einer bestehenden Asylunterkunft mit Büroetage in einen Beherbergungsbetrieb“ jedenfalls die Verletzung eines Gebietserhaltungsanspruchs der Antragstellerin im Raum steht. Auch für die Frage der Schutzbedürftigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens ist der Gebietscharakter entscheidend.
2.1.1
Der aus § 15 Abs. 1 BauNVO abgeleitete Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet (§ 9 Satz 1 Nr. 1 BauGB, § 1 Abs. 3 BauNVO) das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung zur Wehr zu setzen (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – juris Rn. 13; B.v. 27.8.2013 – 4 B 39/13 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 10.8.2016 – 9 ZB 16.944 – juris Rn. 11; B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 29; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand 2020, § 15 BauNVO Rn. 37). Der identische Nachbarschutz besteht auch im unbeplanten Innenbereich, wenn die Eigenart der näheren Umgebung als faktisches Baugebiet i.S.d. § 34 Abs. 2 BauGB einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung entspricht (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – BVerwGE 94,151).
Der Anspruch wird allein durch die Zulassung eines mit der (faktischen) Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst; eine tatsächlich spürbare und nachweisbare Beeinträchtigung des jeweiligen Nachbarn ist gerade nicht erforderlich. Dies ist damit zu begründen, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Anwesen in demselben (faktischen) Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist. Im Hinblick auf diese wechselseitig wirkende Bestimmung von Inhalt und Schranken des Grundeigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG hat jeder Eigentümer – unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung – das Recht, sich gegen eine „schleichende Umwandlung des Gebiets durch Zulassung einer gebietsfremden Nutzung zur Wehr zu setzen“ (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 29; B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris Rn. 6). Eine Verletzung des nachbarlichen Rechts auf Gebietserhaltung kann nur vorliegen, wenn auch die Voraussetzungen der ausnahmsweisen Zulässigkeit des Vorhabens nicht gegeben sind (vgl. BayVGH, B.v. 30.4.2008 – 15 ZB 07.2914 – juris Rn. 10).
2.1.2
Die Frage, ob das streitgegenständliche Vorhaben einen Gebietserhaltungsanspruch der Antragstellerin verletzt, hängt entscheidend davon ab, ob das Gebiet, in dem der „Beherbergungsbetrieb“ liegen soll, einem der in der BauNVO aufgeführten Gebietstypen entspricht und die genehmigte Art der Nutzung in diesem Gebiet zulässig ist. Weiter erforderlich ist, dass das Grundstück der Antragstellerin zur näheren Umgebung des Baugrundstücks zu zählen ist und damit im identischen faktischen Gebiet liegt.
Als nähere Umgebung i.S.d. § 34 BauGB ist jener das Bauvorhaben umgebende Bereich zu verstehen, innerhalb dessen sich die Ausführung des Vorhabens auswirken kann und der seinerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder jedenfalls beeinflusst (BVerwG, U.v. 26.5.1978 – 4 C 9.77 – juris Rn. 33). Dabei sind die Grenzen der näheren Umgebung nicht schematisch festzulegen, sondern nach der tatsächlich gegebenen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in welche das Baugrundstück eingebettet ist. In diesem Zusammenhang kann die Einheitlichkeit der Bau- und Nutzungsstruktur Auswirkungen auf die Bereichsabgrenzung der maßgeblichen näheren Umgebung haben. Je einheitlicher sich die Bau- und Nutzungsstruktur darstellt, umso eher kann bei der Bestimmung der maßgeblichen Umgebung auf einen vergleichsweise geringen Umfang abgestellt werden. Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn ein vorhandenes Gebäude baulich verändert oder in seiner Nutzung geändert wird. Der Baubestand bestimmt den Maßstab der weiteren Bebauung mit (vgl. BVerwG, U.v. 27.8.1998, 4 C 5.98 – juris Rn. 22; BayVGH, U.v. 13.9.2012, 2 B 12.109 – juris Rn. 26).
Das Bundesverwaltungsgericht führt im Beschluss vom 28. August 2003 (Az. 4 B 74.03) aus, dass der Grenzverlauf der näheren Umgebung nicht davon abhängig sei, dass die unterschiedliche Bebauung durch eine künstliche oder natürliche Trennung (Straße, Schienenstrang, Gewässerverlauf, Geländekante, usw.) entkoppelt sei. Eine solche Linie habe bei einer beidseitig andersartigen Siedlungsstruktur nicht stets eine trennende Funktion, es führe aber ihr Fehlen auch nicht dazu, dass benachbarte Bebauungen stets als miteinander verzahnt anzusehen seien und insgesamt die nähere Umgebung ausmachten. Die Grenze der maßgeblichen näheren Umgebung könne auch so beschaffen sein, dass die Grenze zwischen näherer und fernerer Umgebung dort zu ziehen sei, wo zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedener Bau- und Nutzungsstruktur aneinanderstießen.
