Baurecht

Errichtung einer Mobilfunkanlage, Nachbarschutz, Nachbarklage, Funktionslosigkeit des Bebauungsplans, Standsicherheitsnachweis

Aktenzeichen  W 4 K 20.1988

Datum:
6.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42624
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 30
BayBO Art. 10

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen. 
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. 

Gründe

Die Entscheidung konnte nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung ergehen, nachdem die Beteiligten im Rahmen des Augenscheins auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben.
Die Klage, mit der die Klägerin die Aufhebung des Genehmigungsbescheids des Landratsamts K. vom 13. November 2020 begehrt, ist zwar zulässig, aber unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. nur BayVGH, B.v 24.3.2019 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20, m.w.N.). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind.
Weiterhin ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren auch zu prüfen waren (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Verstößt ein Vorhaben gegen eine drittschützende Vorschrift, die im Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen war, trifft die Baugenehmigung insoweit keine Regelung und ist der Nachbar darauf zu verweisen, Rechtsschutz gegen das Vorhaben über einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die Ausführung dieses Vorhabens zu suchen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 – 4 B 244/96, NVwZ 1998, 58 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 14.10.2008 – 2 CS 08.2132 – juris Rn. 3; VG Würzburg, U.v. 8.11.2016 – W 4 K 16.418 – juris Rn. 17).
Schließlich gilt es zu berücksichtigten, dass nach ständiger Rechtsprechung bei Nachbarklagen im Baurecht maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung grundsätzlich derjenige der Genehmigungserteilung ist (vgl. hierzu etwa hierzu etwa BVerwG, B.v. 23.4.1998 – 4 B 40.98 – NVwZ 1998, 1179 = juris Rn. 3; BVerwG, U.v. 20.8.2008 – 4 C 11.07 – BVerwGE 131, 352 = juris Rn. 21; BayVGH, B.v. 6.11.2008 – 14 ZB 08.2326 – juris Rn. 4; Posser/Wolff, BeckOK VwGO, zu § 113 Rn. 22 und 22.6).
b. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist eine Rechtsverletzung der Klägerin hier nicht erkennbar, sie wird auch nicht vom Klägervertreter in seinen ausführlichen Schriftsätzen substantiiert dargelegt.
Da das beantragte Bauvorhaben einen Sonderbau i.S.v. Art. 2 Abs. 4 Nr. 2 BayBO darstellt, hat der Beklagte dieses zu Recht gemäß Art. 60 BayBO genehmigt. Nach dieser Vorschrift prüft die Bauaufsichtsbehörde u.a. die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB (Art. 60 Satz 1 Nr. 1 BayBO). Vorliegend ist die Klägerin offensichtlich der Auffassung, berücksichtigt man insbesondere ihren Vortrag im Schriftsatz vom 28. September 2021, dass der qualifizierte Bebauungsplan „V … W …“, welcher für das streitgegenständliche Baugrundstück ein Gewerbegebiet („G “) festsetzt, funktionslos geworden sei. Jedenfalls sei die der Beigeladenen erteilte Befreiung von den Baugrenzen und der Wandhöhe rechtswidrig. Mit beiden Einwendungen vermag die Klägerin allerdings nicht durchzudringen.
c. Nicht folgen kann das Gericht zunächst der Einwendung des Klägervertreters, das festgesetzte Gewerbegebiet des Bebauungsplans „V … W …“, in welchem das Baugrundstück liegt, sei funktionslos geworden.
Die Rechtsprechung zur Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen geht auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zurück. Dieses hat mit Urteil vom 29. April 1977 (IV C 39/75 – BVerwGE 54, 5 ff. = NJW 1977, 2325 f.) festgestellt, dass eine bauplanerische Festsetzung wegen Funktionslosigkeit außer Kraft tritt, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt. An diese Voraussetzungen sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts strenge Anforderungen zu stellen (vgl. hierzu etwa BVerwG, U.v. 3.8.1990 – 7 C 41.89 – BVerwGE 85, 273, 281; U.v. 6.4.2016 – 4 CN 3.15 – NVwZ 2016, 1481).