Weiterhin sind auch die Auswirkungen des beabsichtigten Vorhabens auf die Umgebung zu berücksichtigen (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand 2020, § 34 Rn. 36).
Eine abschließende Beurteilung der näheren Umgebung und damit auch des Gebietscharakters ist im Rahmen der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht möglich.
Zwar war zwischen den Beteiligten bisher unstreitig, dass von einem Industriegebiet auszugehen ist; dies wurde in den bereits vorausgegangenen Verfahren mit den Aktenzeichen AN 9 K 16.00991 und AN 9 K 17.00173 stets als zwischen den Parteien unstreitig zugrunde gelegt, so dass auch in dem in diesem Verfahren durchgeführten Augenscheinstermin der Gebietscharakter an sich und insbesondere die Gebietsabgrenzung kein Thema der Beweisaufnahme war. Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach sah in den vorausgegangenen Verfahren keinen Anlass an dieser Gebietseinordnung zu zweifeln. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof kam in seiner Entscheidung vom 9. September 2020 (Az: 9 BV 17.2417), die sich auf ein östlich des streitgegenständlichen Grundstückes gelegenes Grundstück bezog, zu der Einschätzung, dass vieles dafür spreche, dass sich die Eigenart der näheren Umgebung bezüglich des im damaligen Verfahren maßgeblichen Gevierts, das als durch die* …straße im Süden, die Bahntrasse im Westen, den … im Osten und die ehemalige* …straße im Norden begrenzt angesehen wurde, als faktisches Industriegebiet darstelle.
Seitens der Antragsgegnerin wird nunmehr insbesondere bezweifelt, dass sich das Vorhabensgrundstück und das Grundstück der Antragstellerin in demselben (faktischen) Baugebiet befinden. So ordnet die Antragsgegnerin zwar die Grundstücke der Antragstellerin einem faktischen Industriegebiet zu, geht aber davon aus, dass das streitgegenständliche Grundstück Teil eines nördlich dieses Industriegebietes gelegenen faktischen Gewerbegebietes sei und somit zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedener Bau- und Nutzungsstruktur aneinander grenzten. Die Grenze zwischen den beiden faktischen Gebieten zieht die Antragsgegnerin zwischen dem Vorhabensgrundstück und dem Betriebsgrundstück der Antragstellerin.
Die Antragstellerin geht hingegen von einem einheitlichen Baugebiet aus, das durch die topographischen Zäsuren …straße im Süden, Bahnlinie im Westen, … im Osten und ehemaligen Gleisanschluss im Norden begrenzt werde.
Damit kommt, abhängig von der konkreten Bestimmung des Gebietscharakters, bei Annahme einer Lage beider Grundstücke in einem faktischen Industriegebiet (§ 9 BauNVO), ein Gebietserhaltungsanspruch der Antragstellerin zumindest in Betracht, da ein Beherbergungsbetrieb in einem Industriegebiet wohl nicht ohne Weiteres zulässig wäre (vgl. zur Zulässigkeit im Gewerbegebiet, BVerwG, U.v. 29.4.1992 – 4 C 43/89 – juris). Bei Annahme zweier aneinanderstoßender faktischer Baugebiete scheidet ein Gebietserhaltungsanspruch jedoch von vornherein aus (BVerwG, B.v. 22.12.2011 – 4 B 32.11 – juris Rn. 11)
Im Rahmen der im Eilverfahren vorzunehmenden Prüfung kann der Gebietscharakter nicht abschließend beurteilt werden, sondern die nähere Umgebung einschließlich der dort anzutreffenden Nutzungen werden im Rahmen des Hauptsacheverfahrens durch eine Beweiserhebung durch Inaugenscheinnahme zu ermitteln sein. Im Rahmen dieser Beweiserhebung gilt es insbesondere festzustellen, ob das Vorhabensgrundstück einem eigenen faktischen Gebiet zugeordnet werden kann, das sich von dem Gebiet, in dem sich das Betriebsgrundstück der Antragstellerin befindet, unterscheidet. Allein unter Zugrundelegung von Lageplänen, Luftbildern und sonstigen Lichtbildaufnahmen ist diese Frage nicht zu beantworten, es gilt vielmehr, die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort zu begutachten.