Voraussetzung der Funktionslosigkeit einer planerischen Festsetzung ist danach zum einen, dass die Verhältnisse, auf die sich die Festsetzung bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt. Hierbei gilt es zu beachten, dass bei der insoweit stattzufindenden Prüfung nicht gleichsam isolierend auf einzelne Grundstücke abgestellt, also die Betrachtung darauf beschränkt werden darf, ob die Festsetzung hier und dort noch einen Sinn ergibt. Zu würdigen ist vielmehr grundsätzlich die Festsetzung in ihrer ganzen Reichweite und zu würdigen ist ferner nicht nur die einzelne Festsetzung, sondern auch die Bedeutung, die sie für den Plan in seiner Gesamtheit hat.
Hinzutreten muss außerdem als zweite Voraussetzung eine bestimmte Offenkundigkeit des Mangels. Die zur Funktionslosigkeit führende Abweichung zwischen der planerischen Festsetzung und der tatsächlichen Situation muss demnach in ihrer Erkennbarkeit einen Grad erreicht haben, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (vgl. BVerwG, U.v. 29.4.1977 – 4 C 39/75 – BVerwGE 54, 5 ff. = NJW 1977, 2326).
Das Bundesverwaltungsgericht hat darüber hinaus entschieden, dass von einer Funktionslosigkeit erst dann ausgegangen werden kann, wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan seine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag. Das setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell noch durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in eine bestimmte Richtung zu steuern (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.2004 – 4 C 10.03 – juris Rn. 15; BVerwG, B.v. 9.10.2003 – 4 B 85/03 – juris Rn. 8; in diesem Sinne auch BayVGH, B.v. 13.8.2018 – 2 ZB 16.492 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 15.3.2011 – 15 CF 11.9 – juris Rn. 12; OVG Münster, U.v. 25.11.2005 – 7 A 2687/04 – juris Rn. 29).
In Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung wird aufgrund der Ordnungsfunktion eines Bebauungsplanes eine Funktionslosigkeit desselben nur dann angenommen, wenn die entgegenstehenden tatsächlichen Verhältnisse genehmigt oder in einer Weise geduldet werden, die keinen Zweifel daran lässt, dass sich die zuständigen Behörden mit ihrem Vorhandensein abgefunden haben (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 22.11.2011 – 8 A 10443/11 – juris Rn. 84; OVG Münster, U.v. 20.2.2015 – 7 D 29/13.NE – juris Rn. 113). Denn nur unter diesen Voraussetzungen könne angenommen werden, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse so verfestigt haben, dass sie dem Geltungsanspruch der Festsetzung des Bebauungsplans auf unabsehbare Zeit entgegenstehen. Der Geltungsanspruch einer Norm gehe nicht bereits dadurch verloren, dass sich ein großer Teil der Normunterworfenen nicht mehr an die Regelungen hält. Vielmehr müsse zusätzlich das Verhalten der für die Überwachung der Vorschrift zuständigen Behörde die Annahme rechtfertigen, dass die tatsächlichen Abweichungen dauerhaft Bestand haben werden und kein schutzwürdiges Vertrauen in die Fortgeltung der Festsetzung mehr rechtfertigen (vgl. OVG Rheinland-Pfalz; OVG Münster a.a.O.).
Während Teile der obergerichtlichen Rechtsprechung somit eine Funktionslosigkeit nur annehmen wollen, wenn die tatsächlichen, planwidrigen Verhältnisse genehmigt oder aktiv geduldet werden (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 22.11.2011 – 8 A 10443/11 – juris Rn. 84; OVG Münster, U.v. 20.2.2015 – 7 D 29/13.NE – juris Rn. 113 und 118), lässt sich dies der entsprechenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht als unabdingbare Voraussetzung für die Annahme einer Funktionslosigkeit entnehmen. Einer solche Annahme stünde auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entgegen, das in seiner Ausgangsentscheidung zur Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen zwei Gründe unterscheidet, die zum Geltungsverlust von Bebauungsplänen führen können: Zum einen durch derogierendes Gewohnheitsrecht, zum anderen wegen der Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans. Aus dieser Unterscheidung wird deutlich, dass eine Funktionslosigkeit eines Bebauungsplans bzw. einzelner Festsetzungen allein aufgrund veränderter tatsächlicher Umstände eintreten kann, ohne dass es hierfür einer entsprechenden Genehmigungspraxis oder sonstiger Rechtsakte, wie z.B. eine aktive bzw. qualifizierte Duldung, bedarf. Demnach kann ein Bebauungsplan funktionslos werden, wenn sich die Sach- oder die Rechtslage nachträglich so verändert hat, dass ein Planvollzug auf unüberschaubare Zeit ausgeschlossen erscheint (vgl. BVerwG, U.v. 30.06.2004 – 4 C 3.03 – ZfBR 2004, 796; VGH Mannheim Urt. v. 13.6.2007 – 3 S 881/06, BeckRS 2007, 25423; in diesem Sinne auch BayVGH, B.v. 15.03.2011 – 15 CS 11.9 – juris Rn. 12 ff.). Für diese Sichtweise spricht zudem der Umstand, dass auch sonst eine Funktionslosigkeit von Festsetzungen eines Bebauungsplans allein aufgrund veränderter tatsächlicher Umstände, wie beispielsweise dem Wegfall eines Regelungsgegenstandes oder eines denkbaren Adressaten, in Betracht kommt (vgl. entsprechende Beispiele mit Nachweisen zur Rechtsprechung bei Külpmann in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Februar 2019, § 30 Rn. 420).
Aus den genannten Gründen schließt sich das Gericht der Rechtsauffassung an, die für die Annahme einer Funktionslosigkeit von Festsetzungen eines Bebauungsplans bzw. eines Bebauungsplans insgesamt entscheidungserheblich darauf abstellt, ob dieser bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in eine bestimmte Richtung zu steuern.
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze kann vorliegend, wie auch der Augenschein der Kammer offenbart hat, nicht von einer Funktionslosigkeit des Bebauungsplans „V … W …“, soweit dieser bezüglich des Baugrundstücks ein Gewerbegebiet festsetzt, ausgegangen werden. So befindet sich direkt gegenüber dem Baugrundstück, D .-C …-F …-S …, eine große Halle, die sich die gesamte W. straße entlangzieht, bis diese in östlicher Richtung einen Knick macht Richtung D … S … Des Weiteren befindet sich schräg gegenüber dem Baugrundstück in nordwestlicher Richtung ein großes Hallengebäude, in dem sich die M … V … befindet. In südlicher Richtung des Baugrundstücks befinden sich in der D .-C …-F …-S … ebenfalls große Hallen, die offensichtlich zur Firma W … H … G … gehören. Des Weiteren befindet sich westlich des Baugrundstücks (S … S … ) das A … P … L … mit A … und A …-T … Da nach alldem das vorliegende Gebiet ganz überwiegend von Gewerbebetrieben aller Art, Lagerhäusern und einer Tankstelle gemäß § 8 BauNVO genutzt wird, kann von der vom Klägervertreter behaupteten Funktionslosigkeit des Baugebiets keine Rede sein.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des weiteren Vortrags des Klägervertreters, die Stadt V … strebe statt des im Bebauungsplan festgesetzten G -Gebiets ein Mischgebiet an. Insoweit verkennt der Klägervertreter den oben bereits angesprochenen maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Begründetheit einer Anfechtungsklage. Des Weiteren geht er offensichtlich selbst davon aus, dass derzeit in dem betroffenen Gebiet, in dem auch das Baugrundstück liegt, von einer gewerbegebietstypischen Nutzung auszugehen sei. Er führt nämlich aus, „an gewerbegebietstypischer Nutzung werde nichts mehr kommen, sondern nur noch gehen“.
d. Ist demnach der Bebauungsplan „V … W …“ betreffend das Baugrundstück nicht funktionslos, sondern weiterhin gültig, ist auch der von der Beigeladenen geplante Mobilfunkmast ohne Weiteres als allgemeiner Gewerbebetrieb gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO zulässig. Städtebauliche Gründe, die der Zulässigkeit des Vorhabens im Wege einer Ausnahme widersprechen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere konnte die Kammer im Rahmen des Augenscheins keine Umstände erkennen, die die verfahrensgegenständliche Mobilfunkanlage in dem Gewerbegebiet als gebietsunverträglich darstellen ließen. Dabei gilt es auch zu berücksichtigen, dass sich auf dem Baugrundstück bereits ein 31,40 m hoher Antennenträger befindet, der durch den vorliegend genehmigten Schleuderbetonmast ersetzt werden soll.
e. Kein anderes Ergebnis ergibt sich aufgrund des weiteren Vortrags des Klägervertreters, die Befreiungen von den Ziffern 2.5 und 2.6 des Bebauungsplans „V … W …“ seien rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihren Rechten.