Aus der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist gerade zu folgern, dass sich an das Vorhandensein oder Fehlen künstlicher oder natürlicher Linien kein Automatismus anschließt, sondern dass im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse vor Ort festzustellen ist, ob sich entsprechende Linien finden lassen, ob diese im Falle ihres Vorhandenseins eine trennende Funktion haben oder nicht bzw., ob im Falle ihres Fehlens von einer Verzahnung der benachbarten Bebauungen auszugehen ist oder nicht.
Fraglich ist ferner auch, ob überhaupt eine und wenn ja welche (Nach-)Wirkung den auf die Dauer von drei Jahren befristeten Genehmigungen für die Nutzung als Asylbewerberunterkunft vom 11. Mai 2016 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 7. Juni 2016 und 6. Dezember 2016 und der Ergänzungsbescheide vom 1. August 2017 sowie vom 11. Januar 2017 noch zukommt; hierbei ist neben der jeweiligen Befristung auch zu berücksichtigen, dass der Beigeladene mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 21. Februar 2020 auf die ihm mit Bescheiden vom 11. Mai 2016 und 6. Dezember 2016 erteilte Baugenehmigung verzichtet hat. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich eine befristet genehmigte Bebauung, bei der die zuständige Behörde stets zu erkennen gegeben hat, dass sie diese nicht auf Dauer genehmigen wird, nicht als vorhandene Bebauung zu berücksichtigen ist, die die Eigenart der näheren Umgebung prägt (BVervG, B.v. 23.11.1998 – 4 B 29.98 – juris Rn. 6). Die befristeten Genehmigungen wurden jeweils unter Anwendung der Befreiungsvorschrift des § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB erteilt, der schon aufgrund der gesetzlichen Regelung eine nicht über die Dauer von drei Jahren verlängerbare Ausnahmeregelung darstellt.
2.1.3
Auch bezüglich der vom Vorliegen eines Gebietserhaltungsanspruchs zu trennenden Frage, ob das streitgegenständliche Vorhaben gegen das Rücksichtnahmegebot verstößt, sind eine Bestimmung des Gebietscharakters und eine Abgrenzung der näheren Umgebung notwendig, um das Ausmaß der hinzunehmenden Immissionen ermitteln zu können.
So ist es grundsätzlich denkbar, dass das Gebot der Rücksichtnahme durch eine an einen bestehenden emittierenden Betrieb heranrückende immissionsempfindliche Nutzung verletzt wird, wenn das Hinzutreten dieser Nutzung die rechtlichen immissionsbezogenen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, beispielsweise durch zu befürchtende nachträgliche Auflagen verschlechtert (vgl. BayVGH, B.v. 9.6.2020 – 15 CS 20.901 – juris Rn. 27).
Anders als in den bislang mit Bescheid vom 11. Mai 2016 in Gestalt der Änderungsbescheide vom 7. Juni 2016 und 6. Dezember 2016 und des Ergänzungsbescheids vom 1. August 2017 sowie Bescheid vom 11. Januar 2017 erteilten Baugenehmigungen für die Asylbewerberunterkünfte finden sich in der nunmehr streitgegenständlichen Genehmigung keine Auflagen zur Einhaltung von Lärmwerten und zur Einhaltung der Erschütterungsimmissionsschutzrichtwerte durch passive Schutzmaßnahmen des Bauherrn.
Ob somit dem Gebot der Rücksichtnahme ausreichend Rechnung getragen wird und welche Einwirkungen im Einzelfall hinnehmbar sind, kann ebenfalls ohne Bestimmung des Gebietscharakters nicht festgelegt werden.
2.1.4
Die Bestimmung der näheren Umgebung und des Gebietscharakters erfordert im vorliegenden Fall jedenfalls eine Inaugenscheinnahme. Da eine solche im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im Hinblick auf eine schnelle Entscheidung nicht geboten ist, muss diese dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben (siehe hierzu BayVGH, B.v. 4.4.2011 – 14 CS 11.263 – juris Rn. 35).
2.2
Unter Zugrundelegung der vorstehenden Erwägungen überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin trotz der gesetzlichen Wertung des § 212a Abs. 1 BauGB das Interesse des Beigeladenen, von der Baugenehmigung auf der Grundlage des § 212a BauGB auch während der Anhängigkeit des Hauptsacheverfahrens weiterhin Gebrauch machen zu können.