Tatsächlich hat der Beklagte von den Festsetzungen des Bebauungsplans „V … W …“ eine Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB von der Baugrenze und der Wandhöhe erteilt (vgl. Nebenbestimmung T0163).
Bei einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans hängt der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB davon ab, ob die Festsetzungen, von denen dem Bauherrn eine Befreiung erteilt wurde, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauGB). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BayVGH, B.v. 9.4.2021 – 9 CS 21.553 – juris Rn. 20 m.w.N.).
Festsetzungen über die überbaubaren Grundstücksflächen (§ 23 BauNVO) haben – anders als die Festsetzung von Baugebieten – nicht schon kraft Bundesrechts nachbarschützende Wirkung. Ob sie (auch) darauf gerichtet sind, dem Schutz des Nachbarn zu dienen, hängt deshalb vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab. Entscheidend für die Frage des Nachbarschutzes ist mithin, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurde oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll. Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln, wobei sich ein entsprechender Wille unmittelbar aus dem Bebauungsplan selbst (etwa kraft ausdrücklicher Regelung von Drittschutz), aus seiner Begründung, aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung oder aus einer wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs ergeben kann (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 – 15 CS 20.1332 – juris Rn. 23; B.v. 28.5.2014 – 9 CS 14.84 – juris Rn. 17).
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Ausführungen ist vorliegend festzuhalten, dass weder die zeichnerischen, noch die textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans eine ausdrückliche Feststellung oder Anhaltspunkte dazu enthalten, dass mit der zeichnerischen Baugrenzenfestsetzung über die Aufstellung von Planungsgrundsätzen im Interesse einer geordneten städtebaulichen Entwicklung hinaus, gerade den jeweiligen Grundstücksnachbarn i.S. eines wechselseitigen Austauschverhältnisses schützenswerte Rechtspositionen eingeräumt werden sollten.
Nichts anderes gilt – unabhängig von der Frage, ob vorliegend überhaupt eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans in den Ziffern 2.5 und 2.6 erforderlich war – für die von dem Beklagten erteilte Befreiung von der Wandhöhe. Die unter Ziffer 2.5 und 2.6 des Bebauungsplans „V … W …“ getroffenen Feststellungen, wonach „innerhalb des Gewerbegebiets Gebäude mit Wandhöhen gemäß Art. 6 Abs. 23 BayBO bis max. 6 m und Firsthöhen bis max. 9 m“, „ausnahmsweise auch Schornsteine, Silos, Tanks sowie Anlagen zur Luftreinhaltung, deren Errichtung innerhalb der festgesetzten Höhe technisch nicht möglich ist, bis zu einer Höhe von 20 m zulässig“ seien, betreffen allein das Maß der baulichen Nutzung und dienen somit allgemein ortsplanerischen Zielen. Sie sind mit anderen Worten nicht drittschützend.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vortrag des Klägervertreters. In seinem Schriftsatz vom 28. September 2021 verweist er zur Begründung des von ihm behaupteten angeblichen Drittschutzes auf die Kommentarstelle von Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 31 Rn. 69. Allerdings wird dort mit keinem Wort die vorliegende Regelung erwähnt, so dass dieser Hinweis des Klägervertreters für die Kammer nicht nachvollziehbar ist.
Wenn somit – wie vorliegend – von nicht nachbarschützenden Festsetzungen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB befreit wird, hat der Nachbar, wie oben dargestellt, über die das Rücksichtnahmegebot konkretisierende Würdigung nachbarlicher Interessen hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung oder Einhaltung der sonstigen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB.
f. Eine Verletzung des subjektiv-rechtlichen Rücksichtnahmegebots liegt, wie insbesondere der Augenscheinstermin ergeben hat, offensichtlich nicht vor.
Das Gebot der Rücksichtnahme kommt im vorliegenden Zusammenhang insbesondere in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO und – hinsichtlich der erteilten Befreiung(en) von den nicht nachbarschützenden Festsetzungen – im Erfordernis der Würdigung nachbarlicher Interessen im Rahmen der Befreiungsentscheidung nach § 31 Abs. 2 BauGB zum Ausdruck.
Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen können, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er eine Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Bei der Interessengewichtung spielt es eine maßgebliche Rolle, ob es um ein Vorhaben geht, das grundsätzlich zulässig und nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen nicht zuzulassen ist, oder ob es sich – umgekehrt – um ein solches handelt, das an sich unzulässig ist und nur ausnahmsweise zugelassen werden kann. Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat (vgl. BVerwG, B.v. 6.12.1996 – 4 B 215/96 – juris Rn. 9 m.w.N.). Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmeberechtigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist, an (vgl. BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22.75, BVerwGE 52, 122 – juris Rn. 22; U.v. 28.10.1993 – 4 C 5.93, NVwZ 1994, 686 – juris Rn. 17; U.v. 18.11.2004 – 4 C 1/04, NVwZ 2005, 328 – juris Rn. 22; U.v. 29.11.2012 – 4 C 8/11, BVerwGE 145, 145 – juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 4).
Das Rücksichtnahmegebot ist dann verletzt, wenn unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit des Betroffenen, der Intensität der Beeinträchtigung und der wechselseitigen Interessen das Maß dessen, was billigerweise noch zumutbar ist, überschritten wird (BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22.75, BVerwGE 52, 122 – juris Rn. 22). Das Gebot der Rücksichtnahme gibt den Nachbarn aber nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17).
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben vermag das Gericht eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots vorliegend nicht zu erkennen. Ein solcher Verstoß wurde von der Klägerin im Übrigen auch im Rahmen des Klagevortrags nicht substantiiert geltend gemacht.
Zur Recht weist der Beigeladenenvertreter in seinem Schriftsatz vom 12. Juli 2021 darauf hin, dass zwar nicht von der Hand zu weisen sei, dass der geplante Funkturm das Haus der Klägerin aufgrund seiner Höhe überrage. Gleichwohl kommt ihm, das zeigt auch der bereits vorhandene Funkmast, durch seine schlanke Gestalt keinerlei erdrückende Wirkung zu. Gerade bei einem Durchmesser von 1,10 m bis 1,28 m kann nicht angenommen werden, dass das Vorhaben von einer solchen Masse und massiven Gestalt ist, dass der Klägerin förmlich die Luft genommen wird oder ihre eigene bauliche Charakteristik zerstört. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass das Grundstück der Klägerin seit über 32 Jahren dem alten Schleuderbetonmast, welcher eine Höhe von 31,40 m hat, ausgesetzt ist. Deshalb kann auch von einem atypischen Erscheinungsbild, wie der Klägervertreter meint, im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden.
g. Schließlich führt auch der weitere Vortrag des Klägervertreters, die streitgegenständliche Baugenehmigung sei deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte die Standsicherheit des Vorhabens der Beigeladenen vor Erteilung der Genehmigung nicht überprüft habe, nicht zu einem anderen Ergebnis.
Nach Art. 62 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist die Einhaltung der Anforderungen an die Standsicherheit nach Maßgabe der Verordnung aufgrund des Art. 80 Abs. 4 BayBO nachzuweisen (bautechnische Nachweise). Aus § 3 Ziffer 4 ergibt sich zudem, dass bei Sonderbauten, wie vorliegend, der Nachweis der Standsicherheit vorzulegen ist, soweit er bauaufsichtlich geprüft wird. Vorliegend ergibt sich eine solche Prüfpflicht aus Art. 62a Abs. 2 Satz 2 BayBO, wonach der Standsicherheitsnachweis bei Sonderbauten durch die Bauaufsichtsbehörde, einem Prüfingenieur oder einem Prüfamt geprüft wird. Nach Art. 64 Abs. 2 BayBO sind mit dem Bauantrag alle für die Beurteilung des Bauvorhabens und die Bearbeitung des Bauantrags erforderlichen Unterlagen (Bauvorlagen) einzureichen. Es kann allerdings gestattet werden, dass einzelne Bauvorlagen nachgereicht werden (Art. 64 Abs. 2 Satz 2 BayBO). Vorliegend hat der Beklagte von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und die streitgegenständliche Baugenehmigung unter der aufschiebenden Bedingung erteilt, dass von der Baugenehmigung erst dann Gebrauch gemacht werden kann, wenn die statischen Unterlagen geprüft und an den Bauherrn wieder zugestellt sind. Von einer Rechtswidrigkeit wegen fehlendem Standsicherheitsnachweis bei Erteilung der Genehmigung kann daher keine Rede sein.