Es gilt zu berücksichtigen, dass im Rahmen der nach §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderlichen Abwägung dem Vollzugsinteresse des Bauherrn zwar durch § 212a Abs. 1 BauGB ein erhebliches Gewicht zukommt, jedoch dies nicht bedeutet, dass sich in den von § 212a Abs. 1 BauGB erfassten Fällen das Vollzugsinteresse gegenüber dem Suspensivinteresse automatisch durchsetzt (siehe hierzu Kalb/Külpmann, in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand 2020, § 212a Rn. 47). Die Vorschrift hat den Zweck, Investitionen und das Entstehen von Arbeitsplätzen zu fördern (vgl. BT-Drs. 13/7589, S. 30). Ein gesetzgeberischer Wille, dass dem Vollzugsinteresse gegenüber den Interessen Dritter regelmäßig der Vorrang einzuräumen ist, lässt sich der Regelung des § 212a BauGB aber nicht entnehmen. Die nach §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Abwägung wird deshalb von § 212a Abs. 1 BauGB zwar dahingehend vorstrukturiert, dass dem Vollzugsinteresse ein erhebliches Gewicht beizumessen ist; die Abwägung wird aber gerade nicht präjudiziert (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 23.11.2016 – 15 CS 16.1688 – juris Rn. 77; B.v. 27.12.2017 – 15 CS 17.2061 – juris Rn. 34).
Das Interesse der Antragstellerin besteht darin, die Bauausführung zunächst zu verhindern. Andernfalls bestünde die ernsthafte Gefahr, dass bereits vollendete Tatsachen geschaffen worden sind, wenn die Baugenehmigung in einem Hauptsacheverfahren aufgehoben werden sollte. Die Chancen der Antragsteller, in diesem Fall späteren Obsiegens entweder mit Hilfe des Antragsgegners (Anspruch auf bauaufsichtsrechtliches Einschreiten nach Art. 76 Satz 1 BayBO) oder aber auch selbst auf der Grundlage eines zivilrechtlichen Anspruchs (etwa aus § 1004 BGB) den jetzigen Zustand wiederherstellen zu lassen, reichen vor dem Hintergrund der von der Rechtsprechung insoweit aufgestellten hohen Anforderungen an solche Ansprüche nicht aus, das Interesse der Antragsteller an der Verhinderung vollendeter Tatsachen zu befriedigen (vgl. BayVGH, B.v. 12.7.2010 – Az. 14 CS 10.327 – juris Rn. 38). Dass dem Beigeladenen durch eine verspätete Bauausführung gegebenenfalls finanzielle Nachteile entstehen, kann sich gegenüber dem Interesse der Antragstellerin an der Verhinderung vollendeter Tatsachen bei einem Vergleich der Wertigkeiten und der möglichen Folgen nicht durchsetzen. Umstände, die darüber hinaus ein besonderes Dringlichkeitsinteresse des Beigeladenen begründen können, sind nicht ersichtlich und wurden auch nicht vorgetragen. Eine besondere Eilbedürftigkeit könnte je nach den Umständen des Einzelfalls etwa dann angenommen werden, wenn der Bauherr glaubhaft macht, dass sein Vorhaben mit einer sofortigen Realisierung „steht und fällt“, oder der Vollzug der Baugenehmigung erst bei Eintritt ihrer Bestandskraft zu unüberwindbaren finanziellen oder wirtschaftlichen Hindernissen (etwa nicht mehr erreichbare Förderungen, hohe und endgültige Verluste durch bereits getätigte Investitionen etc.) oder zu gravierenden Beeinträchtigungen anderer Art führt (vgl. BayVGH, B.v.12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 41; VG Ansbach, B.v. 29.12.2017 – AN 9 S 17.02265 – juris Rn. 35). Derartige Anhaltspunkte bestehen hier aber gerade nicht.
3.
Nach alledem war dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid somit stattzugeben.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Da der Beigeladene einen eigenen Antrag gestellt hat, entspricht es der Billigkeit, ihn an den Kosten des Verfahrens zu beteiligen (§§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO). Der Antrag war im Wege der Auslegung gem. §§ 86, 88 VwGO, als Antrag auf Ablehnung des Eilantrags zu verstehen. Zwar wurde er als „Klageabweisungsantrag“ gestellt, allerdings geschah dies in einem Schriftsatz, der sich nur auf das Eilverfahren bezog.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Ziffern 9.7.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.


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