h. Auch aus Art. 10 Satz 3 BayBO, nach dem die Standsicherheit anderer baulicher Anlagen und die Tragfähigkeit des Baugrundes des Nachbargrundstücks nicht gefährdet werden darf, lässt sich im Rahmen der vorliegenden Nachbaranfechtungsklage eine Verletzung von Nachbarrechten nicht ableiten. Diese Vorschrift enthält zwar eine dem Nachbarschutz dienende, bei der Bauausführung zu beachtende Voraussetzung, sie begründet aber weder eine objektive, noch eine im Interesse der Nachbarn liegende Verpflichtung, die Einhaltung dieser Forderung bereits im Genehmigungsverfahren sicherzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 27.10.1999 – 2 CS 99.2387 – juris Rn. 18). Dem berechtigten Interesse des Nachbarn, dass die Ausführung des Vorhabens die Standsicherheit seiner eigenen baulichen Anlage oder die Tragfähigkeit des Baugrunds seines Grundstücks nicht gefährdet, wird jedenfalls dadurch Rechnung getragen, dass vor Baubeginn die erforderlichen Nachweise über die Standsicherheit und die entsprechenden Bescheinigungen vorliegen müssen. Dieses rechtliche Instrumentarium reicht nach Auffassung der Kammer aus, um zu verhindern, dass der Bauherr von der ihm erteilten Baugenehmigung tatsächlich Gebrauch macht, bevor geklärt ist, dass die Standsicherheit des auf dem Grundstück der Klägerin vorhandenen Gebäudes nicht gefährdet ist (vgl. BVerwG v. 3.1.1997 Az. 4 B 254/96 – juris).
i. Soweit der Klägervertreter rein vorsorglich eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs vorträgt, vermag er auch damit nicht durchzudringen. Er verkennt im Rahmen seiner Argumentation den Inhalt eines solchen Gebietserhaltungsanspruchs. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedem Grundstückseigentümer ausdrücklich das Recht zuerkannt, sich innerhalb des von ihm bewohnten Baugebiets gegen jede artfremde Bebauung zu wehren, unabhängig davon, ob sie ihn tatsächlich beeinträchtigt. Seine Grundlage hat dieser Gebietserhaltungsanspruch im „nachbarlichen Austauschverhältnis“ und im Gedanken der „Schicksalsgemeinschaft“. Der Nachbar eines Baugebiets kann sich also gegen jedes Vorhaben in seinem Baugebiet zur Wehr setzen, das weder Regel- noch Ausnahmebebauung nach der BauNVO ist. Allerdings ist dieser Gebietserhaltungsanspruch begrenzt auf das jeweilige Baugebiet, gebietsübergreifenden Rechtsschutz auch in Bezug auf benachbarte Baugebiete vermittelt er hingegen keineswegs.
Vorliegend führt der Klägervertreter selbst aus, dass das Grundstück des Klägers in einem Mischgebiet liege, das Vorhabensgrundstück hingegen in einem Gewerbegebiet. Demnach scheidet schon aus diesem Grund ein Gebietserhaltungsanspruch von vornherein offensichtlich aus.
Auch ein gebietsübergreifender Gebietserhaltungsanspruch der Klägerin besteht vorliegend nicht. Dieser kommt allenfalls dann in Betracht, wenn eine Gemeinde nachbarschützende Festsetzungen ihres Bebauungsplans auch Grundstückseigentümern außerhalb des Plangebiets zugutekommen lassen will und sich dies aus dem Inhalt der Festsetzungen und ihrer Begründung ableiten lässt (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.73 – IV C 71/71 – DVBl 1974, 358/361; BayVGH, U.v. 14.7.2006 – 1 BV 03.2179 – UPR 2007, 152; OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 14.1.2000 – 1 A 11751/99 – BauR 2000, 527).
Vorliegend ergeben sich weder aus dem Inhalt der Festsetzungen des Bebauungsplans, noch aus seiner Begründung irgendwelche Anhaltspunkte, die die Annahme eines solchen gebietsübergreifenden Gebietserhaltungsanspruchs rechtfertigen könnten. Der Klägervertreter trägt in diesem Zusammenhang nichts Substantiiertes vor, so dass auch insoweit eine Rechtsverletzung der Klägerin ausscheidet.
j. Die Klage war demgemäß abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Es entsprach der Billigkeit, die Kosten der Beigeladenen, die unter Eingehung eines Kostenrisikos (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO) einen eigenen Antrag zur Sache gestellt hat, gemäß § 162 Abs. 3 VwGO für erstattungsfähig zu erklären.
Die Entscheidung bezüglich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